Riga (Stadtbeschreibung um das Jahr 1900)

Riga, Hauptstadt des russ. Gouvernements Livland (heute Hauptstadt Lettlands), an beiden Ufern der Düna, über die eine 250 m lange Schiffbrücke und eine Eisenbahnbrücke führen, liegt 11 km von ihrer Mündung in den Rigaer Busen und an den Eisenbahnlinien R.-Orel, R.-Petersburg, R.-Tukkum, R.-Mitau und den Zweiglinien nach Bolderaa (Dünamünde) und Mühlgraben.

Riga, Panorama
(um das Jahr 1900)

Riga ist nach Petersburg und Odessa die wichtigste Seehandelsstadt Rußlands. Sie besteht aus der Altstadt, der Petersburger und Moskauer Vorstadt auf dem rechten Flußufer und der Mitauer Vorstadt, die auf dem linken Flußufer und mehreren Inseln (Holme) liegt. Die Altstadt ist reich an historischen Bauten, hat aber enge und winklige Straßen; in ihr konzentriert sich das eigentliche Geschäftsleben. Die seit 1856 niedergelegten Wälle sind in schöne Boulevards verwandelt (Thronfolger-, Alexander-, Todlebenboulevard), die mit den geschmackvollen Gartenanlagen (Wöhrmannscher Park, Schützengarten etc.) den schönsten Teil der Stadt bilden. Die noch immer mächtig sich ausdehnenden, mit breiten Straßen ausgestatteten Vorstädte sind der Schauplatz des industriellen Lebens. Riga hat 10 evangelische, eine reformierte, eine anglikanische, 2 römisch-katholische, 14 griechisch-orthodoxe Kirchen nebst 2 Klöstern und 2 Synagogen.

Kirche St. Gertrud In Riga

Unter den historisch interessanten Kirchen der Altstadt sind zu nennen: die Dom- oder Marienkirche (1215–26 erbaut, mit bemerkenswerten, 1893 renovierten Kreuzgängen), die Petrikirche (1209 in Holz, 1408–66 in Stein erbaut, mit 115 m hohem Turm), die 1226 erbaute Jakobikirche, die lettische Johanniskirche, die Gertrudkirche, an der J. G. Herder wirkte, u. a. Von den griechisch-orthodoxen Kirchen nennen wir die 1877–84 erbaute schöne Kathedrale, die Alexeikirche aus dem 18. Jahrh. und die Alexander-Newskikirche. Unter den Profanbauten verdienen Erwähnung: das 1494–1515 erbaute Schloß (einst Residenz der Großmeister in Livland, jetzt Sitz des Zivilgouverneurs), davor die 8 m hohe Siegessäule aus Granit mit einer bronzenen Viktoriastatue und goldener Krone (zur Erinnerung an die Kriegsjahre 1812–15 errichtet); ferner das 1864–66 in florentinischer Renaissance umgebaute Ritterhaus mit einem Saal, der die Wappenschilde sämtlicher adliger Familien des Landes enthält; das 1330–34 erbaute Schwarzhäupterhaus (jetzt Klub der jungen Kaufleute), die schönen Gebäude der Großen (St. Marien-) und der Kleinen (St. Johannis-) Gilde, das Rathaus (mit dem städtischen Archiv und der Stadtbibliothek), die Börse, das Zollhaus, das Seemannshaus, das 1860–63 erbaute, schöne deutsche Theater, das zweite (russische) Stadttheater, das Polytechnikum etc.

Die Zahl der Einwohner betrug 1897: 256.197 (einschließlich Patrimonialgebiet), von denen ca. 46 Proz. Deutsche, 20 Proz. Russen und 20 Proz. Letten sind; den Rest bilden Esten und andre Nationalitäten. Der Konfession nach sind 64 Proz. Lutheraner und Reformierte, 18 Proz. Griechisch-Orthodoxe (inkl. Sekten), 6 Proz. Römisch-Katholische, 12 Proz. Juden. Die Industrie hat sich seit 1895 mächtig gehoben, so daß Riga gegenwärtig auch industriell eine der bedeutendsten Städte Rußlands ist. Man zählte 1900: 356 Fabriken mit 42.274 Arbeitern und 67,25 Mill. Rubel Produktionswert. Vertreten sind fast alle Industriezweige; besondere Erwähnung verdienen zwei große Waggonfabriken, die elektrotechnische Fabrik der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft, zahlreiche Metallwaren- und Maschinenfabriken, chemische Fabriken, eine Anzahl großer Sägemühlen, Tabak- und Zigarrenfabriken, zahlreiche Bierbrauereien, eine große Gummiwarenfabrik u. a.

Riga wurde 1201 von Albrecht I. von Buxhöwden, Bischof von R., gegründet, der 1202 seinen Sitz hierher verlegte. 1253 erhob Papst Innozenz IV. Riga zum Sitz eines Erzbistums. Die Stadt blühte rasch auf und war eine wichtige Hansestadt. Sie spielte in den Kämpfen zwischen dem Deutschorden und dem Erzbischof oft eine entscheidende Rolle. Die Reformation fand schon 1522 durch Knöpken, Bugenhagens Freund, in R. Eingang, doch das Erzbistum wurde erst 1566 aufgehoben. Als Livland 1561 polnische Provinz wurde, erhielt sich R. noch bis 1582 in bedingter Unabhängigkeit. Mit dem neuen Kalender versuchte Stephan Bathori den Jesuiten Eingang in die Stadt zu verschaffen, nicht ohne Erfolg.

1621 wurde Riga von Gustav Adolf erobert und von den Jesuiten befreit. 1656 wurde R. von den Russen vergeblich belagert, desgleichen 1700 von den Sachsen dank der tapfern Verteidigung durch den schwedischen Statthalter Dahlberg. Doch am 4. Juli 1710, nach der Niederlage Karls XII. bei Poltawa, ergab sich die Stadt nach hartnäckiger Verteidigung dem Feldmarschall Scheremetjew und kam unter russische Botmäßigkeit. 1812 wurde Riga von den Preußen unter Graevert bedroht, die Vorstädte wurden vom Kommandanten v. Essen verbrannt; 1814 richtete der Eisgang großen Schaden an. Überhaupt ist die äußere Stadt infolge ihrer niedrigen Lage Überschwemmungen ausgesetzt. Im Frühjahr 1854 wurde Riga von den Engländern blockiert; 1856 fielen die Festungswerke, und es entstanden an ihrer Stelle schöne Boulevards und Anlagen. 1889 wurde die russische Sprache in Gericht, Verwaltung und Schule gewaltsam eingeführt, die 700jährige Verfassung war schon 1878 durch die russische Städteordnung ersetzt. Seitdem hat Handel und Industrie stark zugenommen, das höhere und niedere Schulwesen ist aber durch die Russifizierung fast bis zur Vernichtung geschädigt.

Immer stärker breitete sich durch russische Beamte, Polytechniker und Arbeiter der früher dort unbekannte Nihilismus aus, bis im Laufe des Jahres 1905 die Regierung alle Autorität einbüßte. Auch der Kriegszustand minderte die Unsicherheit von Person und Eigentum erst 1906.

Vgl. Bunge, Die Stadt R. im 13. und 14. Jahrhundert (Leipz. 1878); A. v. Bulmerincq, Der Ursprung der Stadtverfassung Rigas (das. 1894) und Die Verfassung der Stadt R. im ersten Jahrhundert der Stadt (das. 1898); Mettig, Geschichte der Stadt R. (Riga 1897) und Illustrierter Führer durch R. (6. Aufl., das. 1906); W. Neumann, Das mittelalterliche R. (mit 26 Tafeln, Berl. 1892); Tobien, Ergebnisse der Rigaer Handelsstatistik 1866–1891 (Riga 1893) und 1891–1898 (das. 1900) und Das Armenwesen der Stadt R. (das. 1895); Carlberg, Der Stadt R. Verwaltung und Haushalt 1878–1900 (das. 1901); »Führer durch das industrielle R.« (das. 1901); »R. und seine Bauten« (das. 1903); Buchholtz und Bulmerincq, Aktenstücke und Urkunden zur Geschichte der Stadt R. 1710–1740 (das. 1902 bis 1906, 3 Bde.).

Quelle: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 16. Leipzig 1908, S. 931-933.
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Eingestellt am 5. Oktober 2022