An die Verkündigung des Gerichts (Cap. 21) reiht sich eine neue Darlegung der Sünden Jerusalems und Israels an, welche dieses Gericht herbei ziehen Das Cap. enthält drei nach Inhalt und Zweck zusammenhängende Gottesworte:
1. Die Blutschuld und der Götzendienst Jerusalems beschleunigt die Tage, da die Stadt ein Hohn aller Welt wird (V. 1-16);
2. Das Haus Israel ist zu Schlacken geworden und soll im Feuerofen der Trübsal geschmolzen werden (V. 17-22);
3. Alle Stände des Reichs, Propheten, Priester, Fürsten und Volk sind grundverderbt, darum ist das Gericht über sie hereingebrochen (V. 23-31).
V. 1 – 16: Jerusalems Blutschuld und Sündenlast
V. 1-5 enthalten die Hauptanklage, auf Blutvergießen und Götzendienst lautend,
V. 6-16 die weitere Ausführung der Frevel des Volks und seiner Oberen, mit kurzer Androhung der Strafe.
V. 17-22 die Läuterung Israels im Schmelzofen des belagerten Jerusalem:
V. 17. Und es geschah das Wort Jehova’s zu mir also:
V. 18. Menschensohn, das Haus Israel ist mir zu Schlacken geworden; sie alle sind Erz und Zinn und Eisen und Blei im Ofen; Silberschlacken sind sie geworden.
V. 19. Darum, so spricht der Herr Jehova: weil ihr alle zu Schlacken geworden, darum siehe, werde ich euch zusammentun in Jerusalem.
V. 20. Wie man Silber und Erz und Eisen und Blei und Zinn zusammentut in den Ofen, um Feuer darüber anzublasen zum Schmelzen, also werde ich euch in meinem Zorne und meinem Grimme zusammentun und einlegen und schmelzen.
V. 21. Und werde euch sammeln und über euch das Feuer meines Grimmes anblasen, daß ihr darin geschmolzen werdet.
V. 22. Wie Silber geschmolzen wird im Ofen, also sollt ihr darin in Jerusalem geschmolzen werden, und sollt erfahren, daß ich, Jehova, meinen Grimm über euch ausgeschüttet habe.
Dieses zweite Gotteswort lehnt sich zwar an das Bild der Unreinheit oder des Sündenschmutzes (V. 15) an, ist aber keine Erläuterung der dort angekündigten Wegtilgung des Schmutzes. Denn diese soll durch die Zerstreuung Israels unter die Völker bewirkt werden, während das Gotteswort V. 17ff die Jerusalem bevorstehende Belagerung als einen Schmelzprozeß darstellt, durch welchen Gott das in Israel enthaltene Silbererz aus den ihm beigemischten unedlen Metallen ausscheiden werde.
Es hebt (V. 18) mit der Darlegung der dermaligen Beschaffenheit Israels an: „Israel ist zu Schlacken geworden“. ist reines Perfectum und nicht mit Klief. prophetisch als Futurum zu fassen. Diese Fassung ist nicht nur wegen des V. 19 unmöglich, sondern würde auch nur dann einen annehmbaren Sinn geben, wenn man den mittleren Satz des Verses: sie alle sind Erz und Zinn u.s.w. als Aussage dessen, was Israel geworden ist, oder als Präteritum faßte – wider alle Regeln der hebräischen Syntax, da dieser Satz nur eine Erläuterung des gibt. (nur hier vorkommend für ) bedeutet Schlacken, nicht Schmelzerz (Klief.), eig. recedanea, die unedleren Bestandteile, welche dem Silber beigemischt sind und durch Schmelzen ausgeschieden werden.
[….]
Das Schmelzen ist übrigens hier nur als Bild der Strafe gefaßt und dabei das Ergebnis des Schmelzens (die Läuterung des Silbers durch Ausscheidung der unedlen Bestandteile) nicht – wie in den verwandten Stellen Jes. 1, 22-25; Jer. 6, 27-30, Mal. 3, 2-3 weiter in Betracht gezogen. Diesen Schmelzprozeß erfuhr Israel bei der letzten Belagerung Jerusalems durch die Chaldäer (V. 23-31). Die Verderbtheit aller Stände des Reiches zieht den Untergang herbei:
V. 23. Und es geschah das Wort Jehova’s zu mir also:
V. 24. Menschensohn, sprich zu ihm: Du bist ein Land, das nicht beschienen ist und nicht beregnet wird am Tage des Zorns.
V 25. Verschwörung seiner Propheten ist in ihm; wie ein brüllender Löwe, der Beute zerreißt, fressen sie Seelen, nehmen Gut und Geld ihrer Witwen, machen sie viele in ihm.
V 26. Seine Priester vergewaltigen [LUT: verkehren] mein Gesetz und entweihen meine Heiligtümer, zwischen Heiligem und Unheiligem scheiden sie nicht, und den Unterschied zwischen Reinem und Unreinem lehren sie nicht, und vor meinen Sabbaten verhüllen sie ihre Augen, und ich werde entweiht unter ihnen.
V 27. Seine Fürsten in seiner Mitte sind wie Wölfe, die Beute zerreißen, daß sie Blut vergießen, Seelen zu Grunde richten, um Gewinn zu gewinnen.
V 28. Und seine Propheten tünchen ihnen Tünche, indem sie Nichtiges schauen und ihnen Lüge wahrsagen, sprechend: „So spricht der Herr Jehova“, so doch Jehova nicht geredet hat.
V 29. Die gemeinen Leute üben Gewalt und begehen Diebstahl, den Elenden und Armen bedrücken sie, und den Fremdling vergewaltigen sie wider Recht.
V 30. Ich suche unter ihnen einen Mann, der eine Mauer mauerte und in den Riß träte vor mir für das Land, daß ich es nicht verderbete, aber ich finde keinen.
V 31. So schütte ich meinen Zorn aus über sie, vernichte sie im Feuer meines Grimmes, gebe ihren Weg auf ihr Haupt, ist der Spruch des Herrn Jehova’s.
Um die Notwendigkeit des angekündigten Strafgerichtes noch deutlicher zu machen, wird im dritten Gottesworte unseres Cap.[itels] noch die Verbreitung des tiefen Verderbens unter allen Ständen des Volks geschildert und die Unrettbarkeit des Reiches dargelegt. Die Anrede beziehen die meisten Ausleger auf Jerusalem,welcher der Prophet ihre Greuel vorhalten solle. Allein, wenn sich damit auch die Aussage du bist ein Land u.s.w. (V. 24) allenfalls vereinigen ließe, so führt doch der Inhalt von V. 30., daß ein Mann in den Riß vor Jehova für das Land treten sollte, unzweideutig darauf, daß dieses Gotteswort gegen das Land Juda gerichtet ist.
Quelle:
Keil, Carl Friedrich und Delitzsch, Franz (Hrsg.): Biblischer Commentar über das Alte Testament. Dritter Theil: Die prophetischen Bücher. Dritter Band: Der Prophet Ezechiel. Mit vier lithographischen Tafeln. Leipzig, Dörffling und Franke, 1868. [Digitalisat]