1. Petrus 1, 17

Und wenn ihr den zum Vater anruft, der ohne Ansehen der Person nach eines jeden Werk richtet, so führt euer Leben während der Zeit eures Fremdaufenthaltes* in Furcht. (1. Petrus 1, 17)

* in der Zeit, in der ihr wie Ausländer in der Fremde wohnhaft seid (Übersetzung nach Herbert Jantzen, 2011)

Und sintemal ihr den zum Vater anruft, der ohne Ansehen der Person richtet nach eines jeglichen Werk, so führt euren Wandel, solange ihr hier wallt, mit Furcht. (1. Petrus 1, 17 LUT)

Der Apostel Petrus kennt die alle peinliche Furcht vor Gott austreibende Liebe, und den kindlichen Geist, durch welchen wir Gott als Vater anrufen, eben so wohl als Johannes und Paulus. Es ist nicht seine Meinung, daß anstatt der freudigen Zuversicht zu Gott, die peinliche Furcht vor dem zukünftigen Zorn, und anstatt des Geistes der Liebe, der Geist der Furcht das Regiment im Herzen der Christen haben sollte. Er verkümmert ihnen ihre Hoffnung auf die Gnade Gottes in Christo so wenig, daß er sie vielmehr ermahnt (1. Petr. 1, 13), ihre Hoffnung ganz auf diese Gnade zu setzen. Er löst die Seile der Liebe nicht, spannt sie nicht in das knechtische Joch des Gesetzes und zeigt ihnen nicht in der gesetzlichen Furcht den Stecken des Treibers; sondern lehrt sie, wozu und wie lange ihnen die Furcht Gottes nütze sei, nämlich ihren Wandel, so lange sie hier wallen, also zu führen, wie es dem gerechten Vater wohlgefalle.

Die Furcht, Gott zu mißfallen, ist so wenig der Liebe zuwider, daß im Gegentheil keine wahre Liebe ohne diese Furcht denkbar ist. Zu der Gerechtigkeit, vom Gesetz erfordert, gehört auch die Furcht Gottes, und so wird auch sie, wie alle Gerechtigkeit in uns, erfüllt durch den Geist. Darum ist hier kein Widerspruch zwischen Johannes und Paulus einerseits, und Petrus anderseits, wie denn auch Paulus gleich dem Petrus ermahnt (2. Kor. 7, 1): „Lasset uns fortfahren mit der Heiligung in der Furcht Gottes“. Und Philipp. 2, 12: „Schaffet, daß ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern.“

Ja, so lange wir hier wallen – im Fleische, welches gelüstet wider den Geist; in der Welt, die im Argen liegt; unter den listigen Anläufen des Bösewichts, und so mancher andern Seelengefahr: können wir der Furcht nicht entbehren. Die Furcht des Herrn ist Zucht zur Weisheit. Sie ist nicht bloß der Weisheit Anfang, sondern auch ihr Fortgang. Auf dem Wege der Furcht lernen wir Gnade bei Gott suchen, und wenn wir Gnade gefunden haben und Gott lieben, so findet sich auch wiederum die Furcht; die zwar nicht wie vorher Pein, aber doch große Besorgnis hat, dem Vater zu mißfallen. Denn bei dem Herrn ist die Vergebung, daß man ihn fürchte (Ps. 130, 4). Du stehest durch den Glauben: sei nicht stolz, sondern fürchte dich. Du rufest Gott zum Vater an: so führe deinen Wandel, so lange du hier wallest, mit Furcht. Bete mit David (Psalm 86, 11): „Weise mir, Herr, deinen Weg, daß ich wandle in deiner Wahrheit; erhalte mein Herz bei dem Einigen, daß ich deinen Namen fürchte“.

Denke nicht: das sei nicht evangelisch. Denn der Herr selbst hat verheißen, Jerem. 32, 40:

„Ich will einen ewigen Bund mit ihnen machen, daß ich nicht will ablassen, ihnen Gutes zu tun; und will ihnen meine Furcht ins Herz geben, daß sie nicht von mir weichen!“

Amen.

(Carl Johann Philipp Spitta)

Günstlinge hat Gott keine; dagegen hat er Kinder. Weil wir Kinder sind, muß uns mit Ernst gesagt werden, daß wir deshalb nicht Gottes Günstlinge sind und nicht auf seine Parteilichkeit rechnen können, weil auch wir unter seinem Urteil stehen, das einzig von der Wahrheit seine Regel bekommt. Ihn Vater nennen zu können, das ist der Inbegriff aller uns gewährten Gnade, das Tiefste und Höchste, was uns gegeben ist. Das stellt uns vor Gott als die Glaubenden. Aber eben deshalb, weil wir glauben, muß uns gesagt werden, daß wir Gott zu fürchten haben.

Der Glaube und die Furcht sind beisammen, weil Gott zugleich unser Vater und unser Richter ist. Wäre er nur unser Vater, so fiele die Furcht Gottes von uns ab; wäre er nur unser Richter, so wäre uns der Glaube genommen. Weil wir ihn aber als unseren Vater und unseren Richter kennen, gibt es für uns keinen trotzigen, furchtlosen Glauben, wie ihn der hat, der sich als Gottes Günstling fühlt, aber ebensowenig eine glaubenslos verzagende Furcht. Petrus gibt uns das Maß an, mit dem wir unseren Glauben und unsere Furcht richtig machen und erkennen können, ob sie fromm oder gottlos sind. Sowohl der furchtlose Glaube als auch die glaubenslose Furcht haben nicht Gott vor Augen.

Wir haben Gott nur dann erkannt, wenn wir den als den Richter fürchten, der unser Vater ist, und den als unseren Vater preisen, der unser Richter ist. Rufen wir ihn als den Vater an, so preisen wir die Gnade, die uns jetzt schon gegeben ist. Unser Vater ist er, weil wir durch ihn und bei ihm leben. Nennen wir ihn unseren Richter, so denken wir an das, was kommen wird, und sehen auf das Ziel hinaus, zu dem uns seine väterliche Gnade führen wird. Jetzt, sagt Petrus, „wallen wir“. Diese Wallfahrt und Pilgerschaft endet in der zukünftigen Stadt Gottes, die uns die ewige Heimat und das Bürgerrecht gewähren wird. Unter der Menschheit, wie sie jetzt ist, steht die Christenheit als eine ihr fremde und von ihr abgesonderte Schar, die nicht aus demselben Stamm erwächst und nicht derselben Sitte gehorcht. Das ist aber nicht das Letzte, was Gott schaffen wird. Weil wir Gott als Vater anrufen dürfen, hat er uns verheißen, daß die Gottesstadt uns ihre Tore öffne. Sie führt die Kinder Gottes nicht nur zusammen, sondern auch zu Ihm. Ihre Tore sind aber für den verschlossen, der Gottes Urteil wider sich hat. An unserem Werk entscheidet sich der Ausgang unseres Lebens. Durch das boshafte Werk verschließt sich der Mensch die Gottesstadt. Sie ist für diejenigen Kinder Gottes bereitet, die mit ihrem guten Werk dem Vater dienen. Darin offenbart sich die reine Art der göttlichen Gnade, die sie von Willkür und parteiischer Gunst gänzlich verschieden macht.

Das Fremdsein in der Welt macht uns, Vater, manche Not; aber der Blick auf das Ziel, das Du uns bereitet hast, gibt uns Kraft. Ich kann mein Werk nur tun, weil ich Dir glaube und kann Dir nur glauben, weil ich mich vor Sünde und Fall fürchte. Gib mir, daß ich in Wahrheit Dich Vater nenne und in Wahrheit das Werk vollbringe, das Du, Richter aller Geister, von mir verlangst. Amen.

(Adolf Schlatter)


Eingestellt am 11. September 2023