Buch III. – 1. Oetinger

Wir haben schon mehrfach einen Mann erwähnt, welcher einer der bedeutendsten Schüler Bengels war und nächst diesem vielleicht am meisten Einfluß auf die innere Gestaltung des christlichen Lebens in Württemberg, namentlich unter dem Volk, ausgeübt hat. Es ist das der a.[nno] 1782 verstorbene Prälat Friedrich Christoph Oetinger.

Derselbe wurde am 6. Mai 1702 in Göppingen geboren, wo sein Vater Stadtschreiber war. Als er heranwuchs, bekam er seiner Mutter Bruder, den M. Wölfing, zum Informator (Lehrer). Dieser war ein gottesfürchtiger Mann, behandelte aber den Knaben nicht ganz richtig, indem er ihn hart hielt. Einstmals mußte der Knabe, als er 7 Jahre alt war, abends vor dem Einschlafen einen ganzen Rosenkranz von Liedern herbeten. Endlich wurde er ungeduldig und dachte: „Wenn ich doch auch wüßte, was ich bete!“ Er kam an das Lied: „Schwing dich auf zu deinem Gott, du betrübte Seele“ u. s. f. Da fühlte er sich angetrieben zu verstehen, was es sei, sich zu Gott aufschwingen. Er bemühte sich inwendig darum vor Gott und siehe, da empfand er sich aufgeschwungen in Gott. Er betete das Lied ganz aus, da war kein Wort, welches nicht ein deutlich bestimmtes Licht in seiner Seele zurückgelassen hätte. Diese Erfahrung hatte einen Einfluß auf sein ganzes Leben. Auch Träume, welche er von den Gefängnissen der Unseligen nach dem Tode hatte, wurden ihm sehr eindrücklich. Indessen wurden diese Eindrücke durch die harte Behandlung, welche er auch von seinem Präzeptor Kocher, einem rechten Schultyrannen, zu erleiden hatte, wieder zurückgedrängt.

Er bekannte später: „Der Zorn und Grimm machte mich so bös, daß ich fluchte, wie ein Hamburger Schiffer; und daraus folgte dann ein von Gott abtrünniges Leben und viele Sünden der Jugend, doch immer mit viel Zaum und Bewahrung.“ – So ging’s fort bis ins 14. Jahr. Da gab ihm eines Sonntags seine Mutter, während sie selber zu einem Spaziergang ausging, auf, mittlerweile in der Bibel zu lesen, indem sie sagte: „Ich befehle dir, nicht vom Stuhl aufzustehen, bis du etliche Kapitel gelesen.“ Der Sohn dachte: „ja, ihr könnt schon befehlen; ihr geht spazieren und ich soll nun lesen!“ – Er fand den Propheten Jesaia und bekam Kap. 54, 11-14 zu Gesicht. Er las das mit Begierde und dachte seufzend: wenn diese schönen Sachen mich angingen, so wäre es der Mühe wert, mich zu bekehren.“ Er las weiter und empfing einen tiefen Eindruck von der Schönheit des göttlichen Worts, welcher der Grund wurde zu seiner späteren Schrift über Jesaia: „Etwas Ganzes vom Evangelio.“ Doch brachte auch dieser Eindruck vorläufig noch keine Umänderung bei ihm hervor.

Er war seinem Informator und Präzeptor so feind, daß er ihnen hätte Gift geben können, und daß er schon mit dem Gedanken umging, aus dem elterlichen Hause zu entlaufen und nach Amerika zu fahren. Endlich nahm ihn sein Vater aus der Schule des Tyrannen weg, und nun legte er sich mit großem Eifer auf Lernen und Lesen. So war er (1715) in einer Nacht noch zwischen 1 und 2 Uhr mit einem Buch beschäftigt; da hört er plötzlich ein Geschrei, die Mutter wolle sterben. Sie hatte einen Blutsturz bekommen und lag wie tot auf ihrem Bett. Er sah es mit Schrecken, ging sogleich wieder in sein oberes Zimmer, warf sich vor Gott auf sein Angesicht und bat mit voller Zuversicht um ihr Leben. Gott erhörte sein Schreien, und die Mutter wurde wieder gesund.

Klosterfront Blaubeuren
Bild: Laurids, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Im Herbst 1717 kam er in die Klosterschule zu Blaubeuren, wo er den Unterricht des edlen Klosterpräzeptors Weissensee genießen durfte. Derselbe hatte die löbliche Gewohnheit, jeden Zögling nach dem öffentlichen Abendgebet zu fragen, wie er seinen Tag zugebracht, was für Züge Gottes an sein Herz gekommen. Diese Unterredungen des würdigen Lehrers gaben dem jungen Oetinger manchen Antrieb zum Guten. Nach dreijährigem Aufenthalt in Blaubeuren studierte er 1720-22 in Bebenhausen; hier kam es mit ihm vollends zur Entscheidung.

Da er ein Jüngling von guter Gestalt und wegen seines Studierens und seiner Kenntnisse berühmt war wurde ihm nahe gelegt, er solle die Rechte studieren,  dann werde er es in der Welt weiter bringen, als wenn er bei der Theologie bleibe; auch seine Mutter, nicht frei von ehrgeizigen Gedanken, war dafür, obgleich der Vater ihn für die Theologie bestimmt hatte.  Dem Jüngling selber wurde die Entscheidung sehr schwer, und es entstand ein harter Kampf in seinem Innern. Der Klosterpräzeptor Weismann sagte daher einmal zu ihm:  „Warum versäumt Er die Zeit, Jura zu studieren? Gehe Er einmal hin, wohin Ihn Sein Zug neigt.  Er taugt besser zur Welt als zu einem Geistlichen; Er hat Gaben zu einem Politico; ich wüßte mir Ihn nicht vorzustellen als einen Andächtigen“. Der Jüngling aber sprach bei sich selbst: Mein Herr, wie wißt ihr so gar nicht, was in meinem Innersten für Gedanken sind! Ich habe eine viel größere Neigung zur Gottseligkeit, als der Augenschein angiebt“. Endlich gab der Vorsteher, Prälat Joh. Andr. Hochstetter, dem Unentschlossenen den Rat:  „gehe Er hinein in Seine Kammer, falle Er nieder vor Gott und bete Er um eine feste Entschließung“.  Wie ein Pfeil fuhr Oetinger in seine Kammer, fiel nieder auf die Kniee und wollte beten, konnte aber nicht, weil er so viel Neigung zur Welt als zu Gott hatte.  Da kam ihm in den Sinn:  „Was ist’s hernach, wenn du auch die prächtigsten Kleider trägst, zu befehlen hast und allen Gipfel der Ehre erreichst? Es ist doch besser, Gott dienen“. Darauf rief er Gott von ganzem Herzen an, er möchte ihm alle Absichten auf die Welt aus der Seele nehmen. Und das geschah sogleich.  Er entschied sich für die Theologie (a. 1721) und ward von Stund an ein anderer Mensch; er war nicht mehr „galant in Kleidern, ging nicht mehr in Gesellschaft, redete wenig, las Gottes Wort und nicht mehr in allerlei weltlichen Schriftstellern“.

Seine Mitzöglinge sahen seine Veränderung und wunderten sich, kamen aber, da sie ihn in seinem Zimmer oft beten sahen, zuletzt mit dem Verlangen zu ihm, daß er auch mit ihnen bete, was er denn auch in Einfalt that.  Weil er nun aber den Grund aller theologischen Wahr heiten so klar wissen wollte, wie er ehedem das Lied: „Schwing dich auf“ verstanden, so kam er in ein solch ängstliches Suchen hinein, daß er am Leib ganz abzehrte, eine allen Heilmitteln trotzende Geschwulst am Hals bekam und schließlich nach Haus mußte. In dieser Zeit der Not traten ihm seine vielen Jugendsünden, die Flüche gegen seine ersten Lehrer u. s. f. vor Augen, und er mußte etwas von dem empfinden, was David in seinen Bußpsalmen empfand.  Zugleich geriet er in Gemeinschaft mit Inspirierten, deren Anführer Rock aus der Göppinger Gegend gebürtig war und mit denen Oetinger schon von Blaubeuren aus sich etwas eingelassen hatte. Er suchte ihre Sache genau zu prüfen, konnte sie nicht verdammen, aber auch nicht annehmen, und machte sich durch Gebet von ihnen los.

Im Herbst 1722 bezog er endlich die Universität Tübingen. Während seines Aufenthalts daselbst studierte er unter Bilfinger die Philosophie gewissenhaft, schloß sich aber eng an andere gläubige Studenten an, wie Jer. Fr. Reuß und Steinhofer, suchte auch den edlen Knecht des Herrn, Bengel, recht auszunützen und kam deshalb so oft zu diesem nach Denkendorf, daß derselbe ihm bedeuten mußte, er komme gar zu häufig.  Entscheidend war aber für seine innere Entwicklung ein einfacher, von vielen als Phantast verlachter und allerdings in manchen Dingen sonderbarer Laie, der Pulvermüller Joh. Kasp. Oberberger, ein großer Verehrer des Theosophen Jakob Böhme.  Dieser machte ihn auf Böhme’s Schriften, welche „die rechte Theologie“ seien, aufmerksam. Oetinger fand zwar, als ihm der Pulvermüller das Buch zum erstenmal zeigte und er die sonderbaren Ausdrücke darin las, keinen Geschmack daran, hatte aber hernach doch keine Ruhe, bis er dasselbe zum Lesen erhalten hatte.  Er wurde davon ganz hingenommen und erfuhr eine völlige Umwälzung in seinen Gedanken und Anschauungen. Daneben las er die Kirchenväter sehr fleißig und vertiefte sich in seinem unersättlichen Wissensdurst auch in rabbinische und kabbalistische Schriften.

* Über die Problematik der Beschäftigung des pietistischen Geistlichen Oetinger mit mystischen (Kabbala), theosophischen und anderen okkulten Grenzgebieten wie der Alchemie siehe die entsprechenden Erläuterungen auf der Seite Friedrich Christoph Oetinger.

Im Jahr 1727, nachdem seine Mutter gestorben war, hätte er die Universität verlassen können, allein es stand noch gegen 1½ Jahre an, bis er von Tübingen abging, indem er, ohne Zweifel durch die Bitten seiner sterbenden Mutter bewogen, sich dort dem Unterricht seiner drei jüngeren Brüder widmete und ihre Studien überwachte.

Endlich 1729 schied er von Tübingen, um auf Reisen zu gehen.  In Frankfurt fand er Gelegenheit, seine kabbalistischen Studien fortzusetzen; in Berleburg besuchte er die dortige Separatistengemeinde,  in Jena traf er mit A. G. Spangenberg zusammen, der dort Vorlesungen und Erbauungsstunden hielt.  Einer solchen Stunde, in welcher 50 bis 60 von allen Fakultäten auf ihr Angesicht fielen und beteten und dann eine Unterredung über das Wort Gottes hatten, wohnte auch Oetinger an und folgte ihrer Aufforderung, auch etwas zu reden, merkte aber bald, daß sie in ihren Begriffen für das, was er sagte, nicht recht gestimmt waren. Seine innere Entwicklung und Anschauung war eben anders als die der Jenenser. In Halle verweilte er länger und hielt auch Vorlesungen, entschloß sich aber dann zu einem Besuch in Herrnhut, das eben damals anfing, bekannter zu werden.

Der erste Eindruck jedoch, den er dort bekam, war der, daß man in der Gemeine nicht auf der heil. Schrift, sondern auf den Liedern des Grafen Zinzendorf bestehe.  Trotzdem, daß er seine Bedenken offen aussprach, wollte man ihn zurückhalten, und besonders der Graf suchte ihn in seine Gesichtspunkte hineinzustellen. Oetinger aber erklärte, daß er von ihrer Sprache nicht ein Wort annehmen und gleichwohl ihre Gemeinschaft lieben wolle. Bald wurde er auch von seiner Kirchenbehörde nach Württemberg zurückgerufen, so daß Zinzendorfs Wunsch zunächst nicht erfüllt wurde.

Quelle:

Württembergische Väter, I. Band.
Von Bengel bis Burk. Bilder aus dem christlichen Leben Württembergs. Von W. Claus. Herausgegeben vom Calwer Verlagsverein. Mit vier Porträts. Stuttgart 1887. Verlag der Vereinsbuchhandlung. [Digitalisat]


Eingestellt am 28. August 2024