Da das Jesus hörte, sprach er zu ihnen: Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Gehet aber hin und lernet, was das sei: „Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer“ Ich bin gekommen die Sünder zur Buße zu rufen, und nicht die Gerechten. (Matth. 9, 12.13)
O der unaussprechlich erquickenden Wahrheit, wenn der Herr sagt, er sei gekommen, die Sünder zur Buße zu rufen! Wie der Tau das Land zur Sommerszeit, so befruchtet dies liebliche Wort alle trost- und hilfesuchenden Herzen. Wie der Hirt das verirrte Schäflein, so sucht der treue Heiland uns Menschenkinder. Er sucht uns mit der Stimme seines Wortes in Lehre und Mahnung, mit den Zügen seiner Gnade, die in den Tiefen des Herzens sich regen und uns aufschrecken aus der Lust dieser Welt; er sucht uns durch ein unaussprechliches Sehnen nach einem besseren Heil, welches weder die Genüsse noch die Schätze dieser Erde befriedigen können. Er gibt Freudenstunden, um unser kaltes Herz zu erwärmen, er schickt Trübsalstage, um unsern Hochmut zu brechen, er lenkt die Schritte unseres Lebens so wunderbar und heilsam, daß es uns vorkommt, als wären wir der Mittelpunkt seiner gnädigen Führung und seines allmächtigen Regimentes.
Das aber ist die Herrlichkeit seiner göttlichen Liebe, daß er jedem einzelnen Sünder ohne Ermüden nachgeht, als wären die Hunderte von Gerechten gar nicht da, und daß es der begnadigten Seele erscheint, als wäre die ganze Erlösung für sie allein geschehen. Und doch gehen so viele Menschen dahin und wissen nichts von der Gnade, die ihnen in Christo Jesu angeboten wird. Sie gehören zu denen, die da sagen: „Ich bin reich und habe gar satt und bedarf nichts“, und die doch nicht wissen, daß sie „sind elend, jämmerlich, arm, blind und bloß“; sie sind die Frommen, zu denen der Herr nicht gekommen ist, die Gesunden und Starken, die des Arztes nicht bedürfen, die Gerechten, für die kein Sündentilger und Heiland da ist, denn der Herr sprach: : „Ich bin gekommen, die Sünder zur Buße zu rufen und nicht die Gerechten“. Darum also gibt es so viele taube Ohren und tote Herzen, die die Stimme des Evangeliums nicht hören und das Heil nicht annehmen, weil es so viel eingebildete Fromme, so viel vermeintliche Gesunde und Gerechte gibt.
Wer an Christo Teil haben will, der muß freilich von seiner stolzen Tugendhöhe herabsteigen und bei Jesu Heil und Vergebung suchen. Das aber lernen wir, wenn wir zwei Bücher vor uns aufschlagen und sorgfältig mit einander vergleichen, das Buch der Schrift und das Buch des eigenen Lebens. In unserem Lebensbuche ist kein Blatt rein, keines ohne Tadel und auf nicht wenigen Blättern stehen gar arge Sünden wider Gottes Gebot verzeichnet. Nur einige seltene Blätter sehen klarer aus: das Blatt, worauf unsere Taufe geschrieben steht, wo wir unser Confirmationsgelübde* abgelegt, oder das heilige Sacrament des Leibes und Blutes Christi empfangen haben. Doch ob auch Blatt für Blatt befleckt und voller Makel ist, Christus reinigt es und zeichnet darauf seine Gerechtigkeit. Ist das geschehen, dann sind wir Gottes Kinder, dann können wir fröhlich sagen:
Ich habe nun den Grund gefunden,
Der meinen Anker ewig hält:
Wo anders, als in Jesu Wunden?
Da lag er vor der Zeit der Welt.
Den Grund, der unbeweglich steht,
Wenn Erd‘ und Himmel untergeht.
(Christian Wilhelm Spieker: Christliche Morgenandachten)
Liedvers von Johann Andreas Rothe)
Quelle: Glaubensstimme – Die Archive der Väter
* Anm. des Bearb.:
Kindertaufe und Konfirmationsgelübde können ohne biblische Buße und Glauben nicht erretten. Julius Dammann, selbst evangelischer Pastor, schreibt dazu:
„Ich glaube nicht, daß die Kindertaufe die Wiedergeburt ist; dagegen streitet die allgemeine Erfahrung, denn das wird keiner behaupten, daß alle Getauften wiedergeborene Christen sind…“
„So bleibt es denn leider die gewöhnliche Ordnung, daß der in dem Menschen schlummernde Keim des göttlichen Lebens durch Buße und Glauben geweckt und auf diese Weise eine neue Kreatur wird.“