Johannes 17, 2 (Bezzel)

Gleichwie du ihm Macht gegeben hast über alles Fleisch. (Johannes 17, 2a)

Ohnmacht und Allmacht in Jesu Gnade und Erbarmung vereint. Denn alles Fleisch ist [wie] Gras (1. Petrus 1, 24), und was von Fleisch geboren ist, teilt das Los der Vergänglichkeit, die unter der Last dieser Erkenntnis hilflos zusammenbricht. Du arbeitest, und es besteht nicht, du mühst dich ab, und es bleibt nicht: Deine Zeit vergeht in Unruhe, und sie erreicht nichts.

Und wer von der Arbeit ließe, um zum Genusse zu gelangen und die Last des Lebens über seiner Lust vergessen wollte, der würde bald gewahr, daß die Welt mit ihrer Lust vergeht (1. Joh. 2, 17). Es ist auch eitel und Jammer. „Alles Fleisch“, sagt der Herr aus der tiefen Erkenntnis von Erdenwesen und Menschenwerten in Rückblick auf alles Große, was geschehen ist, und im Ausblick auf das, was noch geschehen, soll, „bis an die Enden der Erde“. Es ist das göttliche Erbarmen, das ihn so sprechen läßt, nicht nur das Wissen um das elende Leben und nicht allein „das Gedächtnis daran, daß wir Staub sind“ (Psalm 103, 14). Denn er weiß, welche Not das Menschenherz erfüllt und bewegt, und da er aller Dinge seinen Brüdern gleich geworden ist, hat er auch das Weh der Erfolglosigkeit getragen: „Ich dachte, ich brächte meine Zeit unnützlich zu“ (Jesaja 49, 4).

Und darum, weil die ewige Allmacht aus herzlicher Herablassung in die Ohnmacht eingegangen ist, und Fleisch ward, zu dem allem, was Jesus unter Fleisch und Leid versteht, eingekehrt ist, hat ihm Gott Macht über alles Fleisch gegeben, nicht es zu richten, denn es ist an sich und in sich wahrlich genug gerichtet, sondern es zu retten und zu trösten, aus der Trauer zu reißen und mit Freude zu erfüllen, indem er das heilige Geheimnis der Wiedergeburt die erleben läßt, die zu ihm flohen.

Wie aber das „alles“ jedes Leben einschließt, ob es in äußerem Glanze oder in Nacht und Traum auch äußerlich hingebracht wird, so umfaßt das Erbarmen alle, die sein begehren. Da ist kein Schächer so verkehrt und verloren, daß nicht die Gnade in letzter Stunde zu ihm sich wende und auf ein verlorenes und verurteiltes Gestern ein gnadenvolles Heute folgen lassen könnte, in dessen stillem Glanze ein verlorenes Paradies sich öffnet und aus Vergebung, Leben und Seligkeit über wüstes Land hinströmt. Da ist kein Denker so hoch, daß ihn nicht das unausdenkbare Erbarmen entwaffnete und einladen könnte Kind zu werden, um Erbe zu sein. Da ist Saulus ein Lästerer, Verfolger und Schmäher; die Stunde von Damaskus erreicht ihn, und das heilige Also gibt seinem Leben den wahren Inhalt und den ewigen Wert.

Macht über alles Fleisch in Christi Händen! Das ist die alle Seelsorge erfüllende Kraft und der alle ihre Angst beschämende Trost. Die unsrer Sünde und Schwachheit, unserer Fehlsamkeit und Lauheit befohlenen Seelen sind einer ewigen, alles umfassenden, niemanden ausschließenden, alle zu tragen bereiten und geschickten Gotteskraft anvertraut, die viel tausend Weisen hat und kennt, aus dem Tode zu retten. Sie kann die Trotzigen zerbrechen und ihrer mächtig werden, ein geringes Wort zu einer festen Burg machen, dahin Verzagte sich retten, kann dem Widerstand und dem Abfall wehren, Dämme aufwerfen und Wehren niederreißen, Tore auftun und zuschließen. Sie befiehlt dem Worte, daß es nicht leer zurückkomme, und wehrt dem Feinde, der es aufhalten will

Aus dieser Kraft hat Jesus die Welt überwunden, in dieser Gabe will er jedem Kampfe beistehen, der gegen das Fleisch sich aufmacht und es sich ernst sein läßt, zu überwinden. Niemand ist in diesem Kampfe allein, denn mit ihm ist der, welcher ins Fleisch kam, um allen zu helfen, welche von ihm versucht werden.

Du hast es gegeben, darum kann es niemand nehmen. Darum will auch der Sohn weiter geben. Wie oft klingt durch diese Abschiedsreden das Wort, in dem die größte Wohltat liegt, so daß der Apostel als eine Rede seines Herrn anführen kann: Geben ist seliger als nehmen.

Der Vater gibt und wird nicht arm, der Sohn gibt und gibt sich nicht aus, die Jünger dürfen geben. Alles Geben macht reich, denn es hat Genuß der Freude am Besitze, der erst in seiner Größe erscheint, wenn er andre bereichert.

Auf daß er das ewige Leben gebe allen, die du ihm gegeben hast.
(Johannes 17, 2b)

Wer aber sich Jesu erschließt, empfängt nicht nur Stärkung im Kampfe und Hilfe in dem, was ihn bedrängt, sondern die Kräfte, welche den Kampf immer mehr zurücktreten lassen und schließlich das ganze Leben zu einem wahrhaft des Lebens werten erheben. So schwer der Gedanke sein müßte, in fortwährendem Streite aussichtsloser Dauer die Kraft ohne Nutzen zu verzehren und zu zerreiben, so tröstlich ist die gewisse Zuversicht, daß jeder, den Gott an den Lebensfürsten gewiesen und der diesem seligen Zuge des Vaters zum Sohne sich geöffnet hat, ewiges Leben habe. Denn wo Jesus einkehrt, weil man ihn ruft, und ohne ihn nicht sein will und sein kann, da kommt ein Leben mit, das die Wahrheit von alle dem ist, was wir als Leben ahnen, Reinheit der Gedanken, die sich nimmer verklagen und entschuldigen müssen, sondern auf eines gerichtet sind, daß sie vor Gott bestehen und ganz in ihm und seiner Klarheit stehen möchten. Denn wo die Seele nur den einen Gedanken hat, daß sie vor und bei dem bleibe, der sie geschaffen und zu sich gezogen und für sich bestimmt, hat, da kehrt eine große, siegreiche und selige Kraft ein, die alles Widrige vertilgt und alles Kleinliche vertreibt. Die Seele ist in dem Gotte ihres Lebens frei geworden. So wird jede Äußerung ihres Lebens nicht Raub an ihm und Minderung, wie es die Sünde tut, sondern neue Stärkung und große Ermutigung. Was aus dem Leben von Gott und in ihm ausströmt, das strömt als Leben wieder zurück. Wie unbedeutend ist ein Wort, schneller verhallt als gesagt, und wie groß ist seine Wirksamkeit, wie bedeutsam seine Wirkung. Von der Hölle entzündet setzt es viel blühendes edles Leben in Gefahr, verdirbt und verheert, zerstört und hält auf. Es brennt in die Tiefe und entfacht dort die Glut der Leidenschaften, des Zorns und der Rache, der wilden Begehrlichkeit und des bittren Neides. Es schlägt in die Höhe und verheert manch hohes Glück.

Wenn es aber von dem Leben aus Gott beherrscht und erfüllt ist, bringt es Freude am Großen und Rechten in die Herzen hinein, in die Welt hinaus, heiligt es das öffentliche Leben und wäre es nur ein Zeugnis dagegen: Es ist nicht recht. – Es tröstet die Traurigen mit der Unmittelbarkeit der Gewißheit, daß Jesus unser Friede ist, und ermutigt die Verzagten durch das Bekenntnis der Tatsache und des Erlebnisses vom Siege des Herrn, es bezeugt den endlichen und ewigen Triumph des Heiligen allen Herzen, die um dessen Los bekümmert sind. Denn Jesus gibt aus seiner Kraft das Wort von ihm. So ganz von ihm erfüllt und stark in Christo geht das Wort nicht geduldet, nicht bedrängt und gedrückt, sondern voll guter Zuversicht durch die Welt, daß sie noch einmal ganz Gottes und Christi werde.

Ewiges Leben ist Ruhen und Tun in gleichem Grade. Es ruht in der stillen und starken Gewißheit, daß, wenn Gott für uns ist, niemand wider uns sein kann (Römer 8, 31), und wirkt aus dieser alle Feinde verachtenden und zerstreuenden Zuversicht gegen alle Macht und Gewalt des Todes. Die Ruhe des Lebens ist Tat, und die Tat des Lebens Ruhe. Jene birgt sich in Gott, und diese bezeugt ihn durch ihre Gelassenheit.

Welche Größe liegt in der Gabe Jesu, der allen alles gibt und nie verarmt. Ich gebe ihnen das ewige Leben, so spricht der, in welchem alle Fülle ist, der sich nie ausgibt und nie in die Sorge kommt, sich ausgeben zu müssen, der wie das Meer alles zurücknimmt, was er aussandte, alle Geschenke und alle mit ihnen Bedachten wieder zurückempfängt, nicht weil er sie braucht, sondern weil sie es wollen, um ihm danken zu können. Ich – ihnen: das sind die größten Gegensätze, die Heiligkeit und Sünde, Allmacht und Ohnmacht, Licht und Dunkel bezeichnen, einzig durch ein Wort zusammengeschlossen, das aus dem Meere des Reichtums in die Welt der Armut hinüberleitet: Ich gebe. Wie der Sohn alles vom Vater empfangen hat, um es zu geben, so darf jeder vom Sohne alles erwarten, der nicht vom Geben, sondern im Geben und durchs Geben lebt und seiner Gemeinde das Wort hinterlassen hat, daß Geben seliger sei als Nehmen. Reichtum für sich ist Armut durch sich. Aber die Armut für andere wird zum Reichtum im Eignen.

Solche Grundwahrheiten der Ewigkeit vertragen es, eine kleine Weile verdüstert und verkürzt zu werden, treten hinter der grauen trüben Gegenwart zurück, ja sie erscheinen wie Unglaubhaftigkeiten.

Aber dann treten sie licht und groß hervor. Ewiges Leben ist die Kraft, die Gabe, die Freude der Liebe, die nie aufhören kann. Denn in Gott wohnt es und von ihm kommt es, er aber ist die Liebe. Und diese Liebe verklärt den Sohn, dem und in dem sie sich gibt, und wird von ihm verklärt, der liebt, indem er leidet, und leidet, weil er liebt, der auch da gibt, wo die Empfänger die Gabe verschmähen, so lange er hoffen kann, daß sie doch zu ihr sich wenden. Wenn die Seele nur recht in dieser Gabe der Liebe und des Lebens sich heimisch fühlen wollte, dann könnte nichts mehr sie betrüben. Ja, wenn sie nur darüber trauern wollte, daß sie so wenig noch von der Gabe Gottes in Christo lebt, dann würde diese Freude niemand von ihr nehmen.

(Hermann Bezzel)

Quelle:

Betrachtungen über das Hohepriesterliche Gebet, Johannes 17. Von Hermann Bezzel. Vierte Auflage. Neuendettelsau, Buchhandlung der Diakonissenanstalt, 1924. [Online bei Wikisource]


Übersicht Johannes-Evangelium

Eingestellt am 10.  Juli 2024