Jesaja 1, 2

Höret, ihr Himmel! und Erde, nimm zu Ohren! denn der HERR redet: Ich habe Kinder auferzogen und erhöht, und sie sind von mir abgefallen.
(Jesaja 1, 2)

So muß der Herr über Israel klagen. O höret doch aus diesen Worten, welch ein Schmerz in seinem Herzen ist. Kinder hat er aufgezogen mit vieler Mühe, Sorgfalt, Pflege, Geduld; er hat sie in seinen Armen getragen, wie eine Mutter ihre Kleinen in ihren Armen trägt. Er hatte sie erhöhet und groß gebildet; was ein treues Vaterherz an seinen Kindern tun kann, das hatte er an ihnen getan, ja noch weit mehr: aber – sie sind von mir abgefallen; sie haben mir den Rücken zugekehrt; sie haben sich zu meinen Feinden geschlagen.

Hat der Herr jetzt weniger Ursache bei uns zu dieser Klage als damals? Auferzogen hat er uns; mit großer Güte hat er uns gepflegt von Kindesbeinen an; durch wie viele Wunderwege hat er uns geführt! Wie hat er uns bewacht, beschützt, getragen! Aber wo ist der Dank? Liebe Brüder! Wo ist der Dank? Das ist der Dank: daß es auch an uns wahr ist: »Sie sind von mir abgefallen, sie halten es mit meinen Feinden« – der Sünde und dem Teufel laufen sie nach; sie stehen wenigstens im heimlichen Einverständnis mit meinen Feinden und wollen mich nicht lieben, mir nicht von Herzen dienen, und ob ich gleich so viele Wunder der Barmherzigkeit an sie gewendet habe, so ist es ihnen doch kein Ernst zu mir. Ein Ochse kennet seinen Herrn; ihr wisset ja alle aus eigener Erfahrung, wie ein Ochse seinen Herrn kennt, wie er ihm auf seine Worte achtet, wie er ihm auf seine Winke geht, ja, ich sage, wie er Zutrauen und Neigung zu seinem Herrn hat, wenn der Herr kein boshafter Tyrann gegen das arme Tier ist. Und ein Esel weiß, wenn er auch sonst nichts weiß, doch wenigstens die Krippe seines Eigners und merkt sich die Hand, die diese Krippe füllt. Aber wir nicht also; der größte Teil unter uns nicht also. Wir, ich sage es mit Schmerzen, kennen größtenteils unsern Herrn, den Heiland, nicht; wir gehen an unsere Krippe hin, die uns täglich wieder aufs neue gefüllt wird, und bedenken es nicht recht, von wem sie gefüllt wird, und beachten die gütige Hand unsers Wohltäters nicht und sind froh, wenn unser Gebet vor und nach dem Tisch hergesagt ist, welches wir deswegen tun, damit es doch auch aussehen solle, wie wenn wir Menschen oder gar Christen wären.

Wer ist so gnädig, Herr, wie du?
Wer kann so viel erdulden?
Wer sieht mit solcher Langmut zu
So vielen schweren Schulden,
Die aus der ganzen weiten Welt
Ohn‘ Unterlaß bis an das Zelt
des hohen Himmels steigen?

Es muß ein treues Herze sein,
das uns so hoch kann lieben,
da wir doch alle, groß und klein,
des Bösen viel verüben.
Gott kann nicht anders sein als gut,
daher fließt seiner Güte Flut
auf alle seine Werke.

(Ludwig Hofacker)

Eingestellt  am 12. Juni 2022