Von Kind auf bekennt er, wie wir schon gehört, habe die Eigenliebe eine große Rolle bei ihm gespielt. Sie gab ihm die allerthörichtsten Einfälle ein, und er baute dann seine Schlösser, aber sie waren in die Luft gebaut, also ohne alles Fundament. Immer aber rang sich bei ihm der Wunsch hindurch, er wolle Pfarrer werden. Dabei fühlte er wohl, daß es mit ihm als dann anders werden müsse, doch meinte er auch, auf diesem Wege könne er wirklich ein anderer Mensch werden. Aber seine Fortschritte im Lernen waren sehr gering. Eine fast unüber windliche Faulheit bemächtigte sich zuweilen seiner, seine Schwäclichkeit hinderte ihn auch, und er meint zugleich, daß es ihm an den Gaben des Geistes gefehlt habe. Einen Theil der Schuld trug aber doch auch der liebe Pfarrer Gmelin, dem es mehr um ein wahres lebendiges Christenthum, als um Latein bei seinem Schüler zu thun war. Auch traten gar manchmal Unterrichtspausen ein, weil dem Iptinger Pfarrer seine nächsten Berufsarbeiten allem vorangingen.
— Eines Tages erklärte Gmelin der Wittwe, daß er nicht glaube, den Gottlieb zum Studium bringen zu können. Wie erschrack da die Mutter und wie tief betrübt war sie, denn sie hätte gar gerne ihren einzigen, geliebten Sohn einmal als Diener Christi im Weinberge der Kirche gesehen, aber noch ein anderer nächstliegender Grund erregte ihre Betrübniß, denn sie sagte, daß sie ihrem Knaben nichts außer dem Lernen zu schaffen geben könne, da müsse er ja in Faulheit verwildern. Doch des Herrn Gedanken sind andere als die der Menschen. Gmelin wurde unpäßlich und bewarb sich um einen erweckten, gläubigen Vicar, aber es ging damals, wie jetzt, daß solche Leute nicht so leicht zu bekommen sind. Endlich fand sich doch Einer, allein es war kein Jüngling des Glaubens. Als seine Kameraden hörten, daß er sich entschlossen habe, nach Iptingen zu Pfarrer Gmelin zu gehen, da verspottete ihn einer derselben. Er gab aber ganz resolut zur Antwort: „Ist es schon ein Pietist, so gehe ich doch zu ihm, er wird mich nicht fressen.“_ So kam denn dieses Weltkind in das Iptinger Pfarrhaus, Alles stutzte darüber. Allein er war noch nicht lange da, wurde er schon in sich gekehrt und sehr lenksam, und zuletzt ein recht wackerer Diener Christi._ Als dann gelegentlich der Stammbaum, ich meine der irdische, untersucht wurde, stellte sich heraus, daß er ein Blutsverwandter zu den Machtholf’s war. Vorher wußten weder sie, noch er Etwas davon._ Diese Vetterschaft hatte aber noch den besonderen Nutzen, daß er versprach, sich des Knaben anzunehmen, und er erklärte, er getraue sich mit Gottes Hülfe ihn noch zum Studiren zu bringen.
_ Damals war Gottlieb zehn Jahre alt, aber es trat eine Veränderung ein, die leicht seinem Lebensgange hätte eine andere Richtung geben können. Gmelin’s anfängliche Unpäßlichkeit gestaltete sich zur Krankheit, und unvermuthet starb dieser treue „Seelen- und Leibespfleger“ Gottlieb’s, wie er ihn nennt._ Der Herr hatte aber schon vorher für ihn gesorgt, daß er nicht unter der Welt Hände gerathen durfte._Sein Freund und Wohlthäter war eben dieser Vicar G ö z, der nicht kahle Versprechungen gemacht hatte. Er übernahm nach Gmelin’s Tod unsern Gottlieb. An ihm hatte derselbe wieder einen Vater gefunden, der für ihn dem Leibe und der Seele nach auf’s gewissenhafteste sorgte._ Er war im Wissen noch sehr zurück, sein Latein erstreckte sich auf wenige Wörter, Latein lesen konnte er noch nicht recht. Göz war sehr scharf gegen ihn, weil er einsah, daß er es nöthig hatte. Die Mutter übergab ihn ganz in die Zucht und Leitung des gewissenhaften Herrn Göz._ „Da wurde ich dann, klagt er späterhin, viel und hart geschlagen und gehalten, und das machte mich dann doch nicht besser sondern ich wurde vielmehr ärger“. Seine Mutter hatte ihn zwar auch oft geschlagen, so lange er unter ihr stund, aber wir haben schon gehört, wie ihre Ruthe in Sanftmuth, Thränen und Gebet eingehüllt war. „Und das hatte doch seinen besonderen Segen“. Herr Göz hatte aber einen schnellen Geist, er konnte oft sehr hitzig werden, freilich aus lauter guter Meinung Was Machtholf darüber urtheilt, das ist wohl eine allgemeine Erfahrung, aber immer zu beherzigen: „Da wurde ich oft erstaunlich bitter über die Zucht, und meinem Vorgesezten sehr gram und feind, ob es schon ein schneller Zorn war, der bald vorbeiging und der Eigenliebe wieder Platz machte, die gern bei den Leuten wohl dran war.“ – Gottlieb’s Faulheit war zuweilen so groß, daß er damit umging, sich einen Tod anzuthun, nur um nicht mehr so angestrengt zu werden. Zu anderer Zeit konnte er auch wieder einmal tüchtig lernen, weil er aus Erfahrung wußte, wie genau es Göz mit ihm nahm, er that es aber nur aus Heuchelei, um sich seines Vorgesetzten Gunst zu erwerben. Doch bekennt er auch gerne zum Preise Gottes, daß Gottes vorlaufende Gnade sich an seinem Herzen damals in mancherlei Erweisungen kund gegeben habe.
Göz konnte natürlich in Iptingen nicht verbleiben, sondern mußte ein anderes Vicariat annehmen. Da hätte nun mancher einen Knaben, wie der Gottlieb Friedrich Machtholf war, von sich geschüttelt. So dachte aber Göz nicht, sondern er hielt sein Wort und nahm den Buben mit. Kost fand er am Tische des Herrn Pfarrers. Hier war er ganz an den Vicar gebunden, und das geschah in aller Strenge. „Da mußte ich dann“, erzählt er in seinen Selbstbekenntnissen, „immer allein und sehr eingezogen leben und durfte nirgends hin. Da wurde ich leider in meinem Innersten immer tückischer, auszusinnen, was ich vor Streiche machen wollte, wann er irgend wohin ausgehe. Das ging mir dann öfters auf mancherlei boshafte Weise an. Die Heuchelei stieg auch da entsetzlich hoch“. Auch hier regte sich wieder fleischliche Lust und Lüsternheit. „Meine gottlose Heuchelei“, demüthigt er sich, „konnte vorgeben, ich gehe auf die Seite in ein Kämmerlein, zu beten, und ich ging der Augenlust und Fleischeslust nach. Der Herr vergebe mir’s! Unter diesen Umständen wurde ich immer verstockter und besonders hartschlägig, daß ich nimmer viel nach meinem Vorgesezten fragte, sondern mit Gewalt, Fleiß und Vorsatz öffentlich wider seinen Willen und Befehl handelte“.
Endlich kam die Zeit, daß er in eine der guten Klosteranstalten Würtembergs sollte. Aber es traf sich gerade, daß in diesem Jahre, ohne Zweifel wegen Ueberfluß an jungen Leuten, Niemand aufgenommen würde. Er fiel also durch, und das machte ihn etwas mürbe, und er bekannte, er habe sich dieser Gnade selbst unfähig und unwürdig gemacht. Weil er seinem Lehrer nicht folgte, so fiel auch das Examen schlecht aus. Außer dem theuern Göz, der sich so viele Mühe um den Knaben gegeben hatte, that das Durchfallen Niemanden weher als der Mutter. Sie meinte jetzt, Alles, was man bisher zum Studieren ihres Lieblings gethan habe, sei umsonst gewesen. – Und weil er doch seine „liebe Mutter“, wie er sie so gerne nennt, eigentlich recht lieb hatte, so war ihm der Schmerz des Mutterherzens gar schwer. Er urtheilt über seine damaligen innern Erlebnisse: „Da sahe ich mich eine Weile verlassen und wurde darunter ganz demüthig. Sobald ich mich aber demüthigte und mir die Schuld meines Elends gab, so ließ mich der gütige Vater in dem Himmel seine Gnade wieder sehen und zeigte mir, daß er mich Aermsten doch noch nicht verstoßen, sondern in seinem Weinberg haben wolle. Aber es mußte durch manches Gedränge und dunkle Wege gehen, dann ich hatte es nicht besser verdient, und meiner lieben Mama diente es allemal beim Aus gang zur Stärkung ihres Glaubens, ja auch mir selbst zur Be schämung und reizenden Aufmunterung.“
Die theure Mutter ging damals ernstlich mit sich zu Rath, was sie denn mit dem Knaben eigentlich anfangen sollte. Studiren oder ein Handwerk? Das war die Doppelfrage, die sie an sich stellte. Daß sie kein Vermögen hatte, um ihn auf eigene Kosten studiren zu lassen, nachdem ihm die Aussicht, in’s freie Kloster zu kommen abgeschnitten war, werden wir uns selber denken können. Auf der andern Seite quälte sie auch der Gedanke, ihren Gottlieb Friedrich, welcher bisher unter so guter Aufsicht seinen Gang gemacht hatte, der Welt überlassen zu müssen. Daß eine solche Mutter, welche die Ruthe mit Beterhänden angriff und führte, jetzt, wo es zur Entscheidung mit ihrem Einzigen kommen sollte, im Gebet den Herrn anfragte, versteht sich von selbst. Und wer den Gebetsweg erwählt, der kriegt zu rechter Zeit die beste Antwort. Sie hatte von einem frommen Barbierer, oder wie man jetzt sagt, Chirurgus gehört. Zu ihm ging si, um ihren Buben zu ihm in die Lehre zu thun. Ich weiß nicht, wie es gegangen ist, der Feldscherer nahm ihn nicht an. Sie wandte sich, da dieser Weg versperrt war, an einen gläubigen Kaufmann, aber dieser rieth der Mutter sehr ab, und Machtholf hält dies in späterer Zeit für ein glückliches Abwenden einer ihm drohenden Gefahr. „Es wäre gewiß mein Verderben gewesen, denn mein tückisches Herz, das sich selbst so lieb hat, hätte auf weiß nicht was vor Ungerechtigkeit fallen können“, bemerkt er.
Der Herr der Kirche wollte unsern Gottlieb Friedrich in seinem Weinberge haben, und wenn er Etwas haben will, so kommt es doch endlich zu seinem Zweck und Ziel. Alle Wege, einen Lebensberuf für den jungen Machtholf zu finden, waren verrammelt, nur einer blieb immer offen, der Weg des Studirens, aber nicht durch die Klöster. Alle Leute, an welche sich Mutter Machtholf wandte, riethen zum Studiren. So zum Exempel einige Consistorialräthe, die doch auch ein Wort sagen konnten, und sie versprachen sogar, wenn einmal die Zeit komme, ihn nicht stecken lassen zu wollen. Eine große Autorität genoß seiner Zeit Dr. Albrecht Bengel, er verdient sie auch jetzt noch. Ganz prophetisch sagte dieser tief blickende Mann, obwohl es die zwei Bekümmerten nicht recht verstehen konnten, zur Wittwe: „Es sei wohl der Weg ausgegangen, aber es werde noch ein Pfädlein übrig sein“. Was den Kostenpunkt, der wie ein schwerer Stein auf dem Mutterherzen lag, betraf, so wälzte der Herr diesen Stein hinweg. Eine Tante Gottliebs von väterlicher Seite in Herrenberg erklärte einstmals, sie wolle haben, daß der Knabe seinem seligen Vater nachfolgen solle, und wenn man das thue, so werde sie von ihrem Vermögen so viel zulegen, als fehle, wo nicht, so werde sie auch keinen Kreuzer hergeben. Wie wunderbar! Der Mann einer andern Tante hatte durch seine Schlechtigkeit die Wittwe mit ihrem einzigen Kinde fast um Alles gebracht, wie wir schon gehört haben. Jetzt mußte wieder eine Vaters=Schwester eintreten und den Schaden ersetzen. Das und vieles Andere in seinem Lebensgange waren solche Liebeszüge Gottes, daß einmal der bekannte Special Burk zu ihm sagte, er solle sie zur Ermunterung Anderer ausbreiten. Eben die liebe hülfreiche Tante war vermöglich, und der Herr hatte es ihr ohne Zweifel in den Sinn gegeben, die böse Scharte ihres verschwenderischen Schwagers auszuwetzen. Sie ließ die durchgefallenen Schulden obrigkeitlich aufnehmen und ihrem Neffen Machtholf testamentlich den Ersatz zuschreiben.
Wir müssen ihn doch hören, wie er in seinen lieblichen Personalien diesen wundersamen ernsten Wendepunkt in seinem Leben beschreibt: „Der mich, da ich eben wegen Armuth eine Profession ergreifen sollen, gerad so viel Vermögens, als ich im Gant verloren hatte, wieder zum Studieren unverhofft ererben lassen, der seine Hülfe nicht ehender gezeigt, als bis ich mich vorher demüthigen und schuldig geben lernen, der mir Lust und Kraft geschenkt, unerachtet meiner Schwächlichkeit doch schon im 17. Jahre auf die Universität zu gehen, denn seine Güte währet ewiglich“.
Dieß Erlebniß in Betreff seines Vermögens war ihm so merkwürdig, daß er es im Jahr 1768 am Jakobitag über Matth. 19, 29 auf der Kanzel zur Sprache brachte. Wir hören das gerne: „Meine liebe Mutter hat um des lieben Gottes willen mein väterliches Gut dahinten gelassen, dann es ein Schwager von unsern Schuldnern, bei denen es stund, eingenommen, und aber nicht mehr zu bezahlen im Stand war; die Schuldner also auf Prozeß uns nochmals hätten bezahlen müssen, indem wir ihre Schuldscheine noch in Händen hatten, und aber meine Mama um Gottes Mißfallen Willen nicht fordern mögen, sondern lieber im Vertrauen auf Gott verlassen hat. Da man schon ein mittelmäßiges Haus, sonderheitlich in einem mittelmäßigen Ort hätte davor erkaufen können, so genossen wir unterdessen viele Häuser, so gut als wenn sie unser eigen gewesen wären. Denn auch ein eigen Haus kann man als Haus nicht weiter genießen, als daß man seinen Unterschlauf, so lang es nöthig, drinnen hat. Und so hatten wir’s unterdessen vielfältig bei solchen guten Freunden, die wir um Jesu Willen haben, daß sie uns umsonst aufnahmen, so lang wir auf Reisen es nöthig hatten, da sie uns, wenn wir nicht Christi Glieder wären, nicht aufgenommen hätten, sondern wir eben in’s Wirthshaus hätten gehen müssen, ehender als ein Bettler, den man aber in Stall und Scheunenschopf läßt. So hat der liebe Gott eine andere Vatersschwester von Herrenberg gelenkt, daß sie mich wegen dieses Verlustes um so viel zum Erben eingesetzt. Und so habe ich zum Exempel etliche Dauzbrüder um Jesu Willen verlassen, und gewiß mehr als Hundert schon davor bekommen, die brüderlicher zu genießen als die vorherigen.
„O, wer wollte nicht gern um Jesu Willen das Zeitliche verlassen!“ ruft er zum Schlusse als das Facit dieser Erlebnisse in seiner nicht gewandten, wohl aber kindlichen und demüthigen Weise, zu reden, aus!
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Quelle:
Ledderhose: Machtholf’s Leben und Schriften, S. 8-15: 3. Studium oder Handwerk?