Lukas 22, 44: Des Heilandes Seelenangst in Gethsemane

«Und es kam, daß Er mit dem Tode rang, und betete heftiger. Es ward aber sein Schweiß wie Blutstropfen, die fielen auf die Erde» (Lukas 22, 44)

Nachdem der Herr mit seinen Jüngern das Passahmahl genossen und das Abendmahl eingesetzt hatte, ging Er mit ihnen nach dem Ölberg und in den an demselben gelegenen Garten Gethsemane. Was veranlaßte Ihn, diesen Ort zum Schauplatz seines furchtbaren Seelenkampfes auszuersehen?

Dürfen wir nicht aus dieser Wahl den Schluß ziehen, daß, wie in einem Garten Adams Sündenfall das Verderben in die Menschheit gebracht, so in einem andren Garten der Kampf und die Angst des zweiten Adam uns wieder aufrichten sollte? In Gethsemane ist die Arznei für die Krankheiten bereitet, welche dem Essen von der verbotenen Frucht folgten. Keine Blume, die je an den Ufern der vier Ströme Edens geblüht hat, ist für unser Geschlecht so köstlich, wie die bittern Kräuter, welche ganz in der Nähe des Baches Kidron, des «Düstern», wuchsen.

Mag nicht auch unser Herr an David gedacht haben, von dem es heißt, daß er, als er vor seinem aufrührerischen Sohne fliehen mußte, über den Bach Kidron ging, und daß er und seine Leute mit verhülltem Haupte, barfuß, weinend über denselben gingen? Seht, der größere David verläßt den Tempel, um in die Einsamkeit zu gehen; Er verläßt die Stadt, welche seine Warnungen verachtet hatte, und überschreitet betrübten Herzens den düstern Bach, um in der Zurückgezogenheit Trost für sein tiefes Weh zu suchen. Unser Herr Jesus hat überdies uns darauf hinweisen wollen, daß unsre Sünde alles um Ihn her in Traurigkeit verwandelt, seinen Reichtum in Armut, seinen Frieden in Kampf, seine Herrlichkeit in Schande und so den Ort seiner friedlichen Zurückgezogenheit, wo Er in heiliger Andacht im Umgang mit Gott dem Himmel am nächsten gewesen war, in den
Mittelpunkt seines bittersten Leidens verwandelt hat. An dem Orte, wo Er die süßesten Freuden genossen hatte, muß Er am meisten leiden. Unser Herr mag auch deshalb den Garten gewählt haben, weil Er zu seinem Beistande in dem bevorstehenden Kampfe jeder Erinnerung bedurfte, um sich eingedenk der früher hier so ruhig verlebten Stunden zu erfrischen. Hier hatte Er gebetet, hier hatte Er Kraft und Trost empfangen. Jene knorrigen, verschlungenen Olivenbäume kannten Ihn gar wohl; in diesem Garten war kaum ein Grashalm, auf welchem Er nicht gekniet hatte.

Er hatte denselben der Gemeinschaft mit Gott geweiht. Ist es nach allem denn ein Wunder, daß Er diesen begünstigten Boden vorzog? Gerade so, wie ein Kranker am liebsten in seinem eignen Bett liegt, so wollte der Herr Jesus am liebsten in seinem eignen Bethaus seinen Seelenkampf durchmachen, wo Erinnerungen an seinen früheren Verkehr mit seinem Vater Ihm lebhaft vor die Seele treten mußten. Indes war die Hauptursache für dieses sein Sich-Zurückziehen nach Gethsemane die, daß es sein bekannter Erholungsort war, denn wie Johannes uns erzählt, «wußte Judas, der Ihn verriet, den Ort auch». Unser Herr beabsichtigte nicht, sich zu verbergen; bei Ihm tat es nicht not, Ihn wie einen Dieb zu verfolgen oder durch Spione seinen Aufenthaltsort auszukundschaften. Er begab sich furchtlos an den Ort, von welchem seine Feinde wußten, daß Er dort zu beten pflegte; war
Er doch willig, in Leiden und Tod zu gehen. Er wurde nicht wider seinen Willen vor den Rat und in Pilatus‘ Richthaus geschleppt, sondern ging widerstandslos. Als die Stunde gekommen war, in welcher Er verraten werden sollte, war Er an einem Orte, an welchem der Verräter Ihn leicht finden konnte; als Judas Ihn mit einem Kuß verraten wollte, war Er zum Empfang der verräterischen Begrüßung bereit. Unsres hochgelobten Heilandes Freude war es, den Willen Gottes zu tun, ob auch Gehorsam bis zum Tode darin eingeschlossen sein mochte.

Wir sind also an das Tor des Gartens Gethsemane gekommen; laßt uns jetzt eintreten. Aber zuerst laßt uns «die Schuhe aus von unsren Füßen ziehen», wie Moses (2. Mose 3, 5) tat, als er sah, wie der Busch mit Feuer brannte, ohne daß er verzehrt wurde. Wahrlich, hier müssen wir mit Jakob ausrufen: «Wie heilig ist diese Stätte!»

Der Gebetsort Jesu im Garten Gethsemane

Ich zittre bei der mir obliegenden Aufgabe, denn wie sollen meine schwachen Worte die Angst beschreiben, für welche selbst starkes Geschrei mit Tränen kaum ein genügender Ausdruck war! Ich möchte mit euch das Leiden unsres Erlösers betrachten, aber o, möge der Geist Gottes verhüten, daß wir irgendetwas für verkehrt halten, oder unsre Zunge bewahren, daß wir auch nicht ein Wort äußern, das entehrend für Ihn sein würde entweder nach seiner makellosen Menschheit, oder nach seiner glorreichen Gottheit! Es ist beim Reden über einen, der beides, Gott und Mensch ist, nicht leicht, genau die Linie inne zu halten, die göttliche Seite in solcher Weise zu beschreiben, welche entweder die menschliche Seite beeinträchtigen oder auf Kosten der göttlichen Natur die menschliche hervorheben möchte. Verargt es mir nicht, wenn ich in irgendeinem Worte irren sollte. Einem Menschenkinde tut not, entweder selbst erleuchtet zu sein, oder sich auf die Worte der Heiligen Schrift selbst zu beschränken, um zu allen Zeiten geziemend über das große «göttliche Geheimnis» reden zu können, daß «Gott geoffenbaret ist im Fleisch» (2. Tim. 3, 16), hauptsächlich wenn er darauf angewiesen ist, besonders dabei stehen zu bleiben, daß
Gott so geoffenbaret ist im leidenden Fleisch, daß die schwächsten Spuren der Menschheit am offenbarsten sind. O Herr, öffne Du meine Lippen, daß meine Zunge die rechten Worte äußern möge!

Bei der Betrachtung der Angstszene in Gethsemane finden wir uns genötigt, zu bemerken, daß unser Heiland dort einen Schmerz, eine Angst durchmachte, die bis dahin etwas Unbekanntes bei Ihm gewesen war. Wir wollen deshalb unsre Rede beginnen mit der Frage: Was war die Ursache dieser seiner besondern Traurigkeit und Angst in Gethsemane? – Unser Herr war sein ganzes Leben lang der Mann der Schmerzen, und doch, obgleich es seltsam klingen mag, möchte ich behaupten, daß es wohl kaum auf Erden einen glücklicheren Menschen gegeben hat, als Jesus von Nazareth. Hatten doch die Schmerzen, die Er zu erdulden hatte, an dem Frieden der Reinheit, der Ruhe, der Gemeinschaft mit Gott und der Freude am Wohltun ein Gegengewicht. Daß Letzteres gar süß ist, ist jedem liebenden Herzen bekannt, ja, daß es um so süßer ist im Verhältnis zu der Mühe, welcher man sich zum Hinausführen seiner Liebesabsichten freiwillig unterzieht. Wohltun ist immer eine Freude, möge es kosten, was es wolle. Überdies war Jesus zu allen Zeiten in vollkommenem Frieden mit Gott. Wir wissen, daß dies der Fall war, denn Er sah diesen Frieden als das auserwählteste Vermächtnis an, das Er den Seinen hinterlassen konnte, und sprach kurz vor seinem Tode die Worte: «Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch» (Johannes 14, 27). Er war sanftmütig und von Herzen demütig, deshalb hatte seine Seele Ruhe; von Ihm gilt das Wort, das von den Sanftmütigen gesagt wird: «Sie werden das Erdreich besitzen.» Er gehörte zu den Friedfertigen, den Friedenstiftern, die gesegnet sind und es sein müssen. Ich glaube nicht, daß ich mich irre, wenn ich sage, daß unser Herr weit davon entfernt war, ein unglücklicher Mensch zu sein. Aber in Gethsemane scheint alles verändert; sein Friede ist dahin, seine Ruhe ist zu einem Sturm geworden. Nach dem Abendessen hatte Er einen Lobgesang mit seinen Jüngern gesprochen oder gesungen, aber in Gethsemane gab es keinen Gesang. Den steilen Weg entlang, der von Jerusalem nach dem Bache Kidron führt, redete Er sehr freudig, indem Er mit den Worten anfing: «Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben», und seine Rede mit dem Gebete voller Majestät schloß, in dessen Schlußworten es heißt: «Vater, ich will, daß, wo ich bin, auch die bei mir seien, die Du mir gegeben hast» (Johannes 17,24). Wie verschieden von seinem Gebet in Gethsemane, wo Er betete: «Mein Vater, ist es nicht möglich, daß dieser Kelch von mir gehe!»

Beachtet es, daß Er sein ganzes Leben lang kaum einen Schmerzensausdruck geäußert hat, und hier spricht Er nicht nur durch seine Seufzer und seinen Blutschweiß, sondern auch in vielen Worten es aus: «Meine Seele ist betrübt bis an den Tod.» Im Garten vermochte der Dulder nicht seine Angst zu verbergen und wünschte es anscheinend auch nicht. Dreimal ging Er hin und zurück zu seinen Jüngern; Er ließ sie seine Traurigkeit sehen und nahm ihre Teilnahme in Anspruch. Seine Ausrufe waren sehr klagend, sein Seufzen und Stöhnen war ohne Zweifel schrecklich anzuhören. Seine Angst offenbarte sich vor allem durch seinen Blutschweiß, eine sehr ungewöhnliche Erscheinung. Der alte Arzt Galen führt ein Beispiel an, demgemäß eine Person durch einen plötzlichen großen Schrecken einen Schweiß vergoß, der rot ausgesehen, als ob er Blut gewesen wäre. Auch andre medizinische Autoritäten haben von ähnlichen Fällen berichtet.

Es ist uns aber bei keiner einzigen vorangegangenen Gelegenheit im Leben des Herrn Ähnliches angedeutet. Nur in dem letzten furchtbaren Kampfe unter den Ölbäumen, als der große Held den Kampf wider die Sünde kämpfte, wurde sein Schweiß zu Blut. Was ist es, o Herr, das Dich gerade dann so sehr ängstigte? Es ist klar, daß seine tiefe Traurigkeit und seine Seelenangst nicht durch Körperschmerzen veranlaßt wurden. Unser Heiland war ohne Zweifel mit Körperschwäche und Schmerz vertraut gewesen, denn «Er nahm auf sich unsre Krankheit», Er hatte aber vordem nie über körperliche Leiden geklagt. Als Er in Gethsemane ging, war Er nicht durch irgendwelchen Verlust in Trauer versetzt worden. Er hatte zwar geweint, als Lazarus gestorben war, aber hier war weder ein Leichenbegängnis noch ein Krankenbett oder eine derartige besondere Veranlassung zur Traurigkeit. Ebensowenig war es eine erwachte Erinnerung an irgendwelche Beschuldigung, die bis dahin in seinem Gemüte brach gelegen hatte. Hatte Er doch schon lange vorher ungerechte Beschuldigungen und Spott zu tragen gehabt. Man hatte Ihn einen «Fresser und Weinsäufer» genannt (Matthäus 11, 19), man hatte Ihm vorgeworfen, Er treibe die Teufel aus durch den Obersten der Teufel. Was mehr hätten sie noch sagen können. Und doch hatte Er alles tapfer getragen; es wäre also nicht möglich gewesen, daß Er aus solcher Ursache betrübt bis an den Tod hätte sein können. Es muß ein Etwas da gewesen sein, schärfer als Schmerz, schneidender als Beschuldigungen, schrecklicher als Verluste, ein Etwas, was zu dieser Zeit den Heiland überfiel und Ihn tiefbetrübt machte.

Meint ihr, daß es Furcht vor dem zu erwartenden Spott oder vor den Schrecken der Kreuzigung war? War es Entsetzen durch Gedanken an den Tod? Aber wäre das nicht etwas Unmögliches? Jedem Menschen graut freilich vor dem Tode, und als Mensch kannte ja auch der Herr Jesus dieses Grauen. Sind wir doch ursprünglich zur Unsterblichkeit erschaffen, deshalb ist das Sterben uns etwas Fremdartiges – aber bei dem Herrn hätte doch diese natürliche Ursache nicht so außerordentlich schmerzliche Folgen hervorrufen können. Todesgedanken lassen nicht einmal so arme Feiglinge, wie wir es sind, Blutschweiß schwitzen – wie hätten sie denn Ihm solche Angst verursachen können! Es ist entehrend für unsren Herrn, wenn wir uns Ihn weniger mutig denken, als seine Jünger es sind – und doch, haben wir nicht gesehen, wie hier und da eins der Schwächsten unter den Seinen triumphierend in den Tod gegangen? Lest nur die Geschichte der Märtyrer,
und ihr werdet nicht selten finden, daß sie angesichts der nahenden grausamsten Qualen gejubelt und frohlockt haben. Die Freude im Herrn hat ihnen so viel Kraft geschenkt, daß kein feiger Gedanke sie auch nur für einen Augenblick erschreckt hat, sie sind vielmehr mit Siegespsalmen auf den Lippen nach dem Scheiterhaufen oder aufs Schafott gegangen. Wir dürfen also nicht an unsren Herrn denken, als ob seine Diener Ihm überlegen gewesen wären; es wäre unmöglich, daß Er hätte zittern können, wo sie mutig waren. O nein; der edelste Geist jener Märtyrerschar ist der Führer selbst, der an Leiden und Heldenmut alle übertraf. Keiner hätte so den Schrecken des Todes widerstehen können wie der Herr Jesus, «der, da Er wohl Freude hätte haben können, das Kreuz erduldete, und achtete der Schande nicht» (Hebräer 12, 2).

Ich kann auch nicht einsehen, daß die Seelenangst des Heilandes in Gethsemane einem außerordentlichen Angriff des Satans zuzuschreiben ist. Der Teufel mag ja da gewesen sein und durch seine Anwesenheit den Schatten verdunkelt haben, er war aber doch nicht die hervorragendste Ursache von jener Stunde der Finsternis. So viel ist ja klar, daß der Herr vor dem Anfang seines Lehramts in einem ernsten Zweikampf mit dem Fürsten der Finsternis verwickelt war, und doch wird uns mit keiner einzigen Silbe angedeutet, daß bei der Versuchung in der Wüste die Seele des Herrn betrübt, ja, betrübt bis an den Tod war, ebensowenig lesen wir etwas, was einem Blutschweiß schwitzen ähnlich ist. Als der Herr der Engel sich herabließ, um dem Fürsten der Mächte in der Luft gegenüberzustehen, hatte Er nicht solche Angst vor ihm, daß sie Ihn zu starkem Geschrei und Tränen veranlaßte, oder daß Er mit dreimaligem Gebet auf sein Angesicht niederfiel. Den Fuß auf die alte Schlange zu setzen, war verhältnismäßig für Christus eine leichte Aufgabe,
die Ihm nur eine verwundete Ferse kostete, hingegen die Seelenangst in Gethsemane verwundete seine innerste Seele bis an den Tod.

Was ist es denn, wodurch sich so besonders Gethsemane mit den dort durchgemachten Leiden des Heilandes auszeichnet? Wir glauben, daß der Vater Ihn hier an unsrer Statt leiden und trauern ließ. Hier hatte unser Mittler und Stellvertreter einen gewissen Kelch aus der Hand des Vaters zu trinken. Nicht von den Juden, nicht von dem Verräter Judas, nicht von den schlafenden Jüngern oder von dem Teufel kam jetzt der Leidenskelch, sondern es war ein Kelch, gefüllt von Dem, den Er als seinen Vater kannte, der aber ungeachtet dessen einen sehr bittern Trank für Ihn bestimmt hatte, einen Kelch, den Er nicht leiblich trinken und dessen Galle nicht in sein Fleisch dringen sollte, sondern einen Kelch, der besonders seine Seele ergriff und sein innerstes Herz beängstigte. Er bebte davor zurück. Ihr könnt deshalb überzeugt sein, daß es ein Trank war, schrecklicher als natürliche Schmerzen, denn vor diesen bebte Er nicht zurück. Es war ein Trank, schrecklicher als falsche Beschuldigungen – diese hatte Er ruhig hingenommen; schrecklicher, als jene Versuchung des Teufels – diese hatte Er überwunden; es war vielmehr etwas unbegreiflich Grauenhaftes, außerordentlich voll Schrecken, was von der Hand des Vaters Ihm kam. Dies nimmt allen Zweifel hinweg über das, was es gewesen sein mag. Lesen wir doch: «Der Herr wollte Ihn also zerschlagen mit Krankheit; wenn Er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat», (nach der englischen Übersetzung: «Als Er sein Leben zu einem Sündopfer machte»). «Der Herr warf unser aller Sünde auf Ihn» (Jesaja 53, 10.6). «Gott hat Den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht.» Dies ist es, was dem Heiland so außerordentliche Seelenangst bereitet hat. Er war nahe daran, den Tod für uns zu erdulden, den Fluch zu tragen, der den Sünder hätte treffen sollen, weil Er als Stellvertreter des Sünders dastand und an des Sünders Statt leiden und sterben
sollte. Hier ist das Geheimnis jener furchtbaren Angst des Heilandes. Es ist mir nicht möglich, sie weiter zu erklären; ist doch nur Gott, Gott allein alles voll und ganz bekannt, was Er gelitten hat. Und doch möchte ich eine Weile mit euch bei dem großen Dulder im Garten stehen bleiben, damit wir Ihn desto mehr lieben lernen. Vielleicht jetzt wurde es Ihm zum erstenmal voll und ganz klar, was es war, der Sündenträger zu sein.

William Holman Hunt: Der Sündenbock (Leviticus 16, 20b-22)

Als Gott war Er vollkommen heilig und nicht imstande, zu sündigen, als Mensch war Er ohne jegliche Sünde, fleckenlos rein – und doch hatte Er die Sünde zu tragen, mußte sich hinführen lassen wie der Sündenbock, dem die Missetaten Israels aufs Haupt gelegt waren, zum Sündopfer gemacht werden und als ein ekelhaftes Wesen (denn nichts war ekelhafter als das Sündopfer) aus dem Lager hinausgebracht werden, um sich völlig von dem Feuer des göttlichen Zorns verzehren zu lassen. Ist es denn ein Wunder, daß der Heiland in seiner fleckenlosen Reinheit davor zurückbebte? Hätte Er sein können, was Er war, wenn es Ihm nicht etwas Schreckliches gewesen wäre, in der Stellung eines Sünders vor Gott zu stehen? ja, wie Luther gesagt haben würde, von Gott angesehen zu werden, als ob Er alle Sünden begangen hätte, die je von seinem Volk begangen worden waren? Wurde doch alles auf Ihn gelegt; der Zorn Gottes, die Strafe, welche wir verdient hatten, lag auf Ihm; Er mußte der Zielpunkt alles göttlichen Zornes sein, mußte tragen, was die schuldigen Menschenkinder hätten tragen sollen. In einer solchen Stellung zu stehen, nachdem Er sich dieselbe verwirklicht hatte, muß wahrlich der heiligen Seele des Erlösers etwas Entsetzliches gewesen sein. Sein Auge war überdies fest auf das schreckliche Wesen der Sünde gerichtet. Die Sünde war Ihm zwar stets ein Greuel gewesen, aber jetzt waren seine Gedanken ganz davon erfüllt: Er sah ihre mehr als tödliche Natur, ihr teuflisches Wesen und ihr furchtbares Ziel. Wahrscheinlich hatte Er jetzt als Mensch, mehr als in früheren Zeiten, einen Blick von dem weiten Umfang und dem alles durchdringenden Übel der Sünde, ein Gefühl von ihrer schwarzen Finsternis und ihrer verzweifelten Schuld, indem sie ein direkter Angriff auf den Thron, ja, selbst auf das Wesen Gottes war. Er sah an seiner eignen Person, wie weit Sünder es bringen könnten, daß sie wie Judas ihren Herrn verrieten und wie die Juden Ihn ans Kreuz brachten. In der Ihm selbst widerfahrenen Grausamkeit und harten Behandlung erkannte Er den Haß des Menschen gegen Gott und wurde von Angst und Schrecken ergriffen bei dem Gedanken, daß Er solche Sünde zu tragen habe und solchen Übeltätern zugezählt, um solcher Missetat willen verwundet, um solcher Sünde willen zerschlagen werden müsse. Diese Schläge und Wunden an und für sich schmerzten Ihn nicht so, wie die Sünde selbst, deren Last seine Seele völlig überwältigte.

Ohne Zweifel hat der Heiland in Gethsemane sich auch die Strafe der Sünde voll und ganz
verwirklicht. Nachdem zunächst die Sünde der Menschen Ihn in die Lage eines leidenden Stellvertreters gebracht, trat Ihm die Strafe entgegen, die Er als solcher auf sich zu nehmen hatte. Mir ist in hohem Grade die Theologie zuwider, die heutzutage so allgemein ist, eine Theologie, welche versucht, die Leiden unsres Herrn zu unterschätzen und zu verringern. Brüder, es war kein geringes Leiden, welches der Gerechtigkeit Gottes als Versöhnungsopfer und Lösegeld für die Sünden der Welt gebracht werden mußte. Wenn ich von dem Leiden des Herrn zu reden habe, fürchte ich mich nie vor Übertreibung. Die ganze Hölle war in dem Leidenskelch gemischt, den unser Heiland Jesus Christus zu leeren hatte. Das Weh, das sich über seinen Geist verbreitete, der unergründliche Ozean der Angst, welcher seine Seele bestürmte, ist so unerforschlich, daß ich nicht wage, mich weit darin zu ergehen, um nicht die Beschuldigung auf mich zu ziehen, daß ich einen eitlen Versuch mache, Unergründliches zu erklären. Nur das möchte ich sagen, daß sogar der
Schaum von dieser furchtbaren, wogenden Tiefe den Heiland mit Blutschweiß taufte, als er auf Ihn fiel. Noch war Er nicht bis an die wütenden Wogen der Strafe selbst gekommen, aber schon als Er noch am Ufer stand und die furchtbare Brandung zu seinen Füßen erblickte, wurde seine Seele betrübt, betrübt bis an den Tod. Es war der Schatten des nahenden Unwetters, das Vorspiel zu der schrecklichen Verlassenheit, welche seiner wartete, als Er stand, wo wir hätten stehen sollen, um der Gerechtigkeit seines Vaters das Lösegeld zu bezahlen, welches von uns gefordert werden mußte. Das war es, was Ihn so herunterbrachte. Behandelt zu werden wie ein Sünder, geschlagen zu werden wie ein Sünder, obgleich in Ihm und an Ihm keine Sünde war – das war es, was Ihm die Seelenangst verursachte, von welcher unser Text redet.

Nachdem wir bei der Ursache der Seelenangst unsres Heilandes verweilt haben, wollen wir die Frage nach dem Wesen dieser Angst selbst zu beantworten suchen. Ich möchte euch so wenig wie möglich mit den griechischen Ausdrücken bemühen, derer die Evangelisten sich bedienen. Ich habe jedes einzelne Wort genau studiert, um einigermaßen den Sinn desselben zu erforschen, und es wird genügen, wenn ich euch die Resultate meiner Forschungen mitteile. Worin bestand die Traurigkeit, die Angst selbst? Die große Traurigkeit hatte etwa vier Tage zuvor ihren Anfang genommen. In Johannes 12, 27 lesen wir die merkwürdigen Worte: «Jetzt ist meine Seele betrübt.» Bis dahin haben wir Ihn nie eine derartige Äußerung aussprechen hören. War dies nicht ein Vorgeschmack
von der großen Niedergeschlagenheit, die Ihn bedrückte, als Er in Gethsemane sich auf die Erde niederwarf? «Und was soll ich sagen? Vater, hilf mir aus dieser Stunde! Doch darum bin ich in diese Stunde gekommen», heißt es weiter in dem soeben angeführten Verse. Später wird uns in Matthäus 26, 37 von Ihm gesagt: «Er fing an zu trauern und zu zagen.» Der Druck war wieder über Ihn gekommen. Es war kein körperlicher Schmerz, weder Herzklopfen noch Kopfschmerz –, o nein, es war etwas Schlimmeres. Druck des Geistes ist schwerer als Körperschmerz; letzterer mag wohl Traurigkeit verursachen, aber wie gut vermag man Schmerzen zu ertragen, wenn das Gemüt frei ist. Wenn die Seele durch innere Freude gestärkt und gehoben wird, kann sie so sehr die Oberhand über den Leib bekommen, daß die leiblichen Schmerzen darob fast vergessen werden. Andrerseits schaffen Seelenschmerzen auch körperliche; die niedrigere Natur kommt in Mitleidenschaft mit der höheren. Die Hauptleiden unsres Herrn betrafen seine Seele; sein Seelenleiden war die Seele seines Leidens. «Wer ein fröhliches Herz hat, der weiß sich in seinem Leiden zu halten; wenn aber der Mut liegt, wer kann es tragen?» (Sprüche 18, 14).

Seelenschmerz ist der schlimmste Schmerz, Herzenstraurigkeit ist eine gesteigerte Traurigkeit. Wer je sinkenden Mut, Verzagtheit und Trübseligkeit erfahren hat, wird die Wahrheit dieser Worte bestätigen. Diese Traurigkeit seines Herzens hatte anscheinend bei dem Herrn Jesus einen tiefen Geistesdruck zur Folge. Im 26. Kapitel des Matthäus im 37. Verse heißt es von Ihm, daß Er, wie es nach der englischen Übersetzung heißt, «sehr schwer» wurde. Dieses Wort hat eine so tiefe Bedeutung, daß es schwer zu erklären ist. Der Ausdruck ist überdies schwer aus dem griechischen Grundtext zu übersetzen. Es mag Geistesabwesenheit einen so vollständig von Traurigkeit und Angst eingenommenen Seelenzustand bezeichnen, der jeglichen lindernden Gedanken ausschließt. Ein brennender Gedanke verzehrte des heiligen Dulders Seele und verschlang alles, was Ihm Trost hätte bringen können. Während Er nicht den Erfolg seiner Leiden und seines Todes sah, war Ihm auf einige Au- genblicke auch die seiner wartenden Freude entschwunden. Seine Stellung als Sündenträger, das damit verbundene Verlassensein von seinem Vater, vergrößerte seine Beschauungen und vertrieb seine Seele von allem andren. Manche haben sogar die Worte als «außer Sinnen» übersetzt; was aber auch der Sinn derselben sein mag, so viel ist gewiß, daß die Seele des Heilandes von Erschütterungen ergriffen war, die gar verschieden sind von dem ruhigen, gefaßten Wesen, das uns sonst bei Ihm entgegentritt. Er wurde wie von den Wogen eines brausenden Trübsalsmeeres hin- und
hergeworfen und von der Wut derselben fortgerissen. «Wir hielten Ihn für Den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre» (Jesaja 53, 4). Wie der Psalmist sagt, hatten «große Farren Ihn umgeben; sein Herz war in seinem Leibe wie zerschmolzenes Wachs» (Psalm 22, 12.14). Er war sehr schwer, sehr verzagt. Manche meinen, der Sinn des Wortes im Grundtext sei: «getrennt von den Leuten», als ob Er andren Menschen unähnlich geworden wäre, wie einer, dessen Gemüt durch einen plötzlichen Schlag wankend geworden oder von einem großen Kummer gedrückt worden ist, so daß er nicht mehr ist wie gewöhnliche Menschen es sind. Bloße Zuschauer hätten
vielleicht unsren Herrn für außer Sinnen, für belastet über das gewöhnliche menschliche Maß, für durch einen unvergleichlichen Schmerz niedergedrückt gehalten. Der gelehrte Thomas Goodwin sagt: «Das Wort bezeichnet einen Mangel, ein Sinken des Geistes, wie es bei einer Krankheit oder einer Ohnmacht bei einem Menschen vorkommt. Die Krankheit des Epaphroditus» (Philipper 2, 27), durch welche er dem Tode nahe gebracht wurde, wird mit demselben Worte bezeichnet, woraus zu ersehen ist, daß die Seele Jesu krank und schwach war. Wurde nicht sein Schweiß durch Erschöpfung verursacht? Der kalte Todesschweiß kommt bei Sterbenden durch Ohnmacht des Leibes, aber der Blutschweiß Jesu kam durch die äußerste Ohnmacht und Gedrücktheit der Seele.

Er war in einer schrecklichen Seelenohnmacht und erlitt innerlich einen Tod, der nicht von wässerigen Tränen der Augen, sondern von blutigen Tränen von dem ganzen Menschen begleitet war. Manche von euch wissen in ihrem Maße davon, was es ist, schweren Herzens und verzagt zu sein, es bedarf also nicht der Erklärung, und wer es nicht aus persönlicher Erfahrung kennt, bei dem wären alle Erklärungen nutzlos. Wenn ihr von tiefer Niedergeschlagenheit befallen werdet, wenn ihr alles vergeßt, was euch stärken könnte und der Geist sinkt hinunter, immer tiefer hinunter, dann könnt ihr ein wenig nachfühlen, wie unsrem Herrn zu Mute war. Andre nennen euch töricht oder nervös und raten euch, euch aufzuraffen, sie haben aber keinen Begriff von eurem Zustande.
Wenn sie eine Ahnung davon hätten, würden sie euch nicht verspotten mit Ratschlägen, deren Befolgung denen unmöglich ist, die unter dem innern Weh fast versinken. Unser Herr war sehr schweren Herzens, sehr niedergeschlagen, überwältigt von Traurigkeit.

Markus berichtet uns in seinem 14. Kapitel im 33. Verse: «Er fing an zu zittern und zu zagen.» Nach dem griechischen Grundtext heißt es wörtlich: «Er war sehr erstaunt», so überrascht und erstaunt, daß sein Staunen zu einem so großen Entsetzen wurde, daß Er zitterte. Von Moses heißt es, daß er bei der Gesetzgebung sich so fürchtete, daß er sprach: «Ich bin erschrocken und zittere» (Hebräer 12, 21). Wie David sprach: «Ich fürchte mich vor Dir, daß mir die Haut schaudert, und entsetze mich vor Deinen Rechten» (Psalm 119, 120); so wurde unser Herr beim Anblick der Sünde, die auf Ihn gelegt wurde und der Strafe, die Er um derselben willen zu ertragen hatte, von Angst und Entsetzen ergriffen. Der Heiland war traurig, verzagt und schweren Herzens, dazu auch überrascht. Hatte Er doch sogar als Mensch kaum voraussehen können, was alles zu tragen Er auf sich genommen. Er hatte ja ruhig und gefaßt darauf gesehen mit dem Gefühl, daß Er es tragen wolle, was es auch sein mochte; als es aber wirklich zum Sündetragen kam, war Er ganz erstaunt und bebte zurück vor der schrecklichen Stellung, statt des Sünders vor Gott zu stehen, von dem heiligen Vater als Stellvertreter des Sünders angesehen zu werden, verlassen zu sein von dem Vater, mit dem Er von Ewigkeit her in innigster Einheit und Liebesgemeinschaft gelebt hatte. Kein Wunder, daß sein heiliges, zartes, liebendes Herz dadurch erschüttert wurde und daß Er erstaunt und sehr schweren Herzens war!

Wir sehen ferner aus dem 38. Verse des 26. Kapitels von Matthäus einen Ausdruck, aus
welchem hervorgeht, daß Er von einem Meer der Schmerzen umgeben und überwältigt war. In allem gewöhnlichen Kummer gibt es doch meistens wenigstens ein Schlupfloch zum Entfliehen, irgendwelchen Hoffnungsort. Gewöhnlich sind wir imstande, unsre trauernden Freunde daran zu erinnern, daß ihre Lage eine noch schlimmere sein könnte; aber die Lage unsres Herrn hätte keine denkbar schlimmere sein können. Konnte Er doch mit David sagen: «Stricke des Todes hatten mich umfangen, und Angst der Hölle hatte mich getroffen; ich kam in Jammer und Not» (Psalm 116, 3). Alle Wasserwogen und Wellen gingen über Ihn. Über Ihm, unter Ihm, um Ihn, von außen und von innen, war alles lauter Angst, ohne irgendwelche Erleichterung oder Quelle des Trostes.

Seine Jünger konnten Ihm keine Hilfe bieten – außer einem waren alle in Schlaf gefallen, und der eine, der wachte, war auf dem Wege, Ihn zu verraten. Unter der erdrückenden, zermalmenden, unerträglichen Last seines Jammers schrie sein Geist zu dem allmächtigen Gott. Kein Schmerz hätte weiter gehen können, als der seinige, und Er sprach: «Meine Seele ist betrübt, (genau übersetzt: außerordentlich betrübt, umgeben mit Traurigkeit) bis an den Tod.» Er starb zwar nicht im Garten, litt aber nicht minder, als wenn Er gestorben wäre. Er erlitt einen gewaltigen Tod, wenn auch nicht im ganzen Umfange. Es kam zwar nicht so weit, daß sein Leib eine Leiche wurde, Schmerz und Angst erstreckten sich aber so weit, als ob es geschehen wäre. Seine Angst ging bis an den Rand des Todes.

Ganz besonders redet noch der Evangelist Lukas von seinem Kampf und seiner Seelenangst. «Es kam, daß Er mit dem Tode rang und betete heftiger», heißt es in Lukas 22, 44. (Nach der englischen Übersetzung heißt es, daß der Herr in Seelenangst war, was einen Kampf, ein Ringen voraussetzt.) Mit wem rang Er denn? Nicht mit Gott. Hatte Er doch gebetet: «Nicht wie ich will, sondern wie Du willst!» Es war kein Ringen mit dem Teufel, denn wie wir schon gesehen haben, wäre Er nicht so sehr überrascht gewesen, wenn darin der Kampf bestanden hätte. Es war vielmehr ein schrecklicher Kampf mit sich selbst, eine Angst in seiner eignen Seele. Bedenkt, daß Er durch einen einzigen Entschluß seines Willens allen Leiden hätte entgehen können und daß es ganz natürlich war, wenn die Menschheit in Ihm sagte: «Trage sie nicht!» und die Reinigkeit seines
Herzens Ihm zurief: «O, trage es nicht, stehe nicht an der Stelle des Sünders!» Das zarte Gefühl seiner geheimnisvollen Natur bebte vor jeglicher Form der Berührung mit der Sünde zurück – und dennoch sprach die unendliche Liebe: «Trage es, erniedrige dich so tief!» Ist es denn ein Wunder, daß es zwischen den Eigenschaften seiner Seele zu einem heftigen innern Ringen kam?

Die Reinheit, welcher es unerträglich ist, in Berührung mit der Sünde zu kommen, muß eine sehr mächtige in Ihm gewesen sein, während seine Liebe, welche die Menschen nicht verloren gehen lassen konnte, nicht minder mächtig war. Es war ein Kampf, als wenn ein Herkules auf einen andren Herkules gestoßen hätte; in dem blutenden Herzen Jesu kämpften und rangen zwei gewaltige Mächte miteinander. Nichts bereitet einem Menschen mehr Qualen, als wenn er von sich widerstreitenden Gefühlen hin- und hergerissen wird. Wie ein Bürgerkrieg die schlimmste und grausamste Art des Krieges ist, so ist es ein Kampf innerhalb der Seele eines Menschen, wenn zwei mächtige Leidenschaften, ob auch beide edle Leidenschaften, in ihm um den Sieg ringen.

Dieses Ringen verursacht einen Schmerz und Kummer, den nur der zu verstehen vermag, der ihn durchzumachen hat. Ich wundre mich nicht, daß der Schweiß des Herrn wie große Blutstropfen wurde, als solch innerer Druck Ihn wie ein Traubenbündel machte, das in der Kelter getreten wird.

Ich hoffe, daß ich nicht vermessen in die Arche, in das verhüllte Allerheiligste geblickt habe. Gott bewahre mich davor, daß Neugierde oder Hochmut mich drängen sollte, eindringen zu wollen, wo der Herr eine Barriere aufgestellt hat! Ich habe euch in das Geheimnis eingeführt, so weit ich es vermag, und muß jetzt den Vorhang wieder fallen lassen mit dem Hinweis auf die schon angeführten Worte, daß nur Gott, Gott allein alle Leiden des Heilandes voll und ganz bekannt sind.

Unsre dritte Frage ist die: Was war unter diesem allem des Herrn Trost? Er suchte Hilfe in
menschlicher Gemeinschaft, und das war sehr natürlich. Gott hat unsrer menschlichen Natur ein Bedürfnis nach Teilnahme beigelegt. Es ist nicht unrecht, wenn wir in Zeiten der Trübsal unsre Brüder um uns erwarten, um mit uns zu wachen. Unser Herr fand indessen, daß bei Menschen kein Beistand für Ihn zu finden sei; mochte auch ihr Geist willig sein, das Fleisch war schwach.

Was tat Er denn weiter? Er nahm seine Zuflucht zum Gebet, besonders zum Gebet zu Gott
als seinem Vater. Ich habe aus Erfahrung gelernt, daß wir nie die Lieblichkeit der Vaterschaft Gottes so sehr erkennen, als wenn wir in bitterer Angst sind; ich kann es verstehen, weshalb der Heiland «Abba, Vater!» sagte. Es war die Angst, welche Ihn in den Staub herniederzog, um wie ein gezüchtigtes Kind sich klagend an die Liebe des Vaters zu wenden. In der Angst meiner Seele habe ich gerufen: «Wenn Du wirklich mein Vater bist, so habe um Deines väterlichen Erbarmens willen Erbarmen mit Deinem Kinde!» Hier fleht Jesus zu seinem Vater, wie wir es getan, und findet in diesem Flehen Trost. Gebet war der Kanal, durch welchen dem Erlöser Trost zufloß, ernstes, heftiges, ehrfurchtvolles, wiederholtes, anhaltendes Gebet. Nach jedesmaligem Beten ist Er anscheinend ruhig geworden, so daß Er gewissermaßen mit wiederhergestellter Gemütsruhe zu seinen Jüngern gehen konnte. Beim Anblick der Schlafenden erneuerte sich seine Traurigkeit und Er kehrte zurück, um abermals zu beten. Er wurde jedesmal gestärkt, ja, als Er zum dritten Mal gebetet hatte, war Er bereit, Judas und den Kriegsknechten entgegenzugehen und sich mit stiller Geduld vor die Richter und zum Tode führen zu lassen. Sein großer Trost war Gebet und Ergebung in dem Willen Gottes. Als Er seinen eignen Willen dem Willen des Vaters zu Füßen gelegt hatte, kam die Schwachheit seines Fleisches nicht mehr klagend zum Vorschein, sondern vielmehr in stillem Schweigen; «wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer», bewahrte Er seine Seele in Geduld und Ruhe. Liebe Brüder und Schwestern, wer unter euch sein Gethsemane und seine große Traurigkeit hat, der möge seinem Meister ähnlich zum Gebet seine Zuflucht nehmen, zu seinem Vater schreien und Ergebung in seinem Willen lernen.

Ich werde zum Schluß noch einige Bemerkungen aus dem Ganzen suchen. Möge der Heilige Geist uns unterweisen!

Zunächst, liebe Brüder, erkennet die wahrhaftige Menschheit unsres Herrn Jesus Christus. Denkt Ihn euch nicht nur als Gott, obgleich Er wahrhaftig Gott ist, sondern fühlt euch Ihm nahe verwandt, Bein von eurem Bein, Fleisch von eurem Fleisch. Wie gründlich kann Er Teilnahme mit euch haben! Er ist mit all euren Lasten belastet gewesen und hat all eure Traurigkeit gefühlt! Sind die Wasser sehr tief, durch welche ihr zu gehen habt? Und doch sind sie im Vergleich mit den Strömen, welche wider Ihn anbrausten, nicht tief. Kein Schmerz dringt in euren Geist, der unsrem Bundeshaupt fremd wäre. Jesus kann Mitleid mit euch haben in all euren Schmerzen.

Hat Er doch weit mehr gelitten, als ihr je gelitten habt und ist deshalb imstande, euch in all eurer Not beizustehen. Ergreifet den Herrn Jesus als euren vertrauten Freund, euren Bruder in der Not, so werdet ihr einen Trost erlangen, der euch auch durch die äußersten Tiefen trägt. Sehen wir ferner auf das unerträgliche Übel der Sünde. Du bist ein Sünder; der Herr Jesus war es nie, und doch war es Ihm schon so schrecklich, als Stellvertreter an des Sünders Statt, dazustehen, daß Er darob betrübt war bis an den Tod. Was wird eines Tages die Sünde dir sein, wenn du bis ans Ende unter ihrer Schuld geblieben bist! O, könnten wir die Schrecken der Sünde sehen, nicht einer unter uns würde auch nur noch einen Augenblick in ihr bleiben mögen!

Ich denke, manche würden weinend und klagend dieses Gotteshaus verlassen, wenn sie wirklich einsähen, was Sünde, was der Zorn Gottes ist, der auf ihnen ruht, was die Gerichte Gottes sein werden, die über kurz oder lang sie umringen und verderben werden! O, Seele, wenn die Sünde so unsren Herrn zerschlagen hat, muß es wirklich etwas Schreckliches um sie sein! Wenn schon das Zugerechnetwerden derselben dem reinen, heiligen Heiland Blutschweiß auspreßte, was muß danach die Sünde selbst sein! Meide sie, gehe nicht in ihre Nähe, wende dich sogar von dem Schein derselben ab, wandle demütig und vorsichtig mit deinem Gott, damit sie dir keinen Schaden antun kann, denn sie ist eine außerordentliche Plage, eine nicht endende Pest.

Wir wollen weiter die unvergleichliche Liebe Jesu beachten, die Er darin erwies, daß Er um euretwillen und meinetwillen nicht nur dem Leibe nach leiden, sondern auch das Grauenhafte tragen wollte, als Sünder angesehen zu werden, ob es Ihm auch schweres Leiden bis in den Tod kosten mochte. Lieber wollte Er als unser Stellvertreter und Bürge das Schwerste erdulden, als uns verloren gehen lassen. Sollten wir denn nicht um seinetwillen freudig Verfolgung leiden? Sollten wir nicht gern eifrig für Ihn arbeiten? Könnten wir es so an Freigebigkeit fehlen lassen, daß wegen Mangels an den nötigen Mitteln in seiner Sache ein Stillstand eintreten muß? Sind wir so träge, daß sein Werk wankt, so lange wir Kraft haben, es fortzuführen? Ich rufe euch auf bei Gethsemane, meine Brüder, wenn ihr teilhabt an den Leiden eures Heilandes, habt Ihn lieb, der euch so unendlich liebt, gebt und laßt euch verzehren in seinem Dienste!

Ferner, der Anblick des Heilandes im Garten lehrt uns die Vollkommenheit und Vollständigkeit seines Versöhnungsopfers. So schwarz, so unrein, so ekelhaft wie ich in Gottes Augen bin, fühle ich mich nur dazu geeignet, in die unterste Hölle verstoßen zu werden, und wundre mich, daß Gott mich nicht schon längst verworfen hat; ich gehe aber in den Garten und schaue von ferne durch die knorrigen Olivenbäume. Dort sehe ich meinen Heiland, sehe Ihn an der Erde ringen, höre sein Seufzen und Stöhnen, wie es nie zuvor aus einer menschlichen Brust gekommen ist. Ich sehe den Erdboden rot von Blut, sein Angesicht bedeckt mit blutigem Schweiß, und frage: «Mein Gott, mein Heiland, wer hat Dir das getan?» Er antwortet: «Ich leide für dich, um deiner Sünde willen!» und ich fühle mich getröstet. Ich hätte ja gern meinem Herrn solche Seelenangst gespart, jetzt aber, da Er sie erduldet hat, kann ich es verstehen, daß Jehova mich verschonen kann, weil Er an meiner Statt seinen Sohn geschlagen hat. Jetzt bin ich gerechtfertigt; bringe ich doch vor Gottes Gerechtigkeit und mein eignes Gewissen die Erinnerung an meinen blutenden Heiland und frage kühn: «Könntest Du denn zweimal Bezahlung fordern wollen, zuerst von der Hand Deines leidenden Sohnes und dann noch von meiner Hand?» Sünder wie ich bin, stehe ich vor dem brennenden Thron des strengen Gottes und fürchte mich nicht. Kannst du mich versengen, o, du verzehrendes Feuer, wenn du meinen Stellvertreter nicht nur versengt, sondern Ihn völlig verzehrt hast? Nein; durch den Glauben sieht meine Seele der göttlichen Gerechtigkeit Genugtuung geleistet, das Gesetz geehrt, die moralische Regierung Gottes aufgerichtet, und dabei meine ehemals schuldige Seele freigesprochen und freigelassen. Das Feuer der rächenden Gerechtigkeit ist erloschen, das Gesetz hat seine stärksten Forderungen erschöpft an der Person Dessen, der «uns hat erlöset von dem Fluch des Gesetzes, da Er ward ein Fluch für uns» (Galater 3, 13); damit wir durch Ihn würden «die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt». O, wie köstlich ist der Trost, der dem Versöhnungsblute entquillt! Nehmt diesen Trost, meine Brüder, und laßt nicht davon!

Schmiegt euch an das blutende Herz eures Herrn und trinkt reichlichen Trost daraus!
Endlich, wie entsetzlich muß die Strafe sein, die derer wartet, welche das Versöhnungsblut
verachten, die in selbsteigner Person vor Gott stehen müssen, um für ihre Sünden zu leiden! Laßt mich betrübten Herzens euch sagen, was derer wartet, die meinen Herrn verwerfen! Jesus Christus, mein Herr und Meister, ist ein Zeichen und eine Weissagung von dem, was euch bevorsteht. Nicht in einem Garten, sondern auf dem Bette, auf welchem ihr euch so oft erfrischt habt, werdet ihr überrascht, überfallen und von den Schrecken des Todes ergriffen werden. Mit großem Schmerz und tiefer Reue über euer vergeudetes Leben und die Verwerfung des Heilandes wird euer Herz sehr schwer werden. Dann wird eure Lieblingssünde, eure Lieblingslust wie ein andrer Judas euch verraten mit einem Kuß. Während noch die Seele auf euren Lippen schwebt, werdet ihr von bösen Geistern ergriffen, um vor das göttliche Richthaus getragen zu werden, ebenso wie der Herr Jesus vor Kaiphas und den Hohen Rat geführt wurde. Dort wird ein rasches, persönliches, ziemlich privates Gericht gehalten werden, durch welches ihr zum Gefängnis, zu Finsternis, zu Heulen und Zähneklappen verurteilt werdet, wo ihr bis an den großen Gerichtstag eingeschlossen bleiben müßt.

Darauf wird der Tag anbrechen und der Auferstehungsmorgen kommen, und wie unser Herr am Morgen vor Pilatus erschien, so müßt ihr am jüngsten Tage vor dem höchsten Tribunal erscheinen, nicht vor dem eines Pilatus, sondern vor dem schrecklichen Richterthron Gottes, des Gottes, den ihr verachtet und verworfen habt. Dann werden Zeugen wider euch auftreten, nicht falsche Zeugen, sondern wahre, und ihr werdet verstummt dastehen, wie ehedem der Herr Jesus seinen Verklägern kein Wort antwortete. Dann werden Gewissen und Verzweiflung euch bestürmen, bis ihr solch ein Monument des Jammers, solch ein Schauspiel der Verachtung werdet, das zu einem andren Ecce Homo geeignet wäre. Die Zuschauer werden bei einem solchen Anblick sagen: «Sehet den Menschen und die Leiden, welche auf ihn gekommen sind, weil er seinen Gott verachtet und seine Freude an der Sünde gefunden hat!» Dann werdet ihr verdammt werden. «Gehet hin von mir, ihr Verfluchten!» wird euer Urteilsspruch lauten, wie das Urteil des Herrn Jesus lautete: «Kreuzige Ihn!» Ihr werdet von den Gerichtsbeamten abgeführt werden. Wie ehedem der Stellvertreter der Sünder rief: «Mich dürstet!» so wird auch euch dürsten, aber kein Tropfen Wassers wird euch geboten werden; ihr werdet nur die Galle der Bitterkeit zu trinken haben. Ihr werdet öffentlich gerichtet werden, eure Verbrechen werden über eurem Haupt bezeichnet, damit jedermann lesen und verstehen kann, daß ihr billig in solcher Verdammnis seid. Dann werdet ihr verspottet werden, wie ehedem Jesus verspottet wurde, besonders, wenn ihr bloße Namenchristen gewesen seid. Ja, Gott selbst wird eurer spotten. Glaubt nicht, daß ich träume, denn hat Er nicht gesagt: «So will ich auch lachen in eurem Unfall, und euer spotten, wenn da kommt, das ihr fürchtet» (Sprüche 1, 26)?

Ruft eure Götter an, denen ihr vertraut habt, sucht Trost bei den Lüsten, die ehedem eure Freude waren, o, ihr, die ihr auf ewig verstoßen seid! In der Schande und der Verwirrung eurer Nacktheit werdet ihr, die ihr den Heiland verachtet habt, auf ewig zu einem Schauspiel der Gerechtigkeit. Es ist recht, daß es so ist, die Gerechtigkeit erfordert es mit Recht. Die Sünde hat den Heiland bittre Seelenangst erdulden lassen; sollte sie denn nicht auch euch leiden lassen? Überdies habt ihr zu eurer Sünde noch das hinzugetan, daß ihr den Heiland verworfen habt, ihr habt Ihn nicht eure Zuflucht und Zuversicht sein lassen wollen. Willkürlich, vermessen, wider euer eignes Gewissen, habt ihr das ewige Leben verworfen, und wenn ihr in Verwerfung der Gnade sterbt, was anders kann die Folge sein, als daß ihr zuerst um eurer Sünde und dann um eures Unglaubens willen verdammt werdet zu einem Elend ohne Maß und Ziel! Laßt euch durch Gethsemane warnen, laßt euch durch das Seufzen und Stöhnen und den Blutschweiß des Heilandes zur Buße und zum Glauben an Ihn leiten! Möge der Geist Gottes euch dazu führen um Jesu willen! Amen.

Predigt von Charles Haddon Spurgeon

Des Heilandes Seelenangst in Gethsemane
18. Oktober 1874
Aus: Zwölf Predigten über das Leiden und Sterben
Verlag J. G. Oncken Nachfolger, 1898

pdf-Datei: Aus dem Schriftenarchiv

Bildnachweis: Gebetsort Jesu im Garten Gethsemane – Mewasul, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Eingestellt am 10. Dezember 2021 – Letzte Überarbeitung am 17. Mai 2023