Und ich sah ein anderes Tier aufsteigen aus der Erde; das hatte zwei Hörner gleichwie ein Lamm und redete wie ein Drache. (Offb. 13, 11)
Auf den russischen Philosophen Nikolai Berdjajew (1874-1948) geht das geflügelte Wort „Der Mensch ist und bleibt unheilbar religiös“ zurück. Auch der Antichrist hat es erkennen müssen, daß „der Mensch nicht vom Brot allein lebt“, sondern geistige und religiöse Bedürfnisse hat. Der Satan hat eine Vorliebe für eine Religion, die das schmachvolle Kreuz Christi umgeht. Zur Stillung dieser geistigen Bedürfnisse rüstet der Drache einen Mann aus, der mit dem Antichristen zusammenwirkt und in Offenbarung 19, 20 „der falsche Prophet“ genannt wird:
„Und ich sah ein zweites Tier aufsteigen aus der Erde; das hatte zwei Hörner gleichwie ein Lamm und redete wie ein Drache.“
Die Tätigkeit diesen „zweiten Tieres“ beschreibt der Ausleger Fritz Steinwender folgendermaßen:
»Dieses zweite Tier steigt von der Erde auf, also aus der christianisierten, religiös-gesitteten Kulturwelt, wovon auch seine Lammesähnlichkeit, das heißt wohl: sein christliches Gewand, zeugt. Dieser falsche Prophet wird offenbar alles, was mit Religion, Erziehung, Bildung, Forschung und Wissenschaft zu tun hat, in die Hände bekommen und alles zu einem gewaltigen Machtinstrument gleichschalten. Er wird dem Antichristen als sein Theologe, Kultusminister oder als sein Stellvertreter an die Seite gegeben werden, ganz in seinem Dienste stehen und seinen Geist atmen. Auch ihm werden dämonische Kräfte und mitreißende Ideen eingegeben werden; große Zeichen wird er tun.«
In der Vorschattung sehen wir diese endzeitliche Erscheinung und die technischen Voraussetzungen für eine globale Durchdringung mit diesem Geist sich in rasanter Geschwindigkeit entwickeln. Der falsche Prophet wird eine glänzende Rhetorik und eine blendende Gabe der Verführung haben:
Glatt sind die Butterworte seines Mundes, und Krieg sein Herz. Seine Worte sind linder als Öl und sind doch gezückte Schwerter. (Psalm 55, 21, Textbibel)
Der falsche Prophet
Macht und Kultur: in diesen zwei Worten zusammen liegt, was die Völker bezaubert. Übermenschliche Herrschaft hat das „Tier“ , der widerchristliche Weltstaat und sein Herrscher, im vollen Besitz, da es die dem Meere gleich bewegten Völkermassen unter sein Zepter gezwungen hat. Nun tritt ihm „ein anderes Tier“ zur Seite, um das Werk der Macht des ersten Tiers zur Grundlage einer neuen Geisteskultur zu machen:
Weltreich und Weltkultur, wer sollte diesem Hochziel nicht mit Leib und Seele zufallen? Ist doch mitten unter uns Christen der Gegenwart eine Menge edler und ernster Leute betäubt und berauscht von dem Wahn, die Menschheit werde aus ihrem Geist und Willen heraus ein großes und herrliches Friedensreich geistiger und materieller Idealkultur noch schaffen!
Sie wird’s ja niemals aus sich heraus zuwege bringen, aber Satan gaukelt es ihr vor und wird sie am Ende der Zeit damit beschwindeln. Und der den Schwindelgeist unter der Menschheit zur Herrschaft bringen soll, das ist „das andere Tier“, das nicht in den wildbewegten Stürmen des Völkerlebens seinen Heimatboden hat, sondern in dem ruhigen Elemente der „Erde“, aus der Gesetz und Sitte, Bildung und alles, was man Kultur nennt, hervorsprossen kann. Auch dieses „Tier“ stellt zunächst eine Macht dar, die als geistige Macht neben die politische Gewalt tritt.
Aber auch das „Reich des Geistes“ hat seine Fürsten und Führer, die den Zeitgeist und Volksgeist und Weltgeist bestimmen, befruchten und gestalten. So gewinnt auch dieses „andere Tier“ für den Seher eine persönliche Gestalt. „Lügenpropheten“ in Menge gab es, gibt es und wird es in der Endzeit geben (Matth. 7, 15; 24, 11). Johannes hat schon seine Zeitgenossen vor den „Widerchristen“ und „falschen Propheten“ in seinem Brief (1. Joh. 2, 18; 4, 1) gewarnt.
Aber am Ende wird das Treiben der vielen in e i n e m Antichrist und e i n e m Lügenpropheten gipfeln, die beide unmittelbar unter höllischem Einfluß und im Dienste des „Drachen“ [also Satan selbst] stehen.
Jesus hat von den falschen Propheten gesagt, sie kommen in Schafskleidern daher und seien doch inwendig reißende Wölfe. So gleicht auch „das andere Tier“ nicht wie das erste einem Pardel [Panther], Bären oder Löwen, sondern seine Macht scheint ganz harmlos, wie die Hörner eines „kleinen Lammes“, vor denen gewiß niemand meint, sich fürchten zu müssen. Aber sein Mund geht über von hinterlistiger, verführerischer Lüge, die Tod und Verderben bringt, wie das Wüten eines „Drachen“. Und was der politische Machthaber, der weltbeherrschende Widerchrist auf seine Weise vermag und übt, das übt auch der falsche Prophet als der mit aller Vollmacht seines Herrn ausgerüstete Diener, der vor dem Weltherrscher seines Winks gewärtig steht. Wir haben schon gehört (V. 3f.), daß der tödliche Schlag, der in die Weltherrschaft des Tieres Bresche zu legen schien, völlig überwunden wurde, daß die tödliche Wunde zum Staunen aller Welt heil geworden war; jetzt hören wir, daß der falsche Prophet den Herold dieser ungeahnten „Glückswendung“ macht und die Menschheit dahin bringt, den Weltstaat als das Größte und Höchste, was es gibt, zu verehren.
Weil der Satan merkt, daß er mit Gewalt und Druck von außen gerade die Besten nicht gewinnen kann, beruft er ein zweites Werkzeug, das die Starken und Edlen von innen her überwinden soll. Das ist das Werkzeug der Verführung oder das „andere Tier“, das Johannes vom Festland aus aufsteigen sieht. Wieder beschreibt er mit etwa zehn Strichen sein Wesen:
1. und 2. Hörner gleich einem Lamm trägt es, und doch redet es wie ein Drache. (V. 11)
3. und 4. Die ganze Gewalt des ersten Tiers übt es aus und stellt wiederum seine eigene Macht in den Dienst der Verherrlichung derselben. (V. 12)
5. und 6. Die geistliche Vollmacht und Wunderkraft der biblischen Zeugen Mose und Elia ebenso wie der Zeugengemeinde der Endzeit besitzt es (es läßt Feuer vom Himmel fallen, V. 13), benutzt aber eben diese seine Wundermacht, um die Menschen in die Irre zu führen, so daß sie dem Tier mit der Schwertwunde „ein Bild machen“, das heißt eine Anbetungsstätte errichten (V. 14).
7. und 8. Es wird ihm gegeben zu schaffen, daß „das Bild des Tiers“ „den Geist“ empfängt und daß es „redet“, das heißt, daß mit solcher Anbetung des Irdischen sich überirdisches Erleben verbindet und daß dazu Offenbarungen geschenkt werden (V. 15) .
9. und 10. Es macht, daß die, welche sich an dieser Anbetung nicht beteiligen, getötet werden, und daß die Menschen sich ein Zeichen auf Hand und Stirn machen (V. 16) und eine Gemeinschaft gründen, die alle, die nicht zu ihr gehören, von Arbeit und Erwerb, Besitz und Konsum ausschließt (V. 17).
Als ganzes entfaltet sich vor uns im zweiten Tier eine geistliche, kirchliche Macht, die nicht mit äußerer Gewalt die Menschen zwingt, sondern von innen die Herzen verführt, eine Macht, die von „der Erde“, das heißt aus dem wie ein Festland aus dem Völkermeer aufragendem Raum der Kirche aufsteigt. Sie trägt die Gestalt der Gemeinde Jesu, des Lammes. Aber im Gegensatz zur Geduld de Lammes ist sie ganz eigene Aktivität. Das drückt sich in den gehäuften Tätigkeitsworten aus, insbesondere in dem wiederholten „es machte“.
Quellen und Verweise
Frey, Hellmuth: Das Ziel aller Dinge – Seelsorgerliche Auslegung der Offenbarung. 5., überarbeitete Auflage – Lahr: Verlag der Liebenzeller Mission, 1995, Seite 172f. (TELOS-Paperback 71362, ISBN 3-88002-589-4)
Römer, Christian, weil. Prälat und Stiftsprediger zu Stuttgart: Die Offenbarung des Johannes, in Bibelstunden erläutert, Siebzehnte Bibelstunde (Verlag von D. Gundert, Stuttgart 1916)
Setzer, Gerrid: Das Malzeichen des Tieres. Im Glauben leben, Zeitschrift für Bibelleser. Jahrgang 2016, Heft 8, Seite 13
Steinwender, Fritz: Die kommende neue Welt – Das letzte Buch der Bibel neu gehört. Lahr-Dinglingen, Verlag der St.-Johannis-Druckerei, Dr. Schweickhardt, 1991 (ISBN 3-501-00982-8)
Bibeltext: Lutherbibel 1912 und Textbibel bei bibeltext.com
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