30. Heimweh. (Psalm 126)

Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens, und unsere Zunge voll Rühmens sein. Da wird man sagen unter den Heiden: Der HErr hat Großes an uns getan, des sind wir fröhlich. HErr, wende unser Gefängnis, wie du die Wasser gegen Mittag trocknest. Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen, und tragen edlen Samen, und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.
(Psalm 126)

Wie die Träumenden, die über ihre Sinne hinausgehen, so waren die ersten Christen, die Jesum im Fleische sahen und also das sahen, was viele Propheten und Könige sehen wollten und nicht gesehen haben. Jesus war kein Traum, Er ist die Wahrheit und das Leben. Aber die Ihn fanden und erkannten, waren wie die Träumenden. Denn sie fanden in Ihm mehr als Silber und Gold, mehr als Himmel und Erde. Petrus spricht die große Herrlichkeit dessen, den er gefunden hat, aus: Du hast Worte des ewigen Lebens.

Das Weib aber zu den Füßen Christi (Luk. 7, 36–50) ist ohne Wort in der Anbetung dessen, der zu ihr spricht: „Gehe hin mit Frieden.“ Wie die Träumenden, so sind, o Heiland, allewege, die Dich durch den Geist der Herrlichkeit erkennen.

Ich kann es keinem Menschen sagen,
Was einst in meine Seele kam,
Da mich in den vergangnen Tagen
Dein Anblick, Herr, gefangen nahm.

Das brachte mehr Licht, als meine Augen fassen und mehr Leben, als meine Seele umfangen konnte. Ich war erstaunt, ob’s wahr sei, was die Augen sahen. O Du! – spricht die Seele, die Dich liebt.

Petrus wollte schon mit Dir sterben, Matth. 26, 35. Doch erst mußte er hingehen und mit Tränen säen, um mit Freuden ernten zu können. Seitdem uns der Betrug des Betrügers den Weg des Todes durch den Baum, der lieblich anzusehen ist, verdeckt hat, muß der Weg des Lebens mit Tränen befeuchtet werden.

Eine Welt, die im Argen liegt und ein Gesetz in den Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetze des neuen Lebens in uns (Röm. 7, 23), bereiten uns viele Tränen. So säen und säen immer wieder mit Tränen, die nach dem ewigen Leben trachten. Selig seid ihr –
spricht der Wahrhaftige – die ihr hier weinet; denn ihr werdet lachen, Luk. 6, 21. Selig sein beim Weinen und weinen beim selig sein – so hast Du, ewige Liebe und Weisheit, unsern Weg geordnet, bis das Ende wird sein, wie Du sprichst: ihr werdet lachen.

Ja lachen! Wie die Träumenden werden wir sein, wenn das erste vergangen ist und das Vollkommene hereinbrechen wird. Da wird man sagen: Der Herr hat Großes an uns getan. Groß, mein Heiland, werde ich es nennen, wenn im ewigen Leben meine Seele nach Deinem Bilde erwacht und unter den Tränen dieses Lebens das häßliche Wesen in ihr erloschen ist. Groß wird die Auferstehung des sterblichen Lebens sein, wenn ich tragen werde das Bild des himmlischen Menschen, 1. Kor. 15, 49. Ueber alle Sinnen wird die Gemeinschaft mit all den Deinen im ewigen Leben sein, Matth. 8, 11.

Doch –
Was nützen Tropfen mir?
Mich müssen Ströme tränken –

und so wird mein Mund voll Lachens und meine Zunge voll Rühmens sein. und ich werde mich mit unaussprechlicher Freude freuen, wenn ich Dich Selbst sehen werde und Du mich zu den lebendigen Wasserbrunnen leiten wirst, Offb. 7, 17.

Nun, Herr, wie Du willst in diesem Leben, ob fröhlich oder im Weinen, ich lasse Dich nicht.

Ich will nur noch um’s Kleid,
Um’s weiße Kleid noch sorgen
Zur schönen Ewigkeit
Zum goldnen Ostermorgen.

Theodor Schmalenbach

Quelle:

Stille halbe Stunden, S. 115ff. Von Th. Schmalenbach. Gütersloh, Druck und Verlag von C. Bertelsmann. 1877.
Bayerische Staatsbibliothek, urn:nbn:debvb:12-bsb11354794-3
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