Römer 1, 19.20: Die Wahrheit

Denn was man von Gott weiß, ist ihnen offenbar; denn Gott hat es ihnen offenbart, damit daß Gottes unsichtbares Wesen, das ist seine ewige Kraft und Gottheit, wird ersehen (so man des wahrnimmt) an den Werken, nämlich an der Schöpfung der Welt; also daß sie keine Entschuldigung haben. (Römer 1, 19.20 LUT)

Dieweil, was von Gott erkannt werden kann, in ihnen kund worden ist – denn Gott hat es ihnen kundgetan -, denn die unsichtbaren Vollkommenheiten Gottes, seine ewige Kraft und Göttlichkeit werden geistig angeschaut in seinen Werken von der Schöpfung der Welt an, auf daß sie unentschuldbar seien. (Römer 1, 19.20 Godet)

Die Wahrheit ist die Erkenntnis Gottes, welche er den Menschen dadurch gewährt, daß er sich offenbart. Denn „Gott wird“, wie Nitsch gesagt hat, „nur soweit erkannt, als er sich zu erkennen gibt“.

Das  διότι,  d i e w e i l  (statt διὰ τοῦτο ὄτι, deswegen, weil), lenkt den Gedanken auf das Folgende, nicht auf das Vorhergehende, während umgekehrt διó, darum, V. 24, im Vorhergehenden den Grund des Folgenden zeigt. Der Sinn dieses διότι, dieweil, ist: die Wahrheit haben sie unterdrückt,  s o f e r n  die Wahrheit ihnen geoffenbart war (V. 19f.), aber von ihnen im Lügen verkehrt wurde, V. 21 bis 23 (25). Der Ausdruck γνωστὸν, gnōston, eigentlich: was man erkennen kann, bedeutet im NT häufig: was man wirklich erkennt (γνωτὸς); dies ist seine wahrscheinliche Bedeutung (vgl. Luk. 2, 44 [Bekannte]; Joh. 18, 15 [bekannt]; Apg. 1, 19 [kund werden]; 17, 23).

Doch kann man dem Wort in einigen der angeführten Stellen auch die erstere Bedeutung beilegen, und im klassischen Griechisch ist dies der gewöhnliche Sinn (siehe die zahlreichen, von  O l t r a m a r e  angeführten Beispiele). Nimmt man die erstere Bedeutung, so würde Paulus sagen: „Was von dem Wesen Gottes bekannt ist, leuchtet hell in ihnen“; ein Gedanke, der an einer gewissen Tautologie leiden würde. Es ist also besser, so zu erklären: „Was sich (ohne den Beistand einer außerordentlichen, besonderen Offenbarung) von Gott erkennen läßt, ist in ihrem Innern deutlich kundgetan“.

Es ist ihnen ein Licht aufgegangen von Gottes Dasein und Wesen, in dem Maß, als Gott vom Menschen vermittelst seiner natürlichen Fähigkeiten erkannt werden kann. Das ist eine gegenwärtige, fortdauernde Tatsache, daher das Präs. φανερόν ἐστιν [phaneron estin].  Diese fortdauernde Offenbarung wird hierauf erklärt (γὰρ, denn) durch den ursprünglichen Offenbarungsakt, welcher der Ausgangspunkt von jener gewesen ist; ἐφανέρωσε [ephanerōse], der Aorist: „Er hat es ihnen kundgetan“.

Vers 20 gebt das Mittel an, wodurch Gott diese Selbstoffenbarung im menschlichen Bewußtsein hervorgebracht hat. Es sind seine Werke in der Natur, wozu der Mensch selbst mit den ihm verliehenen Gaben gehört (was man nicht vergessen darf). – Mit dem Ausdruck τὰ ἀόρατα [ta aorata, das Unsichtbare], bezeichnet der Apostel das Wesen Gottes und alle Eigenschaften, welche zu demselben gehören und die, ihrer Natur nach unsichtbar, nur durch ihre materiellen Wirkungen für die Sinne wahrnehmbar werden.

Er faßt sie in zwei zusammen, welche wirklich alle in sich schließen, wenn es sich um die natürliche Offenbarung handelt: Macht und Göttlichkeit. Die Macht ist das, was dem Menschen am unmittelbarsten auffällt, wenn er die Natur betrachtet. Vermöge des Kausalitätsgesetzes [Beziehung zwischen Ursache und Wirkung], welches er selbst jeden Augenblick bei seiner eigenen schaffenden Tätigkeit anwendet, geht er sofort von der Unermeßlichkeit der Wirkung auf die Allmacht der unsichtbaren Ursache zurück. Aber diese Allmacht stellt sich ihm zugleich dar als begleitet von gewissen sittlichen Eigenschaften, die ihren Werken selbst anhaften. In der wunderbaren Verkettung von Mitteln und Zwecken, die selbst wieder Mittel zu neuen, noch höheren und heiligeren Zwecken werden, erkennt der Mensch vermöge des Gesetzes der Zweckmäßigkeit, welches er gleichfalls jeden Augenblick bei seiner eigenen ordnenden Tätigkeit anwendet, die Eigenschaften der Weisheit und Güte, mit denen die höchste Ursache ausgestattet ist, und die Paulus hier im Ausdruck  G ö t t l i c h k e i t, θειότης zusammenfaßt. Während θεότης, Gottheit (Kol. 2, 9) die Tatsache des Daseins Gottes bezeichnet, drückt θειότης die Eigenschaft aus, kraft deren etwas zum göttlichen Wesen gehört.

Dieses Wort enthält also hier die sittlichen Eigenschaften (im Gegensatz zur bloßen Macht), welche Gott besitzen muß, um der Urheber und Ordner einer Welt zu sein, nämlich die Weisheit und die Güte; vergl. die schöne Stelle Apg. 14, 17. – Das Beiwort ἀΐδιος [aidios, ewig, von ἀεí), könnte nur auf das erste der beiden Attribute, die Macht, bezogen werden. Es würde die absolute Dauer und Selbständigkeit der ersten Ursache der Abhängigkeit der Mittelursachen, welche immer auf einer noch früheren Ursache beruhen, gegenüberstellen.

Der Vers Apostelgeschichte 14, 17 lautet: Und doch hat er sich selbst nicht unbezeugt gelassen, hat uns viel Gutes getan und vom Himmel Regen und fruchtbare Zeiten gegeben, unsere Herzen erfüllt mit Speise und Freude.

Quelle:

Kommentar zu dem Brief an die Römer, von F.[rédéric Louis] Godet, Dr. und Professor der Theologie in Neuchâtel. Deutsch bearbeitet von E.R. Wunderlich, weil. Pfarrer in Bondorf, und K. Wunderlich, Stadtpfarrer in Markgröningen. Zweite, völlig umgearbeitete Auflage. Vom Verfasser autorisierte deutsche Ausgabe. Erster Teil. Kapitel 1-5. Hannover, Verlag von Carl Meyer. (Gustav Prior.) 1892.

[Digitalisat]

Bibeltext: Luther 1912 und Greek Text Analysis (bibeltext.com)


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Eingestellt am 5. Oktober 2023