Johann Michael Hahn (1758-1819)

Michael Hahn

Johann Michael Hahn (* 2. Februar 1758 in Altdorf bei Böblingen; † 20. Januar 1819 in Sindlingen, heute ein Teil von Jettingen bei Herrenberg) war schwäbischer Pietist und Stifter der Hahn’schen Gemeinschaft. Sein vermeintlicher erster Vorname „Johann“ ist, dem Hinweis mehrerer Belegstellen zufolge, in der Geburtsurkunde nicht vermerkt [vgl. G. Wehr, s.u.].

Michael Hahn wurde als Sohn eines Bauern geboren und erlernte das Metzgerhandwerk. Als junger Mann erlebte er eine Bekehrung und schloß sich den württembergischen Pietisten an. Wichtige Impulse erhielt er durch einen Aufenthalt auf dem Ihinger Hof bei Renningen, einem Zentrum des Separatismus (Radikaler Pietismus) [1]. Hier begegnete er höchstwahrscheinlich dem jungen Leinenweber Johann Georg Rapp, den er nach Rapps eigener Aussage maßgeblich beeinflusste [2]. In mehreren „Zentralschauen“, spirituellen visionären Erlebnissen, von denen er die erste im Alter von zwanzig Jahren hatte, wurden die Grundlagen seiner Theologie gelegt. Hahn erhielt darin „Antwort auf alle Fragen von Gott und Christus“ [n. Bezner]. Michael Hahn vertrat die [von den reformatorischen Bekenntnisschriften als Irrlehre abgelehnte] Lehre von der apokatastasis panton, in Württemberg allgemein Allversöhnung genannt. Danach dauern die Höllenstrafen für die Verdammten zwar lange, aber nicht unendlich lange an (siehe unten). Wie lange Zeit die meisten führenden Mitglieder der Hahn’schen Gemeinschaft, blieb auch Hahn selbst unverheiratet.

Michael Hahn lebte ab 1794 als Bauer in Sindlingen bei Herrenberg. Hier stand er unter dem Schutz der Herzogin Franziska von Württemberg (Franziska von Hohenheim), nachdem er von der Landeskirche wegen seiner Anschauungen verfolgt wurde. Viele Menschen strömten zu ihm, um seine Bibelauslegungen zu hören. So bildete sich um ihn nach und nach die nach seinem Tode nach ihm benannte Gemeinschaft, die auch seine Schriften und Lieder bewahrt und weiterpflegt. Ab 1803 konnte er sich ganz seiner theologischen und seelsorgerlichen Arbeit widmen. Hahn schrieb über 2000 Liedtexte, die zu bekannten Choralmelodien zu singen sind.

Fünfbrüderbild (v.l.: J. Schnaitmann, A. Egeler, J.M. Schäffer,
I.G. Kolb, J.M. Hahn)

Michael Hahn war als erster Leiter der im Jahr 1819 gegründeten pietistischen Siedlung Korntal vorgesehen, starb aber vor der Gründung dieser Gemeinde. Er ist der Textdichter der Kirchenlieder Jesu, Seelenfreund der Deinen (EG 560) und „Herr, laß mich deine Heiligung“ (EG 634 Württemberg). Sein Grab befindet sich in Sindlingen, Gemeinde Jettingen bei Herrenberg auf dem kleinen Friedhof.

„Wiederbringung aller Dinge“

Damals wie heute wurde von anderen Christen vielfach Kritik geübt an der von Michael Hahn und der nach ihm benannten Gemeinschaft vertretenen Lehre der „Wiederbringung aller Dinge“ (Apokatastasis panton; „Allversöhnung“). Diese Lehre widerspricht dem Artikel 17 der Confessio Augustana, einer lutherischen Bekenntnisschrift, und läßt sich nur aus vereinzelten Versen konstruieren (v.a. 1. Kor. 15, 28), nicht aber mit dem Gesamtzeugnis der Heiligen Schrift belegen oder in Übereinstimmung bringen.

Auch weitere Erfahrungen und Lehraussagen Hahns (wie die „Schöpfungsleiter“ und die Welten- und Geisterhierarchie sowie gnostische und kabbalistische Einflüsse) sind Ausdruck seiner theosophischen Weltsicht, als unbiblisch zu werten und der Mystik zuzurechnen.

Der Apologet Lothar Gassmann schreibt im „Handbuch Orientierung“ zu Hahns Lehrsystem:

„Bei Michael Hahn vermischt sich starker Bibelglaube mit seltsamen Lehren, die nicht alle aus dem christlichen Bereich stammen. Wie kurz aufgezeigt, kommt vor allem die Lehre vom Fall in die Materie und Wiederaufstieg zum Geist aus der Gnosis, welche ja schon in urchristlicher Zeit von den Aposteln bekämpft wurde (vgl. 1. Tim. 6, 20 f.)“

Sehr problematisch ist auch Hahns Stellung zu den Schriften des Mystikers Jakob Böhme,  die in der Dissertation von J. Trautwein „Die Theosophie Michael Hahns und ihre Quellen“ wie folgt bewertet wird:

„Der Hauptunterschied zwischen Hahn und Tersteegen besteht freilich in dem verschiedenartigen Verhältnis beider zu Jakob Böhme. Während Tersteegen gegenüber dem Görlitzer Theologen eine vorsichtige Distanz übt, hat sich Hahn gerade an die tiefsinnige Christosophie und Kosmologie Böhmes angeschlossen.“

Auch in früherer Zeit ist diese Nähe zu den unbiblischen Lehren Böhmes klar erkannt worden. In seinem Werk „Kirchliche Geschichte Württembergs“ schreibt C. Römer bereits im Jahr 1865 (S. 523f. und 525):

„Hahn läßt sich in vielen Stücken mit Jakob Böhme und den älteren Mystikern und Theosophen vergleichen, ist jedoch in anderer Hinsicht wieder sehr von ihnen zu unterscheiden. Gewagte, über das klare Schriftwort hinausgehende Lehren, wie sie Böhme von den alten Adepten und Theosophen entlehnte, finden sich auch, wenn schon in gemilderter Weise, bei Michael Hahn. Man kann eine theilweise wörtliche Aehnlichkeit mit Böhme und seinen Schülern bei ihm wohl nicht in Abrede stellen. Die alte Lehre von der Schöpfung der Welt aus zwei unsichtbaren Principien, einem guten und einem bösen, die Lehre von der ursprünglichen Vereinigung beider Geschlechter in einem Menschen, von einem Sündenfall Adams, der in seinem Verlangen nach einer Gehülfin bestanden habe, kehren auch bei Hahn wieder. Ebenso erinnert seine Lehre von dem Urgrund aller Dinge, vom Wesen der wirkenden Kräfte, von der Schöpfung des Menschen, von der Entstehung des Bösen in der Geisterwelt an Jakob Böhme… […] …Merkwürdig bleibt, daß er den Wunsch aussprach, seine theosophischen Ansichten geheim zu halten, weil er selbst die Sachen noch nicht für ausgereift genug erachte und halte, weßhalb sie auch minder bekannt sind, selbst unter denen, die sich zu den sogenannten Michelianischen Gemeinschaften halten.“

Sehr intensiv hat sich auch Baldur Gscheidle mit den Irrlehren Michael Hahns, der sich ja immer wieder selbst als Theosoph bezeichnete, beschäftigt. Hier sei auf Gscheidles Artikel Sollte Gott gesagt haben? (2003) bzw. die leicht bearbeitete pdf-Fassung von 2011: „Die Kabbala und ihr Einfluß auf den württembergischen Theosophen Michael Hahn und seine Allversöhnungs- und Wiederbringungslehre“ verwiesen, die sehr viel Quellenmaterial und apologetische Belege enthalten (s. auch Literaturteil unten).

Literatur

  • Die Lehre des württembergischen Theosophen Johann Michael Hahn, systematisch entwickelt und in Auszügen aus seinen Schriften dargestellt von W. F. Stroh, Pfarrer in Grömbach. Stuttgart, 1859. Druck und Verlag von J. F. Steinkopf. [Digitalisat]
  • W. F. Stroh: Die Lehre des württembergischen Theosophen Johann Michael Hahn, systematisch entwickelt. Steinkopf, Stuttgart 1859. 4. Auflage 1965, ISBN 3-7984-0102-0.
  • Joseph Hahn: Bekanntes und Unbekanntes aus dem Leben des württembergischen Theosophen Johann Michael Hahn. Rohm, Lorch 1919. Neuauflage: Turm, Bietigheim 1983(?), ISBN 3-7999-0210-4.
  • Johann Michael Hahn. Kurze Darstellung seines Lebens und seiner Lehre. M. Hahn’sche Gemeinschaft, Stuttgart, 1939. 3. Auflage 1961.
  • Gottlob Lang: Michael Hahn. Ein Gottesmann im schwäbischen Bauerngewand. Lebensbild und Auswahl. Calwer, Stuttgart, 1962.
  • Joachim Trautwein: Die Theosophie Michael Hahns und ihre Quellen. Calwer, Stuttgart 1969. [Digitalisat]
  • Friedhelm Groth: Die „Wiederbringung aller Dinge“ im Württembergischen Pietismus. Theologiegeschichtliche Studien zum eschatologischen Heilsuniversalismus württembergischer Pietisten des 18. Jahrhunderts. Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Band 21. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1984, ISBN 3-525-55805-8.
  • Erich BeyreutherHahn, Michael. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 7, Duncker & Humblot, Berlin 1966, ISBN 3-428-00188-5, S. 512 f. [Digitalisat]
  • Hahn, Johann Michael. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 10, Duncker & Humblot, Leipzig 1879, S. 364–366.
  • Friedrich Wilhelm BautzHahn, Johann Michael. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 2, Bautz, Hamm 1990, ISBN 3-88309-032-8, Sp. 469–471.
  • Werner Raupp: „Wie Gott, was Gott und wo Gott sey?“ Michael Hahn, der gnostische Gottessucher aus Altdorf. – In: Schwäbische Heimat. Zeitschrift für Regionalgeschichte, württembergische Landeskultur, Naturschutz und Denkmalpflege 59 (2008), Heft 2, p. 142–148 (anlässl. von J. M. Hahns 150. Geburtstag).

Einzelnachweise

  1. Eberhard Fritz: „Viele fromme Seelen und Querköpfe“. Der Ihinger Hof im Besitz der Familie von Leiningen als Ort der Kommunikation zwischen Pietisten und Separatisten im 18. Jahrhundert. in Blätter für Württembergische Kirchengeschichte 111 (2011). S. 161–191.
  2. Eberhard Fritz: Johann Georg Rapp (1757-1847) und die Separatisten in Iptingen. Mit einer Edition der relevanten Iptinger Kirchenkonventsprotokolle. in Blätter für württembergische Kirchengeschichte 95 (1995). S. 145.

Werke

  • Johann Michael Hahns Schriften. 15 Bände. Originalausgaben Fues, Tübingen (ab 1819), Nachauflagen M. Hahn’sche Gemeinschaft, Stuttgart (ab 1932).
    • Band 1: Lieder über die Berg-Predigt Jesu, … 1819.
    • Band 2: Briefe über die Apostel-Geschichte, … 1820.
    • Band 3: Briefe und Lieder über die zweyte Epistel Pauli an die Corinther, … 1820.
    • Band 4: Briefe und Lieder über die Briefe Pauli an den Timotheus, … 1820.
    • Band 5: Briefe und Lieder über die heilige Offenbarung Jesu Christi, … 2. Auflage. 1846.
    • Band 6: Betrachtungen und Lieder über die Psalmen … Nebst einem Brief über den 119. Psalm als Einleitung 1820; später in zwei Bände geteilt: Band 6,1: Psalm 1 bis 66, … 3. Auflage 1853, und Band 6,2: Psalm 67 bis Ende, 3. Auflage 1853.
    • Band 7: Betrachtungen auf alle Tage des Jahrs über den Brief Pauli an die Römer, … 1849.
    • Band 8: Betrachtungen auf alle Tage des Jahrs über einzelne biblische Texte, … 1825.
    • Band 9: Betrachtungen, Gebete und Lieder auf die Sonn-, Fest- und Feyertage, … 1826.
    • Band 10: Sammlung von auserlesenen geistlichen Gesängen zur Belehrung, … 1827.
    • Band 11: Send-Briefe über einzelne Kapitel aus dem alten Testament und den vier Evangelisten, … 1855.
    • Band 12: Send-Briefe über einzelne Capitel aus dem alten und neuen Testament und Antworten auf Fragen über Herzenserfahrungen, … 1830.
    • Band 13: Sendschreiben und Lieder an Freunde der Wahrheit als Antworten auf ihre Fragen. 1841.
    • Band 14: Briefe von der ersten Offenbarung Gottes durch die ganze Schöpfung bis an das Ziel aller Dinge, … 1825. („System seiner Gedanken“)
    • Band 15: Sammlung auserlesener geistlicher Gesänge, … 5. Auflage. 1891. („I. Liederband“)
  • Gotteserkenntnis und Heiligung. Aus seinen Briefen, Betrachtungen und Liedern. Hrsg. von Gerhard Schäfer, Franz, Metzingen 1994 (Zeugnisse der Schwabenväter, Band 14/15), ISBN 3-7722-0227-6.

Quellen, Weblinks und Verweise

Seite Johann Michael Hahn“ (Auszüge). In: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 26. Mai 2021, 15:05 UTC. (Abgerufen: 6. September 2021, 20:21 UTC)

Gerhard Wehr: Die deutsche Mystik. Mystische Erfahrung und theosophische Weltsicht – eine Einführung in Leben und Werk der großen deutschen Sucher nach Gott. Bern, München, Wien 1988, S. 304.

Lothar Gassmann: Hahn, Johann Michael, im Handbuch Orientierung (Archivfassung. mit Belegstellen)

Lothar Gassmann: Pietismus – wohin? (2003)

Lothar Gassmann: Wohin geht der Pietismus? Artikel aus Bibel und Gemeinde 104, Band 3 (2004), S. 47-59

Lothar Gassmann: Allversöhnung. Dieser apologetische Artikel berücksichtigt die Lehren von Michael Hahn und Karl Barth.

Baldur Gscheidle: Sollte Gott gesagt haben? – Die Kabbala und ihr Einfluß auf den württembergischen Theosophen Michael Hahn und seine Allversöhnungs- und Wiederbringungslehre. [Download der leicht überarbeiteten Fassung, im pdf-Format]

Alfred Bezner:  P i e t i s m u s  und  M e t h o d i s m u s  im 19. Jahrhundert in Walheim. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie am Fachbereich III der Universität Trier. [Digitalisat als pdf]

Jaana Espenlaub: Lichtmetaphorik und Wiedergeburt bei Johann Michael Hahn. München, GRIN Verlag 2013.

Kirchliche Geschichte Württembergs. Von C. Römer, weil. Diakonus in Sindelfingen. Zweite, mit Citaten und Anmerkungen aus dem Nachlaß des Verfassers und mit einer chronologischen Uebersicht vermehrte Auflage, bearbeitet von Fr. Roos, Diaconus in Neuenstadt. Stuttgart 1865. Verlag der Evangelischen Bücherstiftung, Christophsstraße Nro. 6. [Digitalisat]

Die Hahnsche Gemeinschaft. Ihre Entstehung und seitherige Entwicklung. Mit einer Reihe von Lebensbildern. Stuttgart. Druck von Chr. Scheufele (früher G. Hasselbrink). 1877. [Digitalisat]

M. Hahn’sche Gemeinschaft in Stuttgart (Hrsg.): Die Hahn’sche Gemeinschaft. Ihre Entstehung und seitherige Entwicklung. Stuttgart 1949.

Trautwein, Joachim: Die Theosophie Johann Michael Hahns (Diss.). Heidelberg 1967. (Eintrag bei BSZ / RezensionDigitalisat)

Geistliches Liederkästlein, oder kurzer Auszug aus den sämmtlichen Liedern J. M. Hahn’s. Zusammengetragen von Freunden der Wahrheit und zum Druck befördert von der Druckgesellschaft. Erster Theil. Sechste Auflage. Druck der G. Hasselbrink’schen Buchdruckerei, Stuttgart 1850. [Digitalisat]

Geistliches Liederkästlein, oder kurzer Auszug aus den sämmtlichen Liedern J. M. Hahn’s. Zusammengetragen von Freunden der Wahrheit und zum Druck befördert von der Druckgesellschaft. Erster Theil. Siebente Auflage. Stuttgart. Druck der G. Hasselbrink’schen Buchdruckerei, 1858. [Digitalisat]

Geistliches Liederkästlein, oder kurzer Auszug aus den sämtlichen Liedern J. M. Hahn’s. Zweiter Teil. Zehnte Auflage. Stuttgart. Druck von Chr. Scheufele, 1896. [Digitalisat]

Betrachtungen von Michael Hahn

Betrachtung zu Lukas 13, 9

Betrachtung zu 1. Korinther 10, 11

Betrachtung zu Epheser 5, 14

Lieder

Ach, laß mich nimmermehr

Dein Hauptgesuch auf Erden

Jesu, Seelenfreund der Deinen (Württ. Gesangbuch 1912)

Mit Beten müsse ich erwachen

Saget es doch allen Leuten

Schlägt dich jemand auf den Backen

Verstreichen mir die Stunden


Eingestellt am 22. Mai 2021 – Letzte Überarbeitung am 14. April 2024