Lehr *), Leopold Franz Friedrich, wurde geboren 3. Sept. 1709 zu Cronenburg bei Frankfurt a./M., wo sein Vater, Johann Jakob Lehr, als Nassau-Jdstein’scher Hofrath lebte; seine Mutter war eine geborne Michelsen. Sie mußte ihn, um den Zudringlichkeiten fremder Religionsgenossen auszuweichen, auswärts taufen lassen und deßhalb auch frühe schon vom elterlichen Hause weg auf das Gymnasium nach Idstein schicken, wo er bis in sein achtzehntes Jahr, bis zum Jahr 1727, blieb. Seine Lehrer waren zwar recht wohl mit ihm zufrieden, weil er folgsam, artig und fleißig war und gut lernte; er selbst aber war um so weniger mit sich zufrieden, denn er legte nachmals das Geständniß ab, daß sein Sinn in dieser Zeit bei all dem ungebrochen und im Irdischen befangen gewesen sey, wie er denn auch nur aus natürlicher Scham artig gewesen und aus Hochmuth der Wissenschaft obgelegen sey.
Doch hatte schon im Jahr 1717 der kräftige Segen, den einst unter Handauflegung A. H. Francke bei einem Besuch in seinem elterlichen Haus über ihn als achtjährigen Knaben sprach, sein Herz angefaßt, so daß er das lebenslänglich nicht vergessen konnte. Zu einem ernstlichen Vorsatz, sich Jesu mit Leib und Seele hinzugeben, kam es bei ihm aber erst kurz vor seiner Abreise von Idstein. Als er da nämlich von dem Prorector Hecht, seinem seitherigen treuen Lehrer, Abschied nahm, ermahnte ihn dieser voll Eifer und Liebe zu einer rechten Furcht des Herrn, was bei ihm einen tiefen Eindruck machte und Einfluß auf sein ganzes Leben hatte. Dazu kam nun noch, daß er bald darnach, gerade ehe er auf die Hochschule ziehen wollte, an das Sterbebett seines frommen Vaters gerufen wurde. Während er bei dem todtkranken Vater ein halbes Jahr verweilte, empfieng er manche heilsame Ermahnungen und lernte einsehen, wie der Glaube an Christum allein im Tode Ruhe und Frieden gewährt. So ward das in Idstein begonnene Bekehrungswerk am Sterbebett des Vaters mächtig gefördert. Er wurde an demselben oft sehr bewegt, daß er Tag und Nacht in Thränen fast zerfloß und oft und viel auf den Knieen um die Gnade Gottes rang. Er erzählt selbst: „So oft ich meines Vaters Leichnam angesehen, ist mir gewesen, als ob derselbe sich aufrichte und zu mir sage: ‚Eile, eile, mein Sohn, und errette deine Seele und siehe nicht hinter dich!'“ So von Gott in der Herzenstheologie zuvor schon zubereitet, bezog er im Jahr 1729 die Hochschule Jena, um Theologie zu studiren; er hatte hier besonders den Dr. Buddeus zum Lehrer und Pfleger seines neu erwachten christlichen Lebens. Nach einem Jahr gieng er sodann nach Halle, wo sein Herz immer fester wurde, indem er J. J. Rambach und Gotth. Aug. Francke als Lehrer hatte und sich vornehmlich an Freylinghausen anschloß. Er unterrichtete in seinen Freistunden dessen Kinder und hielt daneben auch im Waisenhause gesegnete Lehr- und Erbauungsstunden.
Im Juli 1731 berief ihr die Gemahlin des regierenden Fürsten August Ludwig von Anhalt=Cöthen zum Hofmeister der Prinzessinnen. Erst nach langem Beten und reiflichem Erforschen des Willens Gottes konnte er sich dazu entschließen; er bekam aber zuletzt eine solche innere Ueberzeugung, dieß sey der Wille Gottes, daß er im Oktober endlich mit Entschiedenheit sagte: „Wenn ich auch zu Cöthen in eine Hölle gehen sollte, so will ich doch hinein, denn mein Gott und Jesus wird mit mir gehen, mir in Allem beistehen und selbst Alles Durchführen.“ Er verwaltete nun dieses Amt neun Jahre lang mit großem Segen; er that Alles um Christi willen und im Hinblick auf Christi Vorbild; je mehr dieß erkannt wurde, desto lieber wurden auch seine Ermahnungen von seinen fürstlichen Schülerinnen und ihren Eltern, deren Vertrauen und Liebe er in hohem Grad zu genießen hatte, aufgenommen. Dabei war sein ganzes Benehmen auch äußerst liebreich, mild und freundlich, voll Aufrichtigkeit und Bescheidenheit. Sein Wirkungøfreis war ihm so lieb geworden, daß er es ablehnte, als ihn im Jahr 1736 die Prinzessin von Württemberg-Neustadt zum Stiftsprediger in Walloe in Dänemark, wo sie Aebtissin war, machen wollte; auch später noch hielt er es so mit drei andern Berufungen nach Halle, nach Pölzig und nach Köstritz, wohin ihn der mit ihm befreundete Bogatzky empfohlen hatte. Einen besonders lieben Freund hatte er in dem Hofprebiger Allendorf zu Cöthen gefunden, mit dem verband er sich zu gemeinschaftlichem Wirken für das Reich Gottes in der Nähe und Ferne, und für diesen Zweck verabredeten sie auch die Herausgabe von Sammlungen frommer Lieber um wohlfeilen Preis, die sich denn als „Cöthnische Lieder“ (s. S. 433.) unter dem Volk weit verbreiteten. Er selbst lieferte hiezu werthvolle Beiträge. In dieser Zeit hatte er anfangs durch manche innere Noth und Anfechtung zu gehen, so daß er in einem damals gedichteten Liede „Was klebst du wimmernd an der Erden?“ klagend seinen Geist also anredete:
So gottlos bin ich nie gewesen,
Sprichst du, als ich mich jetzo seh‘;
Ich werde von der Macht des Bösen
Umringet, wo ich geh und steh.
Will ich aus einem Greu’l mich winden,
So fällt mich, eh‘ ich denken kann
Ein ganzes Heer von andern an,
Und macht mir Muth und Hoffnung schwinden.
Da höhnet mich der Feind des Lebens,
Und treibt mit meinen Thränen Spott;
Gieb’s auf, spricht er, es ist vergebens,
Du hoffst umsonst auf deinen Gott!
Und ob er sich dein möcht erbarmen,
So machst du selbst die Sache schlimm;
Dein Herz ist voller Schlangenkrümm
Und dreht sich stets aus seinen Armen.
Dann bin ich wie auf’s Maul geschlagen,
Ich weiß nicht, was ich sag‘ und thu;
Ich muß die Schmach verstummend tragen,
Denn mein Gefühl sagt „Ja“ dazu.
O! möchte Gott nur einmal hören
Der stolzen Feinde Uebermuth
Und sich in dieser Höllengluth
Mit Gnadenaugen zu mir kehren.
Quelle:
Geschichte des des Kirchenlieds und Kirchengesangs der christlichen, insbesondere der deutschen evangelischen Kirche. Von Eduard Emil Koch, Dekan, ordentlichem Mitglied der historisch-theologischen Gesellschaft zu Leipzig. Erster Haupttheil: Die Dichter und Sänger. Vierter Band. Dritte umgearbeitete, durchaus vermehrte Auflage. Stuttgart. Druck und Verlag der Chr. Belser’schen Verlagshandlung. 1868 [Digitalisat]