Über das Johannesevangelium (Minna Popken)

Das Evangelium des Johannes machte mir den stärksten Eindruck von den vier Evangelien. Oft fühlte ich unter dem Lesen das leise Wehen des Geistes, und manchmal ging es wie ein Beben durch meine Seele. So kam ich zum neunzehnten und zwanzigsten Kapitel, zur Geschichte der Kreuzigung, der Grablegung und der Auferstehung, und voll heiliger Ehrfurcht sagte ich öfters in meinem Herzen: Ich glaube, Herr, ja, ich glaube.

Dann las ich den Schluß des zwanzigsten Kapitels. Es war an einem Abend, der sich mit Flammenschrift meinem Herzen eingeprägt hat. Ich las, wie der Auferstandene durch verschlossene Türen zu seinen Jüngern kommt, wie er ihnen seinen Friedensgruß spendet und ihnen seine durchgrabenen Hände und die durchstochene Seite zeigt. Thomas ist nicht da – und er zweifelt! Da kommt der Herr zum andernmal, und Thomas hört die Worte: „Reiche deinen Finger her und siehe – meine Hände! und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite.“ Als ich in tiefer Versunkenheit las, wie unter dieser wundersamen Berührung dem Zweifler die Augen geöffnet werden und wie er Jesus anbetet mit dem Bekenntnis: „Mein Herr und mein Gott!“ – da konnte auch ich mit den Händen des Glaubens ihn anrühren wie Thomas. Besiegt und überwunden fiel ich vor ihm nieder und betete ihn an: „Mein Herr und mein Gott!“ – Und dann war keine Trennung mehr zwischen ihm und mir. Ich fühlte die Gegenwart des Herrn so deutlich, daß ich von diesem Augenblick an mit voller Klarheit wußte: Er lebt! Er ist auferstanden! Er lebt auch für mich!

Ich war allein und doch nicht allein in der kleinen Kammer, ich wußte: Jesus ist da durch seinen Heiligen Geist; du kannst mit ihm reden und er mit dir. Ich gab ihm mein Herz, ich gab ihm meine Seele, ich gab ihm meinen Leib, ich gab ihm mein ganzes Leben, und sagte ihm: „Hier bin ich, tue mit mir, was du willst. Dich habe ich gesucht von meiner Kindheit an. Du bist die volle Wahrheit, nach der ich mich so heiß gesehnt habe! Nun weiß ich, daß du mich gerufen hast von Mutterleibe an, wie du den Paulus gerufen hast und noch viele, viele andere. Nun bist du mir der Weg und die Wahrheit und das Leben. Fortan gehöre ich dir!“

Jetzt wußte ich mit allen Fasern meines Wesens – und habe es keinen Augenblick mehr vergessen: Ich habe den gefunden, von dem die Propheten geredet haben – und die Sonne ist aufgegangen über meinem Lebenstag. – O unaussprechliche Freude!

(Minna Popken)

Quelle: Glaubensstimme – Christliche Texte aus 2000 Jahren

Eingestellt am 17. Oktober 2021