Einleitung.

1. Die Eigenthümlichkeit Daniels

Unter den Propheten des alten Bundes steht Daniel als eine eigenthümliche, von den übrigen nach Form und Inhalt abweichende Erscheinung da.

Sonst ist die Grundform der Prophetie die begeisterte Rede; bei Daniel stellt sich die Weissagung in lauter Träumen und Visionen dar.  Er schaut sinnbildliche Gestalten und Vorgänge, er hört himmlische Geister reden; und was er also wahrnimmt, das muß er erst nachträglich in menschliche Rede fassen.  So berichtet er selber (7, 1), er habe einen Traum gehabt und dann denselben aufgeschrieben und die Hauptsache davon in Worte gebracht (אַמַר).  Zwar steht Daniel mit dieser Form der Offenbarung im A.T. nicht ganz allein, sie findet sich auch schon da und dort bei früheren Propheten. Wir erinnern an jenes herrliche Gesicht Jesajas (Kap. 6), wo er Jehova, von Seraphim umgeben, im Tempel thronend schaut, an die Visionen des Amos (Kap. 7─9.), an die zwei Feigenkörbe Jeremias (Kap. 24) und besonders an Ezechiels zahlreiche Gesichte von den Cherubim, den Gräueln im Tempel, den Würgengeln, dem Todtenfeld, dem neuen Tempel u. s. w. (Kap. 1, 8─11; 37; 40ff.). Gleichwohl ist bei den frühern Propheten die Vision neben dem „Wort des Herrn, das zu ihnen geschah”, eine seltene Ausnahme, während sie bei Daniel ausnahmslose Regel ist.  Nur bei dem spätern Sacharja (Kap. 1─6.) findet sich nach dem Vorgang Daniels dieselbe Offenbarungsform, doch auch hier neben der andern, welche von Kap. 7. an herrscht.  Völlig gleich steht in dieser Beziehung unserm Propheten nur die Offenbarung Johannis, und man kann daher das Buch Daniels die alttestamentliche Apokalypse nennen.

Auberlen, Prophet Daniel, 3. A.

─ 2 ─

Eine ähnliche Verschiedenheit findet zwischen Daniel und den andern Propheten hinsichtlich des Inhaltes statt.  Alle Weissagung bewegt sich um den Gegensatz des Gottes und Weltreiches, Israels und der Heiden.  Sonst nun stehen die Propheten inmitten Israels und schauen von innerisraelitischem Standpunkt aus die Zukunft des Reiches Gottes. Die Gottesgemeinde erscheint hiebei überall im Vordergrund; die Weltmächte treten meist nur so weit in den Gesichtskreis, als sie in die unmittelbare Gegenwart oder nächste Zukunft des Volkes Gottes hineingreifen, und das eben drohende Weltreich, Assur z.B. oder Babel, wird dann Repräsentant der Weltmacht überhaupt.

Oder wo in Abschnitten, wie Jes. 13ff., Jer. 46ff., Ezech. 25ff., die Weissagung sich vorherrschend mit den Mächten dieser Welt befaßt, treten dieselben doch nur in ihrer Vereinzelung hervor, und es sind Aussprüche oder Lasten über Aegypten, Syrien, Tyrus, Edom, Babel u. s. w. lose an einander gereiht.  Umgekehrt ist es bei Daniel. Wie er selbst nicht im heiligen Lande und unter dem heiligen Volke lebt und wirkt als Prophet, sondern am babylonischen und persischen Hofe als hoher Staatsbeamter: so fällt gleich beim ersten Blick die Entwicklung der Weltmacht als der Hauptgegenstand seiner Weissagung in’s Auge, und das Gottesreich erscheint hiebei nur im freilich bedeutungsvollen Hintergrunde. Blicken die übrigen Propheten von Zion aus bald nach Süden, bald nach Norden bald nach Osten, je nachdem sich das eine oder andere Weltreich vor ihr Seherauge stellt, so überschaut dagegen Daniel vom Mittelpunkt der Weltmacht aus ihre ganze Entfaltung, und erst nachdem sein Blick durch alle diese wechselnden Gestalten hindurchgedrungen, bleibt er am Ende auf Zion ruhen, seine Trübsal und Heimsuchung, aber auch seinen Triumph und seine Verherrlichung erkennend. Nicht mehr nur einzelne, neben einander stehende Weltreiche von größerer oder geringerer Bedeutung sind es, über welche Daniel weissagt, sondern es hat die Periode der Universalmonarchien begonnen, welche Alles bezwingend sich nach einander erheben, und in deren successiver Erscheinung das dem Gottesreiche gegenüberstehende weltliche Prinzip immer gewaltiger und feindseliger sich enthüllt.  Damit in genauem Zusammenhang steht dann die weitere Eigenthümlichkeit Daniels, daß seine Weissagungen eine viel größere Fülle geschichtlichen und politischen Details enthalten als die aller andern Propheten. Während sonst die Prophetie,

─ 3 ─

das Nahe und das Ferne perspektivisch zusammenschauend, die ganze Zukunft unter den eschatologischen Gesichtspunkt zu stellen und als das Kommen des Reiches Gottes zu fassen pflegt, sieht dagegen Daniel wesentlich auch noch die künftige Weltgeschichte vor sich ausgebreitet, die bis zum Kommen des Reiches verfließen muß.  Daher schreibt sich die ihm einzig eigenthümliche Spezialität der Weissagung. Wenn diese letztere irgendwo eine Geschichte der Zukunft wäre, so wäre sie’s bei ihm.

Diese klar hervortretende Eigenthümlichkeit Daniels 1) ist auch von jeher anerkannt worden; schon von den Sammlern des alttestamentlichen Kanons selbst, welche ihrer Erkenntniß dadurch einen Ausdruck gegeben haben, daß sie das Buch nicht unter die Propheten, sondern unter die Hagiographen einreihten. Dasselbe stellt also unserer Forschung allerdings eine besondere Aufgabe des geschichtlichen Verständnisses. Man hat das Problem in neuerer Zeit auf eine sehr einfache Weise zu lösen gemeint, indem man das Buch für unächt erklärte.  Es ist nach der herrschenden Ansicht unter Antiochus Epiphanes in den Jahren 170-164 v. Chr. geschrieben, reicht mit seiner Weissagung nur bis auf diesen König herab und prophezeit also vergangene Dinge.  Wir nennen diese Ansicht die herschende,  denn sie wird nicht bloß von der extremen, sondern auch von einer besonnenern Critik als eines ihrer sichersten Ergebnisse bezeichnet und übt daher einen so allgemeinen Einfluß aus, daß auch viele ernste Bibelfreunde unseres Propheten nicht recht froh werden können.  Eine so weit verbreitete Ansicht erheischt sorgfältige Prüfung, um so mehr, je ernstere Bedeutung das prophetische Wort in unsern Tagen gewinnt.  Ehe wir aber zu diesem Behufe an die Betrachtung des Buches selbst gehen, fragen wir billig die H. Schrift und die Kirche über ihre Ansicht von demselben. um zu sehen, wie weit die gangbare Auffassung göttliches und menschliches historisches Recht auf ihrer Seite hat. Es ist das um so nothwendiger, da der neueste Erklärer Daniels den Schein erregt, als sei die Anerkennung seiner Aechtheit nur willkürliche Annahme einiger Modernen, wenn er bemerkt: „Den Schein, in welchem sich das Buch gefällt, von Daniel selbst, der mit Nebu=

1) Vgl. über dieselbe Lücke, Versuch einer vollständigen Einleitung in die Offenbarung Johannis, 2. Aufl., S. 4ff.

─ 4 ─

kadnezar und Cyrus lebte, herzurühren, hat zur Wirklichkeit zu stempeln in neuerer Zeit Hengstenberg versucht, und Hävernick mit Andern hat ihm beigepflichtet.“
(H i t z i g,  das Buch Daniel erklärt, 1850. S. IX.)

2. Das Zeugniß der H. Schrift.

Vor Allem kommt hier das Selbstzeugniß des Buches in Betracht.  Daniel nennt sich wiederholt als den Verfasser (7, 1f.; 8, 1ff.; 9, 2ff.; 10, 1f.; 12, 4).  Es kann auffallen, daß er dieß noch nicht in den sechs ersten erzählenden Kapiteln thut, sondern erst in den sechs letzten bei seinen eigenen Gesichten.  Dieser Umstand hat aber nicht nur an sich nichts zu bedeuten, da die Einheit des Buches jetzt wieder allgemein, auch von den Gegnern der Aechtheit anerkannt ist, sondern er erklärt sich auch sehr schön aus dem allgemeinen Charakter des biblischen Schriftthums.  In den Geschichtsbüchern der H. Schrift sind nämlich die Verfasser in der Regel nicht ausdrücklich genannt, wohl aber meist in den poetischen und prophetischen Schriften des A., in den Briefen und der Apokalypse des N.T.  Dieß hat seinen guten Grund. Bei der letzteren Classe der biblischen Urkunden sind die Verfasser nicht bloß die Berichterstatter, sondern selbst die Träger der Offenbarung, welche eben in dem besteht, was nun aufgezeichnet wird: es ist Wortoffenbarung an diese bestimmten Menschen. Daher müssen sie sich nennen. Anders ist es bei den historischen Büchern, welche nur Berichte sind von den großen Thatoffenbarungen Gottes. Der Schwerpunkt liegt hier auf den berichteten Sachen, nicht auf den geschriebenen Worten. Der Schreiber verschwindet daher hinter seinem Gegenstande, die Verfasser nennen sich in der Regel nicht. So hat denn auch Daniel als Erzähler sich nicht ausdrücklich genannt, aber als Propheten muß er sich nennen. Was nun dieser Selbstaussage für ein Gewicht zukommt, das wollen wir an dieser Stelle aus dem unparteiischen Munde Hagenbach’s vernehmen, welcher sagt: „In dem Falle, wenn die Verfasser sich selbst als die, unter deren Namen sie schreiben, dargeben, hängt von der Frage über Authentie oder Nichtauthentie auch die über Kanonicität ab.” 1)

1) Encyklop. und Methodol. der theol. Wiss., 3. Aufl., S. 155. Vgl. auch Hengstenberg, Beiträge I, S. 225ff.
Anmerkung des Bearb.: In der 4. Auflage*) formuliert K. R. Hagenbach folgendermaßen: „Eines freilich ist dabei bedenklich, wenn die Verfasser selbst sich als die Apostel, unter deren Namen sie schreiben, dargeben. […] Nichtsdestoweniger geben wir zu, daß hier die größte Vorsicht anzuwenden ist, und daß in diesem Fall von der Frage über Authentie oder Nichtauthetie auch die über Kanonicität abhängt.”
*) Encyklop. und Methodol. der theol. Wiss., 4. Aufl., S. 157.

─ 5 ─

Doch nicht bloß von sich selbst ist das Buch Daniels so nachdrücklich bezeugt, sondern es hat auch Zeugniß von der übrigen Schrift. Wir werden unten sehen, wie Sacharja, Esra und Nehemia auf Daniel zurückweisen. Und dies ist um so bedeutungsvoller, da sie anerkanntermaßen Jahrhunderte vor Antiochus Epiphanes geschrieben haben, mithin auch ein höheres Alter unseres Propheten voraussehen und erweisen.

Was das N. T. betrifft, so ist der maßgebende, durchgreifende Einfluß, welchen unser Buch auf die Apokalypse ausgeübt hat, offenkundig und allgemein anerkannt. In den Briefen finden sich deutliche Anspielungen auf dasselbe (2. Thess. 2, 4 und Hebr. 11, 33.34):
durch jene Stelle erhält die Weissagung, durch diese die Geschichtserzählung Daniels apostolische Bekräftigung. Besonders wichtig aber sind die Evangelien. Nicht nur hat Jesus das Grundwort , mit welchem er sich selbst zu bezeichnen pflegte, das Wort Menschensohn, aus Dan. 7, 13 genommen, sondern er spielt auch Matth. 26, 64 in jenem feierlichen, über sein Leben entscheidenden Augenblick, wo ihn der Hohepriester bei dem lebendigen Gott beschwört, ausdrücklich auf diese Stelle unseres Propheten an. Ebenso ist für den Zentralbegriff der Lehre Jesu, für den Begriff und Ausdruck Reich Gottes oder Himmelreich die zutreffendste, bedeutendste Grundstelle Dan. 2, 44: „Der Gott des Himmels wird ein Reich aufrichten, das in Ewigkeit bestehen wird”. Ferner: die Grundgedanken Jesu über das Verhältniß des Himmelreichs zur Welt lassen sich auf Dan. 2 zurückführen, wie er denn Matth. 21, 44 deutlich auf Dan. 2, 34f. anspielt in den Worten: „Auf wen der Stein fällt, den wird er zermalmen”.

Bedenkt man nun, von welch prinzipieller Wichtigkeit gerade die Ausdrücke Menschensohn und Gottesreich für das Ganze der Lehre Jesu sind, so läßt sich daraus abnehmen, wie viel unser Prophet dem Herrn selbst gewesen sein, wie völlig er in ihm gelebt haben muß. Sein Hauptausspruch jedoch, in welchem er Daniel ausdrücklich nennt, ist Matth. 24, 15, worüber Näheres bei Hengstenberg a. a. D., S. 258-270. Mag in den critischen Folgerungen, die man aus diesen Worten Christi gezogen hat, auch hie und da zu weit gegangen worden sein: so viel ist jedenfalls Thatsache, daß der Herr hier mit
Ehrerbietung von Daniel als einem Propheten, mithin als einem göttlich inspirirten Manne redet, welcher Dinge geweissagt hat, die

─ 6 ─

auch für ihn und seine Jünger noch zukünftig sind und also über die Zeit des Antiochus weit hinausliegen. Endlich ist auch noch der Stellen Luc. 1, 19.26 zu gedenken. Hier erscheint der Engel Gabriel, welcher außerdem in der ganzen H. Schrift nur noch Dan.
8. und 9. vorkommt; weßwegen sich auch Strauß, Bruno, Bauer und Ebrard in ihren auf die evangelische Geschichte bezüglichen Werken, jeder in seiner Weise, aus Anlaß jener Stellen über unsern Propheten aussprechen. Es wird durch Luc. 1. bestätigt, daß die danielische Angelologie reelle Wahrheit und nicht ein Produkt späterer, aus dem Parsismus entlehnter Vorstellungen ist. So hat unser Buch gerade hinsichtlich der drei Punkte, welche der modernen Critik den meisten Anstoß gegeben haben, hinsichtlich
seiner Weissagungen, seiner Wundererzählungen und seiner Engelserscheinungen,
das ausdrückliche Zeugniß des N. T. für sich. Jesus und seine Apostel haben Daniel für einen wirklichen Propheten Gottes und seine Schrift für eine Darstellung wirklicher, gottgewirkter Wunder und Weissagungen in dem von der Critik bekämpften und
ihr diametral entgegengesetzten Sinn gehalten.

3. Das Zeigniß der Kirche.

Bis in’s 17. oder eigentlich bis tief in’s 18. Jahrhundert hinein hat sich demgemäß das Buch Daniels der einstimmigen Anerkennung seiner Aechtheit innerhalb der christlichen Kirche, wie der jüdischen Synagoge zu erfreuen gehabt. Und damit gieng in der erstern auch die richtige Auslegung der hier in Frage kommenden Kapp. 2. 7. 9. Hand in Hand, indem die Weissagung 9, 24-27. auf die Erscheinung Christi im Fleische bezogen wurde, während man in den Gesichten des 2. und 7. Kap. die vier Weltmonarchieen nicht bloß bis auf Antiochus reichen ließ, sondern unter dem vierten Reiche das römische verstand. Wahrer als die oben angeführte Bemerkung Hizig’s ist daher, auch in Bezug auf den geschichtlichen Thatbestand , die von Mich. Baumgarten: „Daß das vierte und letzte Weltreich kein anderes ist als das römische, wäre nie zweifelhaft geworden, wenn sich nicht eine Wissenschaft, welche dem Geiste der Weissagung widerstrebt, eine Weile der Auslegung der Weissagung bemächtigt hätte.“ (Apostelgesch. I, S. 238.)

_ Es stehen also auch in dieser Frage , wie in so vielen anderen,

[….]

Quelle:

Auberlen, Carl August, weil. Dr. der Philos. u. Theol., der letzteren a. o. Prof. in Basel:
Der Prophet Daniel und die Offenbarung Johannis.
In ihrem gegenseitigen Verhältniß betrachtet und in ihren Hauptstellen erläutert. Mit einer Beilage von M. Fr. Roos.
Dritte Auflage. Basel, Bahnmaier’s Verlag, 1874. [S. 1; Digitalisat]

Literaturangaben und Verweise

Dr. Karl Rudolf Hagenbach, Professor der Theologie in Basel: Enciklopädie und Methodologie der theologischen Wissenschaften. Dritte, auf Grundlage der zweiten durchgesehene Auflage. Leipzig, Weidmannsche Buchhandlung, 1851. [Digitalisat]


Eingestellt am 25. März 2025  ─  Letzte Überarbeitung am 14. Juni 2025