Matthäus 27, 19 (Elias Schrenk)

Matth. 27, 19: Und da Pilatus auf dem Richtstuhl saß, schickte sein Weib zu ihm und ließ ihm sagen: Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten; ich habe heute viel erlitten im Traum von seinetwegen.

Betrachtung zum 26. März

Es gehört wesentlich zum Segen der Betrachtung der Leidensgeschichte des Herrn, daß in derselben so verschiedene Gestalten an uns vorbei ziehen, durch die uns Gott etwas zu sagen hat. Eine der wichtigsten Gestalten ist Pilatus. Während die Hohenpriester und Aeltesten als die ehrgeizigen Todfeinde des Herrn vor uns stehen, deren Herzen kaum mehr eines besseren Eindrucks fähig waren, und Herodes ein in Sünde verkommener Mensch war, macht Pilatus uns den Eindruck eines Mannes, dem das Verhör des Herrn erst zur Entscheidung dienen muß. Für ihn war es Gnade Gottes, daß er Jesum in der Nähe sehen und hören durfte; er blieb auch nicht ohne Eindrücke von der Person und den Worten des Herrn. Diese Eindrücke sollten noch verstärkt werden durch sein Weib, die unter Gottes Leitung einen Traum hat, in dem sie beunruhigt wird über den Herrn; weshalb sie ihren Mann warnt, sein Gewissen nicht zu beflecken durch Ungerechtigkeit an dem Herrn. Aber das Alles bringt Pilatus keinen Segen. Er kommt zu keinem inneren Sichaufraffen, zu keiner Entscheidung für die Wahrheit und Gerechtigkeit. Sein Gewissen redet für Jesum; aber er schwankt verlegen hin und her zwischen der Gerechtigkeit und der Volksgunst, und schließlich siegt letztere bei ihm über die Gerechtigkeit und Wahrheit.

Ohne Zweifel hatte dieser Mann schon viel gegen sein Gewissen gesündigt, und so den Sinn für Wahrheit in sich geschwächt. Dann läßt uns sein Schwanken und Markten gegenüber dem Geschrei ungerechter Menschen vermuten, daß er Blößen hatte in seiner Amtsführung dem Volke gegenüber, und darum nicht die sittliche Kraft, fest hinzustehen. Dieser schwankende und schließlich vor der Volksgunst sich beugende Mann hat dem Herrn gewiß viele Schmerzen gemacht, und er ist ja nur ein Repräsentant vieler verwandter Menschen, die immer hin und her schwanken und doch nicht zur Entscheidung kommen. Wie jämmerlich, wenn Gott sich einem Menschen so naht, und ihn noch würdigt, durch einen Traum gewarnt zu werden, und es bei ihm zu nichts weiter kommt, als „seine Hände zu waschen“, um sein böses Gewissen zu beschwichtigen. Versäume nicht die Gnadenzeit!

Herr, gib mir ein zartes Gewissen für all Dein Reden mit mir und bewahre mich, die Ehre bei Menschen nicht höher zu achten, als die Wahrheit.

Amen.

Quelle:
Andacht zum 26. März, in: Suchet in der Schrift. Tägliche Betrachtungen für das ganze Jahr mit Anhang. Von E. Schrenk. 18. bis 24. Tausend. Kassel. Druck und Verlag von Ernst Röttger, 1892. [Seite 86; Digitalisat]

Also ging Jesus heraus und trug eine Dornenkrone und ein Purpurkleid. Und er [Pilatus] spricht zu ihnen: „Sehet, welch ein Mensch!“ (Johannes 19, 5)


Eingestellt am 23. November 2023