Die Lösung des behaupteten Widerspruchs… (Bezzel)

Wie? Heben wir denn das Gesetz auf durch den Glauben? Das sei ferne! sondern wir richten das Gesetz auf. (Römer 3, 31)

Νόμον οὖν καταργούμεν διὰ τῆς πίστεως; μὴ γένοιτο ἀλλὰ νόμον ἱστάνομεν. Röm ΙΙΙ., 31

Nomon oun katargoumen dia tēs pisteōs mē genoito alla nomon histanomen.

Die Lösung des behaupteten Widerspruchs in der protestantisch= evangelischen Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben allein und der Forderung an die Menschen, das Gesetz zu erfüllen.

Von Hermann Bezzel.
Ansbach 1845. Verlag der Dollfuß‘schen Buchhandlung (C. Fielitz.)
[Digitalisat]

Die Veranlassung zu vorliegendem Schriftchen gab die vom königl. bayerischen Consistorium Ansbach für das Jahr 1845 gegebene Synodalfrage:

„Ecclesia nostra docet ac tanquam fidei sum-
,mam proponit, nos sola fide, minime vero legis
„observatione vitam et beatitudinem aeternam con-
„sequi posse. Nihilominus constat, Christi opus
„salvificum, obedientia non solum passiva, sed
„etiam activa esse absolutum ejusque meritum ,
„ad nos vindicandum in utraque positum.‟

„Quaerendum est igitur, atque ex theologiae
„theticae formulis et sacrarum litterarum effatis
„demonstrandum:

„1) quomodo haec contradictio solvi et tolli
„possit, quod ut magis elucescat, eadem ratione
„habita explicetur;

„2) quem ad finem Christus obedientiam activam
praestare debuerit, atque

„3) nos legem observare jubeamur.‟

IV

Die zur Fixirung der Frage beigebrachten kurzen historischen Bemerkungen sind nur bis zum Abschluß der symbolischen Bücher geführt.

Ob es mir gelungen, die gegebene Frage einiger Maßen genügend zu lösen, mag das Urtheil der Leser entscheiden, denen ich diese Entscheidung durch Veröffentlichung dieses Schriftchens anheim stelle.

Ansbach, am 1. Mai 1845.

H. B.

Die lutherische Kirche und gleich ihr auch die reformirte, lehrt, daß der Mensch vor Gott  a l l e i n  d u r c h  d e n  G l a u b e n  gerechtfertigt werde. Der lutherischen Kirche ist dieses Dogma sogar der Angelpunkt der ganzen Dogmatik geworden, hervorgegangen aus dem tiefen Bewußtsein von der Sünde und von der Sündhaftigkeit jedes einzelnen Menschen, welchen dem großen Reformator Luther nach seiner tiefen Innerlichkeit im Gegensatze zu der damaligen katholischen Praxis zuerst klar geworden, und von ihm ausgesprochen ward.

Die Paulinische Lehre ist bekannt; sie war es ja, die Luthern leitete. Paulus theilte vor seiner Bekehrung die allgemeine Ansicht der Juden, daß man durch vollkommene Beobachtung und Erfüllung des Gesetzes Mosis vor Gott angenehm würde, mit andern Worten:Der Gerechtigkeit Gottes genug thue. Nach seiner Bekehrung betrachtet er das Gesetz nicht mehr als dazu gegeben, daß es erfüllt werden sollte, geschweige denn daß es erfüllt werden könnte von den Menschen, sondern in dieser Absicht sey es gegeben, daß die Menschen in demselben nach seiner geistigen Fassung sich immer mehr und mehr ihrer Sünden sowie ihrer Sündhaftigkeit bewußt würden und blieben; und daß durch dieses Schuldbewußtsein, das durch das Gesetz geweckt wird, die Sehnsucht nach Befreiung aus diesem elenden Zustande, in welchem der Mensch nicht thut, was er will, sondern das thut, was er nicht will, mit andern Worten das Gefühl der Erlösungsbedürftigkeit, geweckt und wach gehalten werde. Diese Erlösung ist jedoch nichts Anderes, als die Versetzung des Menschen aus dem Zustande der Ungerechtigkeit vor Gott in den Zustand der Gerechtigkeit vor Gott, aus dem Zustand der Knechtschaft unter der Sünde in den Stand der Freiheit der Kinder Gottes. Da dieser letztere

2

Zustand aber wegen der Unmöglichkeit der vollkommenen Erfüllung des Gesetzes nicht gewonnen werden kann durch eigne That des Menschen, so ist durch Christus die Möglichkeit dazu gegeben, sofern der Mensch an denselben glaubt. Der Glaube an Christus also ist das Mittel, wodurch der Mensch vor Gott als gerecht gilt, und zwar dieser Glaube allein, nicht die Werke des Gesetzes *).

Dadurch aber, daß Paulus den Glauben an Christum als das alleinige Mittel zur Erlangung der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, hinstellt, hat er noch keineswegs die guten Werke aus dem Leben des Menschen ausgeschlossen: vielmehr seine Briefe sind reich an nachdrücklichen Ermahnungen an seine Freunde, den Anforderungen des Moralgesetzes Genüge zu leisten: wo aber irgend eine Polemik gegen die Werke sich findet, so sind diese Werke entweder nur die rein jüdischen Gebräuche, das Ceremonialgesetz, oder diese Polemik geht gegen die Annahme und gegen den Wahn, daß in den Werken etwas vor Gott Rechtfertigendes liege. Keineswegs als ob für den durch den Glauben Gerechtfertigten das Gesetz vernichtet sei, oder daß derselbe ein gewisses Privilegium darauf habe,

*) Phil. 3, 4; Röm. 3, 10; 7, 7; 5, 20; 3, 20; 5, 1

3

es zu übertreten *), sondern der durch den Glauben Gerechtfertigte tritt nur in ein anderes Verhältniß zu dem Gesetze in seinem Innern, nämlich dem Gewissen, wenn er ein Heide, zu dem mosaischen Gesetze der zehn Gebotę, wenn er ein Jude gewesen war, als der, welcher in der Erfüllung des Gesetzes vor Gott gerecht zu werden trachtet.

Nicht allein jedoch bei Paulus, obgleich dieser freilich die Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben allein, und nicht aus den Werken, in den Vordergrund gedrängt und am schärfsten ausgeprägt vorgetragen hat, was nach seinem ganzen Lebensgange gar nicht schwer zu begreifen ist; sondern auch schon in den Evangelien, in den Aussprüchen des Herrn selbst, finden wir den Kampf gegen die Gerechtigkeit aus den Werken deutlich ausgeprägt Wenn nun aber der Apostel Jacobus II., 24 mit unzweifelhaften Worten:  „Sehet ihr daß der Mensch gerecht werde aus den Werken und nicht aus dem Glauben allein‟, im Widerspruche mit Paulus zu stehen scheint, so ist dieser Widerspruch auch wirklich nur ein scheinbarer: denn 1) gibt er sogleich mit diesen Worten zu, daß der Glaube ein rechtfertigendes Moment sei, und 2) geht aus dem ganzen Zusammenhange seiner Exposition hervor, daß er den Begriff der  πιστις [pistis] nur dahin modifizire, daß sie eine lebendige sein müsse, nicht aber negirt oder den Werken gegenüber aufgehoben wissen will **).

*) Röm. 6, 15. Τί οὖν; ἁμαρτήσωμεν ὅτι οὐκ ἐσμὲν ὑπὸ νόμον ἀλλὰ ὑπὸ χάριν; μὴ γένοιτο.

  1. 22 νυνὶ δέ ἐλευθερωθέντες ἀπὸ τῆς ἁμαρτίας δουλωθέντες δὲ τῷ Θεῷ, ἔχετε τὸν καρπὸν ὑμῶν εἰς ἁγιασμόν, τὸ δὲ τέλος ζωὴν αἰώνιον.

**) Durch diese Modifizirung des Begriffs der πιστίς [pistis] entsteht ein formeller Unterschied im Gebrauche des Wortes von Seite Pauli und Jacobi, Paulus kennt nur eine πιστίς, die rechtfertigende: Jacobus deren zwei, nämlich die lebendige, welche mit der paulinischen Fassung stimmt und die todte die nichts Rechtfertigendes in sich schließt. Jac. II, 22: βλέπεις ὅτι ἡ πίστις συνήργει τοῖς ἔργοις αὐτοῦ, καὶ ἐκ τῶν ἔργων ἡ πίστις ἐτελειώθη,

4

Wer die Geschichte der in der Zeit sich allmählich erst in bestimmte Fassungen sich entwickelnden Dogmen einiger Maßen kennt, den wird es nicht befremden, daß dieses Dogma von der Rechtfertigung durch den Glauben unangefochten bestand, und ebendeßwegen im Verhältniß zu andern Glaubenssätzen weniger scharf hervortrat *). Man hatte in den ersten acht oder neun Jahrhunderten mit den Bestimmungen, die den christologischen Theil der Dogmatik betrafen, zu viel zu thun, und in den spätern Jahrhunderten bis auf die Reformation bemächtigte sich die Scholastik der ehedem streitigen Punkte und führte sie bis ins Allereinzelste aus, wodurch allerdings stets neue Streitigkeiten hervorgerufen wurden, die aber nicht das einmal festgeseßte Dogma alterirten, sondern nur die weitere Ausführung desselben, wodurch es dem Verstande oder dem Gemüthe faßlich gemacht werden sollte.

Die Anfechtung unsers Satzes von der Rechtfertigung aus dem Glauben allein ging aber nicht von der Theorie aus, sondern entwickelte sich allmählich in der Praxis. Erwerben will der Mensch, nicht geschenkt erhalten; erringen durch seine Mühe und sein Verdienst will er, aber Gnade dünkt dem hochmüthigen Herzen unwürdig: dieß die Erfahrung des Alltaglebens: dieß möchte der Mensch auch in Bezug auf seine Seligkeit, die mit seiner Gerechtigkeit vor Gott fällt oder von derselben getragen wird. Diese Neigung hatte das Papstthum in seiner Entwicklung unterstützt und gefördert, weil es selbst dadurch im eig‘nen Wachsthum unterstützt und gefördert wurde. Die Reue im Gemüth, die die Vorläuferin jeder Besserung ist, suchte ihre Aeußerung; bald galt Aeußerung der Reue für

*) Bei dem Streite zwischen Augustin und Pelagius handelte es sich zunächst keineswegs um die Rechtfertigung durch den Glauben allein, sondern dieser Punkt war nur die natürliche Consequenz der differirenden Ansichten von der Erbsünde.

5

diese selbst; den Priestern, die als Menschen nicht nach der Gesinnung, sondern nach der Außenseite der That urtheilen mußten,  m u ß t e  natürlich die Aeußerung der Reue genügen und bald genügte ihnen diese allein. Das Pönitenzwesen [lat. poenitentia = Buße] und die äußere Kirchenzucht erhielten dadurch im Gegensatze zu aufrichtiger Buße ihre alleinige Herrschaft. Zwar fühlten die Mystiker der letzten Jahrhunderte vor der Reformation dieses Unwesen; demselben zu steuern, es zu vernichten, waren sie nicht im Stande: denn sie hatten mit jenem im Menschen wohnenden Dämon, den Schein für das Wesen zu halten, zu kämpfen. Das Pönitenzwesen, das doch noch immer einige Früchte tragen konnte: (denn manchmal sucht ein tieferes Gemüth hinter dem Scheine das Wesen zu ergründen) ward zuletzt von schlauen Päpsten zur Sättigung ihrer Habsucht ausgebeutet, indem sie die Kirchenstrafen, und mit diesen, wie die Leute fest glaubten, auch die Schuld der begangenen Sünden für Geld nachließen.

Somit war der Glaubenssatz, daß der Mensch durch den Glauben vor Gott gerecht werde, in der Praxis nicht sowohl alterirt, als vielmehr gänzlich negirt und aufgehoben. War es daher wohl ein Wunder, wenn Luther nach seiner tiefen Innerlichkeit, dessen Gemüth nicht einmal im Pönitenzwesen Ruhe finden konnte, an dem schamlosen Treiben eines Tetzel Anstoß nahm? Kann es uns auch nur einiger Maßen befremden wenn dieser schriftbewanderte Mann den Satz: „durch den Glauben allein werden wir vor Gott gerecht,“ mit aller Schärfe hervorhob? Ganz gewiß eben so wenig, als daß ihm sofort in seiner Opposition gegen den bestehenden Gebrauch eine solche Menge beifiel, ihm, dem unbekannten Augustiner=Mönche.

So tritt denn in unsern symbolischen Büchern der Satz, daß der Mensch gerecht werde vor Gott  a l l e i n  durch den Glauben mit allem Gewichte und Nachdrucke *) hervor, und

*) Vergl. Conf. August. IV. Art. de justit. u. VI., 2. XX, 9-12.

6

ist wie seiner Entwicklung, so auch seinem Werthe nach der Grundsatz der evangelisch=lutherischen Kirche geworden. Auch die Katholiken, gedrängt durch die Argumente, theils der Schrift, theils des eignen Gemüthes und der Erfahrung, konnten sich gegen seine Wahrheit nicht ganz abschließen, und nach langen und stürmischen Debatten in mehreren Congregationen wurde in der sechsten Session des Tridentiner Concils im achten Lehrkapitel folgendes festgesetzt:

„Was der heilige Paulus sagt, daß der Mensch gerechtfertigt werde durch den Glauben und umsonst, ist so zu verstehen, daß der Glaube den Anfang und die Grundlage und Wurzel des menschlichen Heils ausmacht, und daß aber nichts von dem, was der Rechtfertigung vorangeht, weder der Glaube, noch die Werke, die Gnade der Rechtfertigung verdient“  *).

Obgleich nun dieses Lehrkapitel den Glauben den Anfang, die Grundlage und die Wurzel des menschlichen Heils nennt, so ist doch Folgendes nicht zu übersehen; nämlich 1) daß, wie Paul Sarpi in seiner Geschichte des Concils von Trident **) selbst erzählt, man in Rom wußte und billigte, daß das Concil den Zweck hatte, alle Sätze Luthers zu verdammen, sei es auch nur deßwegen, weil Luther sie aufgestellt hatte;

Apol. Conf. Art. II. de justif. und besonders in Form. Conc. Art. III. De justitia fidei coram Deo.
*) Conc. Trid. Sess. VI. C. VIII. Quomodo intelligitur impium per fidem et gratis justificari.
Cum vero apostolus dicit, justificari hominem per fidem et gratis; ea verba in eo sensu intelligenda sunt, quem perpetuus ecclesiae catholicae consensus tenuit, et expressit; ut scilicet per fidem ideo justificari dicamur, quia fides est humanae salutis initium, fundamentum et radix omnis justificationis: sine qua impossibile est placere Deo et ad filiorum ejus consortium pervenire: gratis autem justificari ideo dicamur, quia nihil eorum, quae justificationem procedunt, sive fides, sive opera, ipsam justificationis gratiam promeretur.
**) Vergl. Sarpi, Gesch. des Conc. V. Trid. Hrsggb. von Winterer 2ter Band; S. 126.

7

2) daß die evangelisch=lutherische Kirche nie gelehrt hat, daß der Mensch durch den Glauben, gleichsam als ob dieser das einzige gottwohlgefällige Werk wäre, die Rechtfertigung  v e r d i e n e,  sondern stets wird gelehrt: non propter, sed per fidem justificari hominem, nämlich der Glaube ist nur das  M i t t e l  der Rechtfertigung von Seite des Menschen, nicht der Grund derselben; und

3) daß aus den vorhergehenden Lehrkapiteln, sowie aus dem vorliegenden selbst deutlich bervorgeht, daß der Begriff der Rechtfertigung den Katholiken ein anderer sei, als den Evangelischen, und mit dem Begriff der Rechtfertigung auch der Begriff des Glaubens *).

Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, die Differenzen in der Auffassung dieser Begriffe weitläuftg deduciren zu wollen; allein sie kurz hinzustellen, ist deßwegen nothwendig, damit der im Gegensatz zur römisch=katholischen Kirche entstandene evangelisch=protestantische Glaubenssatz, daß der Mensch allein durch den Glauben gerechtfertigt werde, klar und sicher verstanden werde. Aus dem Streben des Protestantismus, scharfe Bestimmungen zu geben und dieselben mehr abstract hinzustellen, während die concrete Anschauung im römischen Katholicismus dominiert, welche in ihren Begriffen sich möglichst genau an die sinnliche Wirklichkeit hält, ist wie andere, so auch diese dogmatische Differenz zu erklären. Dem Katholiken nämlich ist die justificatio ein fortdauernder, allmählich sich entwickelnder Zustand, mehr die Zukunft, als die Vergangenheit

*) Man vergl. Trid. sess. VI, de justif. c. 7 Justificatio non est sola peccatorum remissio, sed et sanctificatio, et renovatio interioris hominis per voluntariam susceptionem gratiae et donorum.
Dagegen hat die Concordienformel, um die Hinneigung einiger Protestanten zum römischen Katholicismus stracks abzuschneiden:
Sol. decl. III., 4  fidei justitiam esse remissionem peccatorum, reconciliationem cum Deo et adoptionem in filios Dei propter solam Christi obedientiam, quae per solam fidem ex mera gratia omnibus vere credentibus ad justitiam imputetur, ita ut ipsi propterea ab omni injustitia absolvantur .

8

berücksichtigend, abhängig gemacht von der Thätigkeit des von der Gnade Gottes ergriffenen Menschen, hingegen dem evangelisch=protestantischen Lehrbegriffe ist die Rechtfertigung ein nur momentaner Act, der die Vergangenheit, nämlich die schon begangenen Sünden und die bestehende Sündhaftigkeit in’s Auge faßt, und nur Passivität von Seite des Menschen voraussetzt, der jedoch durch den Glauben desselben bedingt ist. Mit dieser Differenz im Begriffe der Rechtfertigung ist auch mehr oder minder die Differenz im Begriffe des Glaubens gegeben: die Katholiken trennen nämlich den Glauben von der Liebe nicht scharf, sondern Liebe und Glauben fällt ihnen in Eins zusammen; es läßt sich kein wahrer Glaube denken ohne Liebe, so wenig wie eine wahre christliche Liebe ohne den Glauben *).

*) Wir dürfen hier nicht unbemerkt lassen, daß die Katholiken selbst im Begriffe des Wortes fides schwanken, indem sie zweierlei Arten von fides annehmen, gestützt auf die Stelle Jac. II., 20, wo es von den Dämonien heißt, daß auch diese glauben. Sie scheiden zwischen fides informis und fides charitate formata, totem und lebendigem Glauben. Allein fides informis, ein Glaube, der seinem Wesen nicht mehr entspricht, möchte doch wohl kein Glaube mehr genannt werden. Nennen sie aber die fides charitate formata den wahren Glauben, durch den der Mensch gerechtfertigt werde, so liegt ihnen die Kraft der Rechtfertigung nicht im Glauben, sondern in der Liebe. Die fides an und für sich ist ihnen informis, rechtfertigt also auch nicht; allein die charitas formiert, belebt sie, macht die fides zur rechtfertigenden. Aber was rechtfertigt denn hier? Der an und für sich tote Glaube oder die den Glauben belebende Liebe?
Durch diese doppelte Auffassung der fides ist eine Polemik mit den Katholiken über diesen Punkt äußerst erschwert, ja fast unmöglich, indem sie mit dem Worte fides zwei ganz heterogene Zustände bezeichnen. Zudem hat der bei ihnen gültige Glaubenscodex, das Concil von Trident, über den Begriff des Glaubens nichts festgesetzt, vielmehr waren über denselben neun verschiedene Ansichten vorhanden. Nur so viel wurde auf Dominik Soto’s Vorschlag gebilligt, daß im Glauben zwei Begriffe enthalten seien 1) Wahrheit und Zuverlässigkeit von Seite desjenigen, der etwas sage von Seite Gottes und 2) herzliches Beistimmen dessen, der das Versprechen erhalte, von Seite des Menschen. Den rechtfertigenden Glauben, wie Luther tue, für ein Vertrauen und die Gewißheit im Herzen des Gläubigen, daß ihm um Christi willen die Sünden vergeben seien, zu erklären, sei eine Ketzerei, weil Vertrauen fast gleich bedeutend mit Hoffnung sei!!!

(Auszug)

(Hermann Bezzel)

Eingestellt am 23. Januar 2022 – Letzte Überarbeitung am 25. Juni 2022