Akten zur neuesten Kirchengeschichte (1)

Vorwort

Diese Blätter sind, sagt man mir, nicht für Viele. Mag sein; dann also für Wenige.

Hoffentlich für Solche, welche an der Grundlegung für selbständigen Neubau der evangelischen Kirche in Deutschland arbeitend, an Denen ihre Freude haben, die in dieser Arbeit verkannt oder mißachtet, felsenfest in Treue entschlafen sind.

Diesen stillen Arbeiten und dieser hohen Treue in meinem Alter noch dienen zu dürfen, werde ich immer für die höchste Ehre halten, die Gott mir verlieh.

Breslau, Juli 1890.

R.[udolf] Rocholl.


Am Namen Eichhorn hängt ein Stück deutscher Kirchengeschichte. Und zwar ein wichtiges. In der Reformation sind Gedanken niedergelegt, die in Deutschland wenigstens erst nach dreihundert Jahren zur Ausgestaltung gelangen konnten. Es geschah, als man die Union, die Vereinigung der evangelischen (also lutherischen) mit der reformirten Kirche in Preußen und Baden einführte. Getreu den hergebrachten Anschauungen über das Recht der Fürsten in den Landeskirchen war gehandelt worden. Getreu dem Wort und Bekenntniß der Kirche ward pietätsvoll, aber unerbittlich Widerstand geleistet. Es gehörten harte Köpfe zum Durchbruch des Gedankens der Freiheit der Kirche zur Bewahrung ihres Bekenntnisses. Es gehörten Gefängnisse dazu. In Preußen war’s Kellner, der sich Allen voran mit dieser glücklichen Hartköpfigkeit zu rechter Zeit versehen zeigte, – in Baden: Eichhorn.

Wer war Eichhorn? Hören wir zunächst Kahnis. In seinem trefflichen Sendschreiben an Nitsch von 1854 sagt er:

„Ich habe einen Freund, dessen Name Ihnen vielleicht genannt worden ist. Er heißt Eichhorn und war früher Pastor in Nußloch in Baden. Der Mann könnte ruhige Tage haben, wenn er unirt wäre. Aber er ist ein Lutheraner. Nun ist es wahr, daß die badische Verfassungsurkunde ihm das Recht einräumt, lutherisch zu denken, und die badische Unionsurkunde das Recht, sich für einen Lutheraner zu halten. Eichhorn aber will ein Lutheraner sein. Er hält dafür, daß ein Lutheraner, was er denkt, auch bekennen müsse, und daß das lutherische Bekenntniß eine Gemeinschaft dieses Bekenntnisses fordere, eine lutherische Kirche. Man sagt, daß eine lutherische Kirche vor der Union zu Recht bestanden habe. Wie wenig berechtigt aber solche alte Erinnerungen sind, wenn einmal die Sonne der Union aufgegangen, darf ich Ihnen nicht sagen. Auch will Eichhorn dieß Recht nicht beanspruchen, sondern nur als Lutheraner existiren. Die badische Regierung sagt aber: Non licet esse vos. Und sie hat alle Mittel ergriffen, um ihm dieß fühlbar zu machen. Wie ich eben vernehme, hat Eichhorn seit vierzehn Tagen wieder Arrest.“

Hier haben wir den Prolog für das Folgende. Nun lassen wir Eichhorn selbst erzählen. Ich schicke nur voraus, daß er am 11. Juli 1810 im Pfarrhaus zu Kembach an der badisch-bayrischen Grenze geboren war, den Vater früh verlor, bei seinem Oheim mütterlicherseits, dem bayrischen Consistorialrath Burkhard, spartanisch streng und einfach erzogen wurde. Nun lassen wir ihn selbst zu Wort kommen:

„Meine Studienzeit, 1829-1832, fiel in die dürre Zeit des herrschenden Rationalismus, der ganz besonders in den beiden Universitäten, auf denen ich studierte, in Halle und Heidelberg, vertreten war; ich nenne von meinen Lehrern auf jenen beiden Hochschulen nur die Namen Wegscheider und Gesenius in Halle und Paulus in Heidelberg. Ich ergab mich bei dem Beginn meiner Studien um so unbedenklicher dieser theologischen Richtung, da auch auf dem Gymnasium, auf welchem ich absolvirte, der Unterricht in der Religion ganz in den Händen eines rationalistischen Geistlichen lag. Das Gymnasium zu Wertheim am Main verließ ich mit gutem Abgangszeugniß Ostern 1829, und begann sofort meine theologischen Studien in Halle. Ich erkenne aber als besonderen Beweis göttlicher Barmherzigkeit, daß ich in der Hälfte meiner Studienzeit durch Seine besondere Führung mit Tholuck in Halle bekannt wurde. Durch seine Vorlesungen über die beiden Corintherbriefe im Sommer 1831 wurde mir der Rationalismus schon etwas anrüchig, wiewohl sein Einfluß im Herzen noch lange nicht gebrochen war. Das gänzliche sündliche Verderben unsrer menschlichen Natur wollte ich noch nicht erkennen, und doch war der Wandel noch lange nicht der Richtschnur des evangelischen Gesetzes conform. Doch war wenigstens dieses in mir erreicht, daß ich in Heidelberg, wohin ich im Herbst 1831 kam, von den Vorlesungen des Professors Paulus mich zurückzog, indem mich seine Erklärung der Wunder des Herrn mit Entsetzen erfüllte, und mich denjenigen der Professoren (Daub, Schwarz und Umbreit), welche sich positiv oder doch wenigstens dem Positiven nicht abgeneigt erklärten, zuwendete.

Im Jahre 1832 verließ ich die Hochschule Heidelberg und meldete mich zum theologischen Staatsexamen, wie man damals in Baden die nur einmalige theologische Prüfung nannte. Ich wurde einberufen auf den November 1832. Das Examen, welches von den Kirchenräthen, den Mitgliedern des Kirchenregiments in Carlsruhe abgehalten wurde, währte volle acht Tage. Ich erinnere mich noch, daß ich mich in der dogmatischen Prüfung entschieden für das stellvertretende Ve söhnungsleiden Jesu aussprach und von den Examinatoren nicht zurechtgewiesen wurde, obgleich sie völlig anderer Ansicht waren und vor dem Pietismus warnten. Auch erinnere ich mich noch wohl, daß ich aus Veranlassung einer bezüglichen schriftlichen Beantwortung energisch für die kirchliche Union mich erklärte.“

Also ein gut unirter Theologe.

Er wurde, fahren wir an seiner Stelle fort, in der Stadtkirche zu Wertheim ordinirt, und wurde Hülfsprediger zu Hilsbach.

Vielleicht durch die Verbindung, in welcher sein Oheim, der preußische Cultusminister Eichhorn, mit dem Fürsten Löwenstein=Wertheim stand, erhielt der junge Hülfsprediger dann rasch die gute Stelle Bofsheim. Hier wurde er durch die Conferenzen mit benachbarten Geistlichen lutherisch gerichtet.  „Aber, ein Lutheraner ohne Buße und Leid, wie Löhe sagt“, setzt er selbst hinzu.

Das Jahr 1839 war für ihn von großer Bedeutung Die Pfarrfrau trat ins Haus, und mit ihr eine Gehülfin der seltensten Art. Der Vater, Buchhändler Samuel Gottlieb Liesching in Stuttgart, war ein bedeutender Mann. Seine Verbindungen reichten nach vielen Seiten. Mit Löhe stand er in innigem Verkehr. So war sein Haus ein geistig hochstehendes. Aus ihm nahm die Tochter hohen Sinn bei tiefer Demuth mit sich und bewährte beide.

Das Haus war bestellt. Amtliche Beförderung blieb nicht aus. Es wurde Eichhorn, so jung er war, die Pfarrstelle Nußloch bei Heidelberg übertragen.

Sie war durch die Nähe Heidelbergs in mehr als einer Beziehung angenehm. Der Verkehr mit gebildeten Männern zog hinein, und zahlreich kamen die Studenten zu den Predigten Eichhorns, der im April 1847 hier einzog, heraus.

In Nußloch wirkte Eichhorn in großer Treue. Daneben gab er mit Pfarrer Schiller ein Volksblatt heraus. Er stand in Segen und Achtung.

Dieses mußte ihm auch Pfarrer Holzmann in Heidelberg lassen. „Er ist“ – sagte er in einem Aufsatz der Allgemeinen Kirchenzeitung damals – „für einen der tüchtigsten evangelischen Geistlichen gehalten worden. Er hat durch Gründung der Kleinkinderschule in Nußloch ein bleibendes Denkmal seiner segensreichen Wirksamkeit daselbst gelassen. Er war einer der ersten, welche in den schreckhaften sechs Wochen, in welchen die Willkür über uns herrschte, um seiner bekannten Treue willen hier in Heidelberg in’s Gefängniß gesetzt wurde, und er blieb darin, bis der Einzug der preußischen Truppen ihn daraus befreite.“

So war’s allerdings. In Baden herrschte 1848 offene Anarchie. Die Obrigkeit war verjagt. Eichhorn legte auf seiner Kanzel zu Nußloch unerschrocken predigend die Lehre vom göttlichen Recht der Obrigkeit aus. Er bewahrte seinem vertriebenen Großherzog die Treue.

Statt der Studenten kamen nun die Revolutionshelden mit Heckerhüten von Heidelberg heraus. Am 30. Mai drangen sie in’s Pfarrhaus. Man schleppte den unerschrockenen Prediger im Namen der provisorischen Regierung nach Heidelberg ins Gefängniß. Es war ein alter Befestigungsthurm, das „Mannheimer Thor“, in welchem Eichhorn nun saß.

Vor mir liegt ein Brief Löhe’s an ihn. „Ich gehe, obwohl ein Schwerfälliger“, so schreibt Löhe am 27 Mai 1851 – „mit Ihnen durchs Land, mit Ihnen in’s Gefängniß, in den der Welt unbekannten Ort der Freuden; ich fühle die Wehmuth, welche solchem Leiden beigefügt ist, aber auch die mächtige Zufriedenheit, welche Ihnen, bei aller erkannten und unerkannten Schwachheit, in die Seele grüßt. Ich gratulire Ihnen zu der Ehre der Schmach und zu dem bittersten Tropfen davon, daß Sie, der treueste Unterthan Ihres Landesherrn, sich mußten behandeln lassen, wie wenn Sie ein Kind von 1848 und 49 wären.“

Aber es begannen für Eichhorn schwerere Kämpfe. In Baden waren durch die Unionsurkunde von 1821 lutherische und reformirte Kirche ein „wohl und innig vereintes Ganzes“ geworden. Für dieses „Ganze“ ging Eichhorn immer mehr das Verständniß auf. Die Leipziger lutherische Conferenz vom August 1848 förderte wesentlich. Hier traf er Huschke, Besser, Wedemann, Wermelskirch. Hier fand er auch den alten Freund Pastor Pistorius wieder. Die in Deutschland freudig und kräftig sich erhebende confessionelle Richtung flang in ihm an. Und mehr als dieses.

Seine Bedenken hinsichtlich der Union theilte er der Behörde in Carlsruhe offen mit. Man schwieg und ließ ihn im Amt.

Aber seine Unruhe wuchs mehr und mehr. Im Gefängniß hatten sich die Bedenken gehäuft, ob er als ehrlicher Mann innerhalb dieser Union amtiren könne. Der Gedanke an Austritt drängte sich immer deutlicher auf. Doch die Entscheidung war schwer.

Es war im Oktober 1850, als Pfarrer Löhe ins Pfarrhaus zu Nußloch trat. Er war auf einer Reise und kam von Heidelberg her. Es bahnte sich eine persönliche Verbindung an, welche bleibend wurde. Löhe kam, wie er später erzählte (Deinzer, Lebensbild II.), gerade recht, um Eichhorn’s letzte Bedenken in Beziehung auf seinen Austritt zu beseitigen.

Am 3. November 1850 zeigte Eichhorn der Gemeinde im Gottesdienst seinen Rücktritt zur lutherischen Kirche an. „Liebe Gemeindeglieder“, sagte er, „ich will Euch nicht verlassen, ich will nur die falsche Kirche, die Union, verlassen. Ich möchte ja Euch Alle, Alle mit hinübernehmen. –  Ich aber kann nicht bleiben, denn ich habe auch ein Gewissen; mit einem bösen Gewissen kann ich Euch nicht weiden.“ (Ein Wort der Verständigung“, S. 27)

„Ich erkannte wohl“ – lesen wir in einem handschriftlichen geschichtlichen Abriß – „was ich verlassen mußte, ich wußte, was ich zunächst zu erwarten hatte, – ich sah klar voraus, daß zunächst niemand mit mir gehen oder mir folgen werde. – Der Ernst der Zeit, welcher tiefe Blicke eröffnete in die richtende Majestät Gottes, vor welcher falsche Stellungen nicht bestehen können, brachte meinen Entschluß zur Reife.“

Der Schritt war geschehen.  „Nun ist doch“, – schrieb Löhe – „Ihr Ja ein Ja und nicht zugleich ein Nein, wie bei den Unirten, und die Posaune giebt einen deutlichen und klaren Klang. Nun sind Sie ein Diener Dessen, der treu und wahrhaftig heißt, und die größte Ehre eines Mannes, seiner Ueberzeugung völlig zu leben, ist auf Ihrem Haupte. Wenn Sie nun predigen, so heißt es: Ich glaube darum rede ich. Kurz, ich freue mich und bin gewiß, daß auch im Himmel Freude darüber ist, daß wieder einmal die Wahrheit gestählt hat, Alles zu verleugnen, und daß das Verhältniß zum König der Wahrheit die Fesseln aller anderen Verhältnisse zerbrach.“

Eichhorn rüstete sich, außer Landes zu gehen. Es kam eine Anfrage, ob er die Pfarrstelle in Wernigerode annehme? Dr.  B e s s e r  schrieb und wünschte, daß er nach Wollin in Pommern gehe.

Da erfolgten unerwartet Austritte nicht weit von Freiburg, in Ihringen am Kaiserstuhl. Dann folgten solche in und um Bretten und Söllingen bei Durlach. Ispringen folgte später. Uebergehen wir das Genauere. Aber wahrhaft ergreifend war der Freudentag von Lindelbach.

Hier saß in größter Abgeschiedenheit eine Anzahl Stiller im Lande. Sie hatten sich nie der Union gefügt. Sie hatten seit Einführung derselben nie am Abendmahl Theil genommen. Sie hatten sich in heiliger Furcht, von der Kirche der Väter abgeführt zu werden, streng enthalten. Sie meinten, sie würden ohne das Altarsakrament sterben müssen, da lutherische Hirten nicht mehr vorhanden. Da kam ihnen die Botschaft, es sei noch einer da. Und da kam Eichhorn und spendete und sah ihre Freudenthränen. Der Kampf entbrannte. Auf Schritt und Tritt folgten Eichhorn Späher und Gensdarmen*.

*) Das Wort „Gendarmen“ für Angehörige einer Polizeieinheit entstammt über „Gensdarmes“ dem französischen gens d’armes und bedeutet wörtlich „Leute unter Waffen“. Bis ins 20. Jahrhundert hinein verwendete man vielfach diese Schreibweise.

weiter…

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Quelle: Karl Eichhorn, Akten zur neuesten Kirchengeschichte, hrsg. v. Rudolf Rocholl. Leipzig, Verlag von Justus Naumann, 1890. [Digitalisat]

Eingestellt am 28. Oktober 2023 – Letzte Überarbeitug am 29. Oktober 2023