Der Weg zur Wahrheit (Thomasius)

von Gottfried Thomasius (1802-1875), lutherischer Theologe, ord. Professor der Theologie und Universitätsprediger zu Erlangen

Predigttext: Johannes 17, 17

Heiliger Vater, heilige sie in deiner Wahrheit; dein Wort ist Wahrheit.

Ihr ermesset sogleich, Andächtige, daß ich, indem ich diese Worte auslege, nicht von dem, was man wissenschaftliche Erkenntnis heißt, zu reden gedenke, sondern von der Einzigen, Ewigen Wahrheit, die für Alle vorhanden ist, und Alle heilig und selig machen will. Aber, diese eine Wahrheit ist, wenn sie recht erkannt wird, doch zugleich der lebendige Mittelpunkt aller Wahrheitserkenntnis auf allen Gebieten des menschlichen Wissens. Sie ist die Sonne, die ihre Strahlen über das ganze Menschenleben verbreitet; aber erst muß sie unser eigenes Herz erleuchtet, durchdrungen, geheiligt haben. Darauf wollen wir uns heute beschränken.

In diesem Sinne frage ich also:

Wie gelangt man zur Erkenntnis der Wahrheit?

Die Antwort, die unser Text darauf gibt, ist einfach und kurz. Zur Erkenntnis der Wahrheit gelangt man:

I) wenn man sie da sucht, wo sie zu finden ist,

II) wenn man sie dazu anwendet, wozu sie gegeben ist.

I) Wenn man sie da sucht, wo sie zu finden ist.

Wo ist sie aber zu finden? Ich antworte: nicht in den eigenen Gedanken des menschlichen Herzens, sondern in dem Worte Gottes.

Nicht in den eigenen Gedanken des menschlichen Herzens, sage ich, und weiß sehr wohl, daß ich damit der ganzen Richtung und Neigung unserer Zeit widerspreche; denn die Richtung dieser Zeit geht auf das eigene Ich des Menschen, auf das, was im Innern des Menschen denkt, will und lebt; das ist ihr die Quelle und das Maß der Wahrheit. Aber der gotterleuchtete Sänger des 94. Psalms sagt: „Der Herr weiß die Gedanken der Menschen, daß sie eitel sind“, und der König Israels, der sich doch auch in aller menschlichen Weisheit wohl umgesehen und den Ruhm des weisesten unter den Fürsten erlangt hatte, der spricht: „Wer sich auf sein Herz verläßt, der ist ein Narr“. Und er hat wahr geredet.

Denn die Gedanken des Menschen kommen aus dem Herzen des Menschen, des Menschen Herz aber ist nicht die Quelle der Wahrheit, und kann es auch nicht sein; denn die Wahrheit, wenn es anders Wahrheit gibt, wird nicht erfunden noch erdacht, ist auch nicht von gestern oder heute, noch wird sie morgen eine andere, sondern es ist ihre Natur, in sich selber ewig und unveränderlich zu sein. Die Gedanken des menschlichen Herzens aber kommen und gehen; die Weisheit der Welt wandelt ihr Kleid je nach der Gestalt und Meinung der Zeiten, der sie angehört, und wie glänzend auch ihre jeweiligen Erzeugnisse seien, es gilt doch von ihnen allen das Wort des Propheten: „Alles Fleisch ist wie Gras und alle Herrlichkeit des Fleisches wie des Grases Blume, das Gras ist verdorrt, die Blume ist abgefallen“. In dem Vergänglichen liegt das Wahrhaftige nicht. Das menschliche Denken kann die Wahrheit nicht erfinden, und hat sie auch nicht gefunden, wie die ganze Geschichte bezeugt. Denn gesucht haben sie allerdings Jahrhunderte lang nach diesem Kleinod, geforscht und gerungen haben die edelsten Geister der Vorzeit darnach mit Aufbietung ihrer besten Kräfte — und man soll nicht gering achten, was sich ihnen annäherungsweise davon erschlossen hat; aber das Ende war doch die Verzweiflung an der Wahrheit, die Pilatusfrage: „Was ist Wahrheit“? — das Bekenntnis Hiobs: „Wo will man Weisheit finden und wo ist die Stätte des Verstandes? Niemand weiß, wo sie liegt und ist verborgen den Augen aller Lebendigen“ (28, 14.). Arme Menschheit, wenn das der Austrag deiner langen Geistesarbeit, wenn dies die Summe und das Ende deiner Weisheit ist! Was ist ein Menschenleben ohne Wahrheit als eine Nacht ohne Sternenlicht von Oben, was ist ein Mensch, dem die Erkenntnis der Wahrheit fehlt, als ein irrender Wanderer, der in der Finsternis tappt und am Ende in die Grube fällt. Und doch liegt in jenem Bekenntnis noch unendlich mehr Weisheit verborgen als in dem Hochmut derer, die da wähnen, ihr fleischlicher Verstand sei das Maß aller Dinge im Himmel und auf Erden, ihre Vernunft die Quelle, aus der die Strahlen des ewigen Lichtes fließen. „So du einen siehest, der sich dünken lässt, weise zu sein, da ist an einem Narren mehr Hoffnung als an dem“, sagt der König Israels.

Nein, Andächtige, in dem eigenen Herzen findet man die Wahrheit nicht. Im Gegenteil, es betrügt den, der sie darin sucht, betrügt ihn um die Erkenntnis seiner selbst, seines Gottes und seines Heiles. Und man darf nur Acht haben auf die Gedanken, die sich die Welt über die Beschaffenheit des menschlichen Herzens macht, wie sie die Schäden und Wunden desselben zudeckt, entschuldigt, beschönigt und trotz aller Sünden und Flecken es doch noch „ein gutes Herz“ nennt – oder die Gedanken, die sie sich über Gott macht, so sieht man leicht, daß das ein bleiches Schattenbild der Wahrheit ist: ein Gedichte des eigenen fleischlichen Herzens, wie man es gerne hätte, ein wesenloser Gott, eine namenlose Macht, die gleichsam verborgen hinter den Wolken des Himmels thront und die Dinge auf Erden dahingehen läßt, wie sie eben gehen; ein Gott, der nicht gar viel nach den Wegen und Sünden der Menschen fragt, der keinen heiligen Eifer verzehrenden Zornes gegen die Übertreter seiner Gebote, und ebensowenig ein offenes Vaterherz für die Witwen und Waisen und ein Ohr für das Seufzen der zerstoßenen und zerschlagenen Gemüter hat.

Einen solchen Gott kann man freilich nicht lieben und vertrauen, wie sie denn auch in der Tat keine Liebe und Vertrauen zu ihm haben; aber man braucht ihn auch nicht zu fürchten, man kann seinetwegen ganz ruhig hingehen in der Trägheit des Fleisches, in den Lüsten der Welt, und sich gar noch am Ende eines seligen Heimgangs getrösten. So betrügt man sich über sein ewiges Heil. Darum wehe dem, der die Wahrheit in den Gedanken des eigenen Herzens sucht. Wehe jedem, der darauf seine Seligkeit gründet; er ist der törichte Mann, von dem es heißt, daß er sein Haus auf Sand gebaut habe — und da nun ein Platzregen fiel und kamen die Stürme und Gewässer und stießen an das Haus, da fiel es und tat einen großen Fall. Oder weinet ihr etwa, wenn aus den Gedanken des Herzens weder die Erkenntnis des eignen Selbstes noch des ewigen Gottes gewonnen wird, meint ihr, es werde gleichwohl ein Bau menschlicher Wissenschaft sich darauf aufführen lassen? — Als ob nicht die Wahrheit aller irdischen Dinge doch im letzten Grunde auf Gott, dem Herrn, ruhe und in seinen ewigen Gedanken gründe, als ob man die Welt und ihre Geschichte verstehen könnte, wenn man den Schöpfer der Welt und den Lenker der Geschichte nicht kennt!

Gibt es überhaupt eine Wahrheit, so kann sie nur in Gott und aus Gott sein — und das sagt auch der Herr Christus in dem Gebetswort unseres Textes: „Heiliger Vater, heilige sie in deiner Wahrheit“; denn darin liegt doch vor Allem dieses, daß Gott die Wahrheit hat oder vielmehr, daß er selbst die Wahrheit ist. Ihr sehet also, es gibt eine Wahrheit, unabhängig von dem Denken und Meinen der Menschen, außer uns, über uns, eine ewige, unwandelbare Wahrheit, eine göttliche Wahrheit: die wird mich nicht, wie die menschliche Weisheit es tut, um mein Heil betrügen, sie wird mir die Rätsel des irdischen und das Geheimnis des künftigen Lebens lehren, und wird das Licht sein, das mich und alle Menschen erleuchtet. Wohl; aber was hilft mich das zu wissen, wenn diese Wahrheit in jenseitiger Ferne bleibt und schweigend über der armen Menschheit thront, was hilft mir der Felsengrund, in dem ich meinen Anker einsenken kann, wenn mich die Wogen und Wellen des Meeres und die Nächte und Finsternisse des Lebens von ihm trennen?

Aber, Gottlob! so ist es nicht, heilige sie in deiner Wahrheit, dein Wort ist die Wahrheit, betet der Erlöser; dein Wort, das Wort Gottes, ja das ist’s, was wir brauchen; denn das Wort ist der Ausdruck des verborgenen Gedankens, das Wort ist Sprache und Stimme des Herzens; Gottes Wort aber kann nichts Anders als der Ausdruck, als die Gestalt der Wahrheit sein; denn Gott ist die Wahrheit. „Heiliger Vater, heilige sie in deiner Wahrheit; dein Wort ist die Wahrheit“. Und dieses Wort, Andächtige, ist, wenn ihr’s verstehen wollt, Er selbst, der hier zu seinem Vater redet; Er ist das wesentliche Wort, das Wort, das im Anfang war und bei Gott war und Gott war (Joh. 1, 1.) und Mensch geworden ist, und als Mensch auf Erden gewandelt und den verborgenen Gott geoffenbaret hat — und als der Jünger fragte: „Herr, zeige uns den Vater, so genüget uns“, da antwortete er und sprach: „So lange bin ich bei euch, und du kennst mich nicht? Philippe, wer mich siehet, der siehet den Vater. Wie sprichst du denn: Zeige uns den Vater? Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater denn durch mich“. (Joh. 14, 5 – 9. 6.) Ja, meine Brüder, in Christo ist die ewige Wahrheit leibhaftig, persönlich in der Welt erschienen, also, daß man sie mit Augen sehen, mit den Ohren hören und gleichsam mit den Händen betasten konnte. Das Wort aber, das er geredet und uns hinterlassen hat, ist nichts Anderes als das Zeugnis von ihm selbst, Zeugnis von Christo, dem Heil der Welt, dem Licht und Leben der Welt. Und eben deshalb ist dieses feine Wort auch nicht eine menschliche oder abstrakte Wahrheit, sondern Kraft der Wahrheit, Leben der Wahrheit, die Wahrheit aus Gott, die da selig macht; in diesem Worte ist die Wahrheit, die wir bedürfen, zu finden. Da suchet sie also, meine Geliebten, so werdet ihr sie erkennen.

Suchet sie, sage ich, denn ihr habt das Wort wie in der öffentlichen Predigt, so daheim in eurer Bibel; und es wäre wahrlich unverantwortlich von euch, wolltet ihr es ungehört verkündigt und unbenützt in euren Häusern liegen lassen — es wäre ein schmachvoller Undank gegen Gottes beste Gabe, eine unverzeihliche Versündigung an eueren unsterblichen Seelen; suchet sie, sage ich, und ermahne damit euch, ihr Väter und Mütter, daß ihr das Wort daheim in euern Häusern fleißig leset, und es den Leuchter sein lasset, um den ihr euch Morgens und Abends mit den Eurigen versammelt, damit es bei euch helle werde und Alles christlich und gottselig zugehe im Schein desselben. Suchet, sage ich und ermahne damit euch, ihr jungen Freunde, daß ihr es gründlich erforschet, und die Kraft eurer Arbeit dran setzet, seiner mächtig und darin gelehrt zu werden. Denn ihr wisset wohl, daß Gottes Wort nicht ist wie das Wort des Menschen, dessen Sinn und Gedanke allermeist auf der Oberfläche liegt, sondern Geist und Sinn sind hier in der Tiefe verborgen, wie die edlen Gesteine in den Schachten der Gebirge, und wollen mit treuem, stillem, anhaltendem Fleiße herausgeholt sein. Dazu aber reicht die gelehrte Forschung, so unerläßlich sie uns ist, noch lange nicht aus, sondern es gilt, sich mit Liebe in das Wort zu versenken, man muß sich in dasselbe hineinleben mit seinem Sinnen und Denken, man muß mit dem Worte umgehen, wie mit einem vertrauten, lieben Freund, und was die Hauptsache ist, man muß vor Allem auf den Kern und Stern des Wortes achten: auf den Weg des Heils, auf die Seligkeit der Seele, auf die Gnade Gottes in Christo; Christum selbst, ihn, den Weg, die Wahrheit und das Leben, von dem es zeuget, muß man in dem Worte suchen: dann lernt man aus ihm die Wahrheit erkennen. Wähnet aber nicht, lieben Freunde, ich wolle damit, daß ich euch allein auf Christum verweise, nunmehr den Kreis der Wahrheitserkenntnis gleichsam wieder verengern und beschränken; in Christo liegen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis verborgen, in ihm erkennt man des Vaters Herz und Wille, an ihm lernt man des Menschen Wesen und Bestimmung verstehen, Anfang und Ende aller Werke und Wege Gottes, Zeit und Ewigkeit, Himmel und Erde; ist Christus euer, so ist Alles euer; aber vor Allem müßt ihr ihn selber persönlich kennen, als euern Heiland und Erlöser ihn anerkennen, das ist der Weg zur Wahrheit; wie auch unsre Kirche singt: Suche JEsum und sein Licht, alles Andre hilft dir nicht. Die Wahrheit erkennt man also, wenn man sie da sucht, wo sie zu finden ist; aber sage ich: ,

II. Wenn man sie dazu anwendet, wozu sie gegeben ist.

„Heilige sie in deiner Wahrheit“, betet der Herr Christus, und spricht es damit aus, daß die Wahrheit keinen andern Zweck habe, als die Menschen zu heiligen; heiligen aber heißt reinigen, los von der Lüge, frei von der Sünde und Ungerechtigkeit machen — es heißt weg von der Welt und von dem sichtbaren, erscheinenden Wesen der Dinge in die Gemeinschaft des heiligen Gottes uns führen, in den Frieden, in das Leben, in den Dienst Gottes uns hineinführen, neue, gerechte, Gott wohlgefällige, heilige Menschen aus uns armen und verlornen Sündern machen. Sie ist also, so zu sagen, eine durchaus praktische Wahrheit, und wird darum auch wirklich verstanden nur, wenn man sie dazu anwendet, wozu sie da ist. Sie will erlebt, erfahren sein. Wo es daran fehlt, hilft alles Forschen nichts; es bleibt ein bloßes auswendiges Werk, wobei man möglicherweise viel Wissenschaft und Gelehrsamkeit besitzen kann, und doch nichts von der Wahrheit versteht.

Willst du sie wirklich verstehen lernen, so mußt du vor Allem deine eigenen Gedanken in das Feuer dieses Wortes legen, welches Holz, Stroh und Stoppeln verzehrt, und mußt dir den innersten Grund deines Herzens aufdecken, und alle die schlimmen Verhüllungen wegreißen lassen, mit denen deine Eigenliebe die eiternden Wunden deines Innern verbunden hat. Das tut dem Fleische weh, ich weiß es, aber es gibt schlechterdings kein anderes Mittel, um die heilende und heiligende Kraft des Wortes zu verstehen. Der Mensch muß herunter von den Höhen seiner eignen Gerechtigkeit und Weisheit, heraus aus den süßen Träumen seiner Selbstverliebtheit, wenn ihm geholfen werden soll; es muß zu einem Untergang kommen mit seinem ganzen alten Wesen, wenn er nicht im Tode bleiben soll. Darauf geht das ganze Absehen des Wortes hinaus: „Geh aus aus deiner Freundschaft und aus deinem Vaterland, in ein Land, das ich dir zeigen will; wer sein Leben lieb hat, der wird es verlieren, und wer sein Leben auf dieser Welt hasset, der wird es erhalten zum ewigen Leben. Welche Christo angehören, die kreuzigen ihr Fleisch samt seinen Lüsten und Begierden“. Darum, mein Christ, laß die eignen Gedanken deines Herzens, und den eignen Willen deines Fleisches von diesem Worte richten; laß es zum Feuer in dir werden, das deine Ungerechtigkeit und Unwahrhaftigkeit verzehrt, zum Hammer, der deinen eignen Willen zerschlägt. Wende es mit stillem Ernste zu deiner täglichen Selbstprüfung, Selbstbesserung und Reinigung an, und bitte Gott, daß er dir beides, Schrift und Predigt, dazu segnen wolle: „Heiliger Vater, heilige sie in deiner Wahrheit“. Selbsterkenntnis ist der Weg zur Wahrheitserkenntnis – es gibt keinen andern.

Aber bleibe auch dabei nicht stehen, mein Christ, sondern laß dich von den Verheißungen des Wortes erheben zum Glauben an die Herrlichkeit und an den Reichtum der Gnade Gottes in Christo, von welchen es zeuget. An diese Verheißungen halte dich wider alle die kleingläubigen und verzagten Gedanken deines eigenen Herzens, in diesen Verheißungen übe dich unter allen Anfechtungen und scheinbar widersprechenden Lagen des Lebens, in sie senke deinen Anker ein. Wie groß, wie herrlich stehen sie vor dir da! „Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn; er wird’s wohl machen“. „Alle eure Sorgen werfet auf ihn, denn er sorget für euch“. „Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer“. „Fürchte dich nicht, du kleine Heerde, es ist deines Vaters Wille, euch das Reich zu geben“. Dabei gebt auch nicht zu viel auf die Empfindungen und Gefühle eures Herzens, auf das größere oder geringere Maß der Freudigkeit, das ihr empfindet. Das alles kommt und geht, wird gegeben und genommen, aber das Wort des Herrn bleibt. Es bleibt unwandelbar stehen, außer uns, über uns, wie die Sonne an Gottes lichtem Himmel, es bleibt wahr, wenn auch die Wolken der Erde unter ihm hinziehen und uns den Glanz seiner Verheißungen verdunkeln:

„Selig sind, die da nicht sehen, und doch glauben. — So uns unser Herz verdammt, so wisset, daß Gott größer ist als unser Herz“. „So wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so lügen wir und sagen nicht die Wahrheit; so wir aber unsere Sünden bekennen, ist er treu und gerecht, daß er uns die Sünde vergibt, und das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, macht uns rein von aller Ungerechtigkeit“.. „Solches schreibe ich euch, auf daß ihr nicht sündiget; ob aber Jemand sündiget, haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesum Christum, der gerecht ist. Und derselbige ist die Versöhnung für unsere Sünden, nicht aber allein für die unsern, sondern für der ganzen Welt“, (1. Joh. 1, 7-9. 2, 1—2.)

„Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht. Wer will verdammen? Christus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, welcher ist zur Rechten Gottes und uns vertritt. Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes? Trübsal oder Angst oder Hunger oder Blöße oder Fährlichkeit oder Schwert? — Aber in dem Allen überwinden wir weit, um des willen, der uns geliebet hat. Denn ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer, noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes, noch keine andere Kreatur, mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm Herrn“. (Röm. 8, 31 —39.)

Diese Verheißungen wendet zur Übung und Stärkung eures Glaubens an, und in demselbigen Maße, in welchem ihr im Glauben wachset, werdet ihr dann auch wachsen in der Erkenntnis der Wahrheit. Denn alle wahre Erkenntnis ruht auf dem Leben. Dies gilt selbst von menschlichen Dingen; von dem Worte Gottes aber versteht man nur soviel, als man daraus schöpft für die tiefsten Bedürfnisse seines Herzens, als man von den Kräften des Lebens, die in ihm verborgen liegen, an sich selbst erlebt, als man trinkt aus den Strömen der göttlichen Liebe, die darin quellen. Es wird erkannt auf dem Wege der Erfahrung. O ihr lieben Freunde, ihr künftigen Theologen der lutherischen Kirche, die auf das Wort des Herrn gebaut ist und allein an diesem Worte ihren Schild, ihr Schwert und ihre Fahne hat, lasset euch diese Theologie gepredigt sein; werdet Schriftgelehrte im eigentlichen Sinne, gelehrt in der hohen Schule des heiligen Geistes, in der Schule der innern geistlichen Erfahrung. Solche Theologen braucht unsere Kirche in dieser bösen, ernsten Zeit, und solche können auch allein mit Erfolg Andere zur Wahrheit und Gerechtigkeit leiten.

Aber diese Wahrheitserkenntnis wird nicht erlangt ohne Gebet. „Der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geiste Gottes“. Der heilige Geist aber erforscht alle Dinge, auch die Tiefen der Gottheit. In seinem Lichte sehen wir das Licht. So versäumt denn, lieben Freunde, des Gebetes nicht, damit es von Oben wie Tau und Regen in eure Gemüter falle und der Segen Gottes den Fleiß euerer Arbeit kröne und der Geist Gottes das Wort zu einer Kraft des Lebens in euch mache.

„Wenn du mein Herz tröstest, so laufe ich den Weg deiner Gebote. — Zeige mir, Herr, den Weg deiner Rechte, daß ich sie bewahre bis an’s Ende. Unterweise mich, daß ich bewahre dein Gesetz, und halte es von ganzem Herzen. — Führe mich auf dem Steige deiner Gebote, denn ich habe Lust dazu. Herr, laß mir deine Gnade widerfahren, deine Hilfe nach deinem Wort, daß ich möge antworten den Lästerern, denn ich verlasse mich auf dein Wort, und nimm ja nicht von meinem Mund das Wort der Wahrheit, denn ich hoffe auf deine Rechte. Deine Rechte sind mein Lied im Hause meiner Wallfahrt. — Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinen Wegen.— Heiliger Vater, heilige uns in deiner Wahrheit, Dein Wort ist die Wahrheit“.

Amen.

Bildnachweis: Kupferstich, Professor Gottfried Thomasius (1802-1875)

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