6. Der alte Woltersdorff

Unsere Stadt, wenn sie auch einen traurigen und entsetzlichen Mangel an Kirchen hat, kann doch in alter und neuer Zeit eine Menge treuer und trefflicher Pfarrer aufweisen. Ich erwähne nur jenen Propst von St. Petri, Franz Julius Lütkens [1650-1712], der hernach als Hofprediger in Kopenhagen die ersten deutschen Missionare, einen Ziegenbalg und Plütschau, berufen und damit dem deutschen Missionseifer Weg und Bahn gemacht hat. Ich erwähne nur jenen Propst von St. Nikolai, den frommen und ehrwürdigen Philipp Jakob Spener [1635-1705], der, wie es auf jener ihm gewidmeten Denktafel mit Recht heißt, „durch fromme Wahrheitsliebe, durch Eifer und Beharrlichkeit den entschlummerten Geist des Christentums in Deutschland wieder ins Leben brachte“. Wer unter uns kennt nicht jenen Fürsten unter den geistlichen Liederdichtern, jenen Paul Gerhard [1607-1676], dessen herrliche Lieder seit zwei Jahrhunderten in dem Herzen und Munde des deutschen Volkes leben und leben werden, so lange das Evangelium unter uns eine Stätte finden und behalten wird. Und wenn auch weniger gekannt, so soll doch der Name eines Johann Caspar Schade hier nicht vergessen sein. Der ehrwürdige Spener hat es ihm in seiner Grabrede bezeugt, daß der Eifer um das Haus des Herrn ihn verzehrt hat. Er hat von ihm gesagt: „Er sei gewesen wie ein Faß voll Most, aus welchem, wo man es nur angebohrt, der süße Trank hervorgequollen sei“.  Damit sind auch seine Lieder gemeint, die voll Glaubens und Feuergeistes sind, und von denen ich nur das eine nennen will:

„Auf hinauf zu deiner Freude,
Meine Seele, Herz und Sinn!
Weg, hinweg mit deinem Leide!
Hin, zu deinem Jesu hin!“

– und nur an den unvergleichlich schönen Vers eines andern Liedes erinnern:

In meines Herzens Grunde
Dein Nam‘, Herr Christ, allein
Funkelt all‘ Zeit und Stunde,
D’rauf kann ich fröhlich sein.
Wenn alles um mich trübe,
Ganz schwarz und finster ist,
Laß schimmern Deine Liebe
In mir, o Jesu Christ!

Ich erwähne nur noch die Namen eines Elsner und Jablonski, eines Jänicke und Goßner, eines Theremin und Schleiermacher. Wahrlich, die Kirchengeschichte von Berlin bietet eine Fülle hoher und ehrwürdiger Gestalten, die eine ganze lange Reihe von Vorträgen nie und nimmer erschöpfen würde.

Wir wollen in dieser Abendstunde das Gedächtnis eines Mannes unter uns erneuern, der einer der gesegnetsten Zeugen und Hirten seiner Zeit gewesen ist. Ich führe Sie zu der St. Georgen=Kirche, die einst als Hospital vor den Thoren unserer Stadt lag, obgleich sie heute noch auf derselben Stelle steht, die sie vor sechshundert Jahren eingenommen hat. Die Georgenkirche hat manchen trefflichen Prediger in ihrer Geschichte aufzuweisen. Noch ist der ehrwürdige  R o l l e  gewiß nicht vergessen, der am 23. Juli 1845 starb, und dessen Gedächtnis die dankbare Gemeinde durch eine Denktafel bewahrt hat, auf welcher die Worte der heiligen Schrift stehen: „Die Lehrer werden leuchten wie des Himmels Glanz“ (Dan. 12, 3). Noch lebt unter uns allen das Andenken an den frommen, milden und treuen Christian Ludwig  C o u a r d,  der mitten in dem Lichte der Weihnachtssonne (23. Dezember 1865) zu seinem Heilande heimgegangen ist, und den tausende seiner dankbaren Gemeindeglieder sowie fast sämtliche Prediger dieser Stadt zu seiner Ruhestätte geleiteten.

Doch, wir greifen etwas weiter in die Geschichte der St. Georgenkirche zurück. Es war im Jahre 1735, als der damalige Prediger von St. Georgen, Daniel Schönemann, auf Befehl des Königs Friedrich Wilhelm I. nach dem benachbarten Dorfe Friedrichsfelde versetzt wurde. Dieser Mann besaß eine reiche und bewunderungswürdige Gabe der Dichtkunst. Es ist kaum der Erwähnung wert, daß er fünf Teile Gedichte dem Druck übergeben und der Nachwelt hinterlassen hat. Die Nachwelt hat sie sämtlich vergessen. Ein größeres Interesse erregt dieser Mann durch die seltene Fertigkeit, die er besaß, ohne jegliche Vorbereitung über jedes ihm aufgegebene Thema sogleich in Versen sprechen zu können. Er hat diese Fertigkeit in vielen Fällen zur Bewunderung aller seiner Zuhörer abgelegt und soll selbst die Kanzel nicht verschont haben. Spöttisch fingt Hofmannswaldau von ihm:

Beglückt ist Schönemann, der große Schönemann,
Der ganze Predigten in Versen halten kann.
Dies Wunderwerk der Welt wird noch zuletzt die Gassen
Des prächtigen Berlin mit Reimen pflastern lassen.
Das Reden fällt ihm schon in Prosa ziemlich schwer,
Er stürzet sein Gedicht gleich ganzen Strömen her,
Und weiß ein länger‘ Lied im Husten vorzubringen,
Als man in Jahr und Tag vermögend ist zu singen.

Ein solcher Wundermann fühlte sich natürlich durch die unfreiwillige Versetzung aus der Hauptstadt nach dem Dorfe sehr gekränkt. Es war eine Schmach, daß er sein Licht vor armseligen Bauern leuchten lassen sollte. Als er in Friedrichsfelde ankam und die Mitglieder seiner neuen Gemeinde vor den Hausthüren sitzen sah begrüßte er sie mit den Versen:

Gott grüße euch, ihr lieben Bauern!
Ich werde hier nicht lange dauern;
Drum seht mich nur recht an!
Ich heiße: Daniel Schönemann.

Die Chronik, welche diesen Vers uns aufbewahrt hat, erzählt leider nicht, mit welchen Mienen die Bauern von Friedrichsfelde ihren neuen Seelsorger angeblickt und bewundert haben. Schönemann hielt Wort. Er hat sein Amt alsbald niedergelegt, und ist zwei Jahre darauf in Schlesien als Privatmann gestorben. Durch den Abgang dieses Stegreifdichters hat aber die St. Georgenkirche durchaus keinen Verlust, sondern vielmehr reichen Vorteil und Segen erfahren. Auf den Befehl des Königs wurde nämlich in demselben Jahre der bisherige Pfarrer zu Friedrichsfelde, Gabriel Lukas Woltersdorff, hierher versetzt, sodaß also Residenz und Dorf ihre Prediger einfach mit einander vertauschten.

In dem Pfarrhause der Landsbergerstraße erfüllte sich so recht die Verheißung des 127. Psalms. Woltersdorff war ein treuer Knecht seines Herrn und Heilandes und lebte mit seiner frommen Ehefrau in einer glücklichen und gesegneten Ehe. Sein Weib war wie ein fruchtbarer Weinstock um sein Haus herum, und seine Kinder wie die Ölzweige um seinen Tisch her. Der Herr hatte ihm zwölf Kinder geschenkt, von denen namentlich vier Söhne noch heute in weiteren Kreisen mit Achtung und Liebe genannt werden.

Der eine von ihnen war Johann Lukas Woltersdorff, der im Jahre 1752 als Prediger an die hiesige St. Gertraudkirche berufen wurde und bis zu seinem Ende ein treuer Zeuge des Evangeliums gewesen ist.

Ein zweiter Sohn war Ernst Gottlieb Woltersdorff [* 1725], der am 17. Dezember 1761 als Pfarrer zu Bunzlau verstorben ist. Er ist als geistlicher Schriftsteller weit und breit berühmt geworden. Namentlich hat sein „Fliegender Brief an die Jugend“ ganz Deutschland durchflogen und in tausend und aber tausend Herzen von Jünglingen und Jungfrauen reichen Segen gewirkt. Noch berühmter sind aber seine (223) „Evangelischen Psalmen“, die aus einem innig gläubigen Herzen geflossen und gerade vor hundert Jahren zum erstenmal in vollständiger Sammlung erschienen sind. Er ist durch seine Psalmen einer der treuen und gesegneten Glaubenszeugen geworden, welche der Herr vor der Zeit des großen Abfalls in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts als Wächter auf die Zinnen seiner Kirche gestellt hat. Viele seiner Lieder werden noch heute in den Kreisen der gläubigen Christen und auch in den Kirchen mit Lust und Liebe gesungen. Ich erinnere nur an jenes kleine Lied, das schon in so mancher Bibel= und Erbauungsstunde erklungen ist:Das ist eine sel’ge Stunde, Jesu, da man Dein gedenkt – ebenso an jenes wahrhaft erhabene und geistreiche:

Wer ist der Braut des Lammes gleich?
Wer ist so arm und wer so reich?
Wer ist so häßlich und so schön?
Wem kann’s so wohl und übel gehn?
Lamm Gottes, du und deine sel’ge Schar
Sind Menschen und auch Engeln wunderbar.

Ich erwähne noch jenes Abendmahlslied: „Komm, mein Herz, in Jesu Leiden!“ – das mit dem wunderschönen Verse schließt:

Will hinfort mich etwas quälen,
Oder wird mir etwas fehlen,
Oder wird die Kraft zerrinnen:
So will ich mich nur besinnen,
Daß ich einen Heiland habe,
Der vom Kripplein bis zum Grabe,
Bis zum Thron, wo man ihn ehret,
Mir, dem Sünder, zugehöret.

Ein dritter Sohn aus jenem Pfarrhause zu St. Georgen ist Albrecht Friedrich Woltersdorff In seinem zwanzigsten Lebensjahre wurde er der treue Freund und Mitarbeiter des berühmten Judenmissionars Stephan Schult. Im Jahre 1752 trat er mit demselben unter der Losung „Unsere Hülfe stehet im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat!“  eine Reise in das Morgenland an, um den Juden das Evangelium von Jesu Christo zu predigen. Der greise Vater hatte seinen geliebten Sohn mit freudigem Herzen zu dieser Reise gesegnet und entlassen. Denn er hatte oft zu seinen Kindern gesprochen: „Mag euch Gott gebrauchen, wann, wo und wie er will; daß ihr nur etwas werdet zu Lobe seiner herrlichen Gnade“. – Der Sohn ist nicht wieder in das Vaterhaus hier unten zurückgekehrt. Am 12 August 1755 ist er im fernen Morgenlande, in dem alten Ptolemais (dem heutigen St. Jean d’Acre) heimgegangen zu seinem Heilande, nachdem der 26 jährige Jüngling in drei Weltteilen um Seelen für den Herrn geworben und von der Höhe der Peterskirche in Rom wie von dem Gipfel der Pyramiden in Egypten Sieg und Segen für das Evangelium von Jesu Christo erfleht hat.

Der vierte (der Zahl nach der siebente) Sohn jenes frommen Predigers von St. Georgen und der Bruder jener Drei, die wir so eben genannt haben, ist Theodor Carl George Woltersdorff. Er ist für unsere Stadt Berlin weit mehr als Vater und Brüder ein Segen geworden. Er ist es, dessen Bild wir in dieser Abendstunde zu zeichnen versuchen wollen.

Am 6. September des Jahres 1727 wurde er in dem Pfarrhause zu Friedrichsfelde geboren und kam in seinem achten Lebensjahre, als sein Vater, wie oben erwähnt an die St. Georgen=Kirche hierher versetzt wurde, nach unserer Stadt. In den Jahren 1744-1746 hat er das Berlinische Gymnasium zum grauen Kloster besucht und dann auf der Universität Halle studiert. Ehe er nach Halle ging, wurde sein Herz von vielen Zweifeln gequält, die aber durch Gottes Gnade dazu dienten, ihn durch schwere Kämpfe zu läutern und zu desto größerer Festigkeit des Glaubens zu bringen. Mitten in jenen Kämpfen unternahm er eine Reise zu dem Bruder seines Vaters. Hierbei geriet er durch einen Fall ins Wasser, aus welchem er beinahe sterbend herausgezogen wurde, und durch einen Sturz vom Wagen zweimal in große Lebensgefahr. Diese beiden Ereignisse brachten ihn zu dem Entschlusse, aus Dankbarkeit gegen den Herrn, der ihn beschützt und errettet hatte, Theologie zu studieren und sein Diener zu werden. Denn durch seine anhaltenden Zweifel war derselbe Entschluß, den er schon in seiner Kindheit gefaßt hatte, in seinem Herzen beinahe erloschen. In Halle wurden Männer wie Michaelis und Baumgarten, Callenberg und Knapp seine treuen Lehrer und Führer, wie auf dem Felde der Wissenschaft, so auf dem Wege des Heils. Nach dreijähriger, treu und fleißig angewandter Studienzeit kehrte der Jüngling im Jahre 1749 von Halle nach Berlin zurück. Hier wurde er zuerst Hauslehrer bei dem damaligen Stadtpräsidenten Kircheisen. Fünf Jahre darauf, am ersten Trinitatissonntage des Jahres 1754, wurde er seinem alternden Vater als Amtsgehülfe an die Seite gegeben, und im Jahre 1762 nach dessen Tode sein Nachfolger. Er verheiratete sich mit der ältesten Tochter des ersten Predigers von St. Georgen, Maria Sophie Auguste Vogel, die ihm nicht nur eine treue und liebevolle Gattin, sondern auch eine sorgsame Pflegerin seines alten Vaters wurde. Der Herr hat diese Ehe mit fünf Kindern gesegnet.

Wir haben unsern Blick zunächst auf seine amtliche Thätigkeit zu richten. Woltersdorff hat unter dem reichsten Segen Gottes in seiner Gemeinde gewirkt. Noch vor kurzer Zeit wußten die älteren unter den gläubigen Christen dieser Stadt von seiner Wirksamkeit und seiner Eigentümlichkeit viel zu erzählen. Er gehörte zu den beliebtesten Predigern unserer Stadt. Er war ein Zeitgenosse des berühmten Silberschlag, der an der hiesigen Dreifaltigkeitskirche stand. Es war damals zwanzig Jahre lang zur Sitte geworden, daß die Gläubigen der Hauptstadt jeden Sonntag entweder vormittags zu Silberschlag und nachmittags zu Woltersdorff, oder umgekehrt vormittags zu Woltersdorff und nachmittags zu Silberschlag in die Kirche gingen, da beide in dieser Weise mit einander zu wechseln pflegten. Sie ergänzten sich auch gegenseitig aufs beste. Silberschlag zeichnete sich durch vielseitige Gaben des Verstandes, durch klare, lichtvolle Entwickelung und Darstellung der biblischen und kirchlichen Wahrheiten, sowie durch eine bedeutende Beredsamkeit aus. Woltersdorff dagegen wußte durch seine echt volkstümliche, stets praktische und herzandringende Predigtweise die Herzen und die Gewissen zu treffen. Alles war bei ihm Herzens= und Lebenssache, unmittelbare Aneignung und Anwendung auf das Leben und auf das Bedürfnis jedes einzelnen Zuhörers. Er extemporierte meistens nach einer bald ausführlicheren, bald kürzeren Disposition und predigte so schlicht und einfach wie möglich, ohne allen rednerischen Schmuck und Pathos, unbekümmert um Beifall oder Tadel. Eines Tages kam er in das Konsistorium, dessen Mitglied er 1791 geworden war. Seine Kollegen empfingen ihn mit den Worten: „Es ist gut, daß Sie kommen; wir sprechen eben davon, ob der Prediger seine Zuhörer zu sich herauf ziehen oder zu ihnen hinuntersteigen solle!“„Ach was!“  antwortete Woltersdorff, „ich sage: Hans Taps, jetzt steige ich zu dir hinunter, gieb mir deine Hand, Bruder, und dann ziehe ich ihn zu mir herauf“. Und bei dieser seiner schlichten und einfachen Predigtweise, wobei er zu dem geringsten seiner Zuhörer hinunterstieg und ihn zu sich heraufzog, ist er auch bis an sein Ende geblieben. Als er Oberkonsistorialrat geworden war, empfing er einen Brief, worin ein ungenannter Freund die Hoffnung aussprach, daß er von nun ab doch nicht mehr so einfach wie bisher predigen werde. Woltersdorff benutzte diesen Rat in seiner nächstfolgenden Predigt, aber in ganz anderer Weise, als der gute Freund es sich wahrscheinlich gedacht hatte. Er sagte unter anderem: „Ihr werdet aus den Zeitungen wissen, daß sich mit mir eine Veränderung zugetragen hat. Da hat mich jemand aufgefordert, ich möchte jezt anders predigen. Aber wie wir bisher gesagt haben, so sagen wir auch abermal: So jemand euch Evangelium predigt anders denn das ihr empfangen habt, der sei verflucht (Gal. 1, 9). Ein Konsistorialrat ist doch noch kein Apostel, und ein Apostel ist doch noch kein Engel, und doch schreibt Paulus an die Galater: Aber so auch wir oder ein Engel vom Himmel euch würde Evangelium predigen anders denn das wir euch gepredigt haben der sei verflucht.“ – Der gute Freund wird gewiß seitdem das Briefschreiben unterlassen und seine gut gemeinten Ratschläge für sich behalten haben.

Der Kern und Stern aller Woltersdorffschen Predigten war allein Jesus Christus der Gekreuzigte, und das fortwährende Thema derselben die gnadenreiche Botschaft: Jesus nimmt die Sünder an! – eine Botschaft, die er bittend und mahnend, warnend und tröstend immer und immer wieder an die Herzen seiner Zuhörer brachte. Er wußte nichts anders und wollte nichts anders wissen ohne allein Jesum Christum den Gekreuzigten (1. Korinth. 2, 2). Es fragte ihn einmal jemand, warum er so selten über den Teufel predige. Er antwortete: „Ich habe noch so viel über den Herrn Jesum zu predigen; wenn ich damit erst fertig bin, will ich über den Teufel zu predigen anfangen“. Er ist aber damit nicht fertig geworden. Ein andermal wurde er gefragt, warum er nicht gegen grobe Laster wie z. B. die Trunksucht ausführlich und ausdrücklich predigte. Er sprach: „Wenn man eine Stadt belagert, so greift man nicht die Luftschlösser, sondern die Festungswerke an. Hat man einmal diese erobert,  so hat man die Luftschlösser von selbst“. Diese großartige Einseitigkeit hat es verursacht, daß selten ein Prediger solchen Eindruck und solchen Segen wie er gewirkt hat. Er war hierin auch unerschütterlich streng. Als ein Kandidat eines Tages vor der St. Georgengemeinde leere Moral gepredigt hatte, ging Woltersdorff in die Sakristei und sagte zu ihm: Der Herr Jesus wird sich bei Ihnen bedanken. Sie haben ja seinen Namen zweimal genannt. Und dies Wort hat den Kandidaten dahin gebracht, daß er einen Beruf verließ, zu dem seine Überzeugung nicht paßte, und wenigstens die Zahl jener falschen Propheten nicht vermehrt hat, die auch in unseren Tagen das Brot der Kirche essen, aber ihren Glauben und ihr Bekenntnis mit Füßen treten.

Derselbe Woltersdorff war dagegen sehr weitherzig und wahrhaft freisinnig, wenn ihm nur die Predigt des Evangeliums und das Bekenntnis zu seinem Herrn und Heiland gestattet wurde. Im Jahre 1780 sollte das sogenannte Mylius’sche Gesangbuch traurigen Andenkens in Berlin und im ganzen preußischen Staate eingeführt werden Es entstand eine große Aufregung unter den Gemeinden unserer Stadt. Auf einigen Kanzeln wurde für, auf anderen gegen das neue Gesangbuch gepredigt. Woltersdorff verhielt sich in dieser Angelegenheit anfänglich still und abwartend. Als man ihn fragte, ob er das Gesangbuch in seiner Kirche einführen werde, erwiderte er: „Wenn es mir freigestellt wird:  Nein, wenn aber die Obrigkeit darauf bestehen sollte: Ja; denn der Herr hat uns zwar zum Glauben und dessen Bekenntnis verpflichtet, aber nicht zu diesem oder jenem Gesangbuch. Wenn wir auch diesem Grundsatze nicht beistimmen können, da das Gesangbuch eben das kirchliche Bekenntnis ausdrückt und ausdrücken soll, so erwähnen wir doch mit Freuden, daß Woltersdorff das neue Gesangbuch in seiner Gemeinde nicht einführte, und daß es namentlich seiner weisen und besonnenen Haltung zu zuschreiben ist, daß der überwiegend größte Teil der Berliner Kirchen damals in dem Besitz und Gebrauch des alten, trefflichen Porstschen Gesangbuches belassen wurde. Wie dieser Mann zu den Kämpfen unserer Tage sich stellen würde, wo man um diese oder jene Spendeformel des heiligen Abendmahls sich unter einander angreift und verdächtigt, mag ein Ausspruch gegen seine Konfirmanden beweisen. Als er zu diesen von den verschiedenen Gebräuchen und Formen bei dem Sakrament des Altars sprach, sagte er ihnen: „Das alles könnt ihr euch gefallen lassen, wenn sie euch nur den Herrn Jesum lassen“.

Als Seelsorger war er ausgezeichnet und unermüdlich. Er ging den einzelnen Seelen seiner Gemeinde nach und wußte sie in unübertrefflicher Weise, je nachdem sie dessen bedurften, zu dem Einen, was not ist zu führen oder sie zu trösten und in dem rechten Glaubensstande zu erhalten. Es sind eine Menge von trefflichen Beispielen vorhanden, die seine seelsorgerische Weisheit und Begabung uns bezeugen. Es sei mir gestattet, hier wenigstens einige davon anzuführen. Er hatte in seiner Gemeinde eine Frau, die fortwährend über ihre Not und Trübsal klagte. So oft er auch zu ihr kam und ste tröstete, sie seufzte und klagte doch immer wieder. Eines Tages fragte er sie darum: „Hat Sie das Porstsche Gesangbuch hier?“„Ja,“  war die Antwort. „Hole Sie es einmal her,“  lautete der Befehl. –  Die Frau ging und holte das Buch. Woltersdorff schlug darin das Lied auf: Was Gott thut, das ist wohlgethan. Er zeigte ihr das Blatt und sprach: „Hier steht das Lied: Was Gott thut das ist wohlgethan; das will ich jetzt ausreißen.“„Sie werden doch nicht, Herr Pastor?“  rief die erschrockene Frau. – „Ja, Sie glaubt es ja nicht mehr,“ war die Antwort. Die Frau bat und weinte, und das Blatt wurde schließlich nicht herausgerissen. Aber das einfache Verfahren hatte geholfen. Sie schämte sich ihrer kleingläubigen Klagen und war für immer davon geheilt.

[….]

Quelle:

Berliner Bilder aus alter und neuer Zeit. Sieben Vorträge von W. Biethe, Prediger an der Parochialkirche zu Berlin. Hauptverein für christliche Erbauungsschriften, Klosterstraße 67, Berlin 1886. (S. 152-175, Digitalisat)

Verweise:

Woltersdorf, Theodor Carl Georg, im Bio-Bibliographischen Register der Franckeschen Stiftungen

Zürch, Holger: Verlorene Kirche in Berlin-Mitte – die Georgenkirche. In: Leipziger Zeitung vom 23. Oktober 2022 (Archiveintrag im Web Archive)


Eingestellt am 31. Januar 2024