1. Timotheus 1, 8

»Wir wissen aber, dass das Gesetz gut ist, wenn man es gesetzmäßig gebraucht.« (1. Timotheus 1, 8, Textbibel)

Doktor Svebilius sagt, daß »das Gesetz von Natur einigermaßen erkannt werden kann, während das Evangelium hingegen aller Vernunft ein tief verborgenes Geheimnis ist«. Dies ist wahr und zutreffend, und doch sieht man merkwürdigerweise oft, daß die entsetzlichsten Missverständnisse und Missbräuche des Gesetzes in der Christenheit herrschen – Mißverständnisse und Mißbräuche, durch die das ganze Gesetz und das ganze Wort Gottes ohne Kraft und Nutzen bleiben und Seelen in unerrettetem Zustand verloren gehen. Wir wollen nun mit Gottes Hilfe die besorgniserregenden Aspekte dieser Mißverständnisse und Mißbräuche hervorheben.

Wir sprechen hier also nicht mit denen, die das Gesetz verachten, deren Urteil kurz, bestimmt und leicht verständlich ist. Denn jeder kann wohl begreifen, daß Gott den nicht in Sein Reich aufnimmt, der nicht nur unrein und sündig ist, sondern auch frech den heiligen Willen Gottes verachtet (Denn was beinhaltet das Gesetz, wenn nicht den Willen Gottes?); und wer den Willen Gottes verachtet, der verachtet Gott, und es gibt doch keine einzige Verheißung, daß Gott Seinen Verächtern gnädig sein werde (vgl. Psalm 25, 3, Psalm 31, 17, Psalm 119, 158).

Bist du verdorben und sündig, ja wirklich schuldig gegenüber dem heiligen Gesetz Gottes, so ist Seine Gnade dennoch groß genug, dir um Christi willen zu vergeben. Aber wenn du Gott und Seinen Willen verachtest, wenn du nicht einmal den Versuch machen willst, Ihn wirklich zu lieben und Ihm zu gehorchen, wie kannst du dann erwarten, daß dir das vergeben werde? Oder, um es besser auszudrücken: Kannst du dann immer noch glauben, daß du auf dem Weg in den Himmel seist? Halte einen Augenblick inne und denke darüber nach! – Wir haben also ein Thema vor uns, das nicht verachtet werden darf, sondern von jedem so wichtig gehalten werden muß wie das Seelenheil selbst. Wir werden aber bald herausfinden, daß es nicht genügt, das Gesetz zu beachten und zu befolgen, sondern daß es auch nötig ist, es recht anzuwenden.

Der Apostel Paulus sah, daß seine Brüder aus Israel »um Gott eiferten«, »nach dem Gesetz der Gerechtigkeit strebten«, »das Gesetz lasen« etc., und doch mußte er klagen, daß er um ihretwillen »große Traurigkeit und unablässigen Schmerz in [seinem] Herzen« hatte, daß er sogar wünschte, um ihretwillen »von Christus verbannt zu sein« (Röm. 9, 2-3.31). Was war denn bei ihnen der Fehler? Er erklärte es wie folgt: »… bis zum heutigen Tag liegt die Decke auf ihrem Herzen, sooft Mose gelesen wird« (2. Kor. 3, 15); er sagte, dass sie »ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten trachten« (Röm. 10, 3), d. h. sie haben sich nicht durch das Gesetz strafen und richten lassen; sie haben sich nicht durch das Gesetz zu Christus hinführen lassen, sondern haben das Gesetz zu ihrem vermeintlichen Heilsweg gemacht.

Nun ist es aber der eigentliche Zweck und das eigentliche Werk des Gesetzes, die Sünder zu erwecken und sie zu Christus zu treiben, der »das Ende des Gesetzes [ist], zur Gerechtigkeit für jeden, der glaubt« (Röm. 10, 4). »Denn was dem Gesetz unmöglich war – weil es durch das Fleisch kraftlos war –, das tat Gott, indem Er Seinen Sohn sandte in der gleichen Gestalt wie das Fleisch der Sünde …« (Röm. 8, 3). »… und dieses Leben ist in Seinem Sohn. Wer den Sohn hat, der hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht.« (1. Joh. 5, 11-12). In Ihm und »in keinem anderen ist das Heil« (Apg. 4, 12).

Darum ist, wie Paulus sagt, »das Gesetz unser Lehrmeister geworden auf Christus hin« (Gal. 3, 24); und das ist sein eigentliches Amt. Es entspricht jenem Johannes dem Täufer, der zwar nicht mit Geist und Feuer, aber doch mit der Taufe der Buße taufte, »um dem Herrn ein zugerüstetes Volk zu bereiten« (Lukas 1, 16-17). Das Gesetz ist gleichsam das Gefängnis, in dem wir »verwahrt und verschlossen [wurden] auf den Glauben hin, der geoffenbart werden sollte, … damit wir aus Glauben gerechtfertigt würden« (Gal. 3, 23-24).

Der Zweck des Gesetzes: daß alle Welt vor Gott schuldig sei

Der erste, größte und allerfurchtbarste Mißbrauch des Gesetzes ist also der, der darauf abzielt, das ganze Gesetz nutzlos zu machen; der darauf hinwirkt, daß sein Zweck ganz verfehlt wird. Und wenn das Gesetz nutzlos gemacht worden ist, wenn das Salz seine Kraft verloren hat, womit soll man dann salzen, erwecken und das harte Herz zerschlagen? Und wenn es nicht die Kraft des Gesetzes erfährt, zu zerschlagen, dann werden auch das Evangelium und Christus mit Seinem ganzen Verdienst nutzlos; denn »nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken« (Lukas 5, 31) – nämlich diejenigen, die unter der harten Regierung des Gesetzes ihre Krankheit erkennen. Wenn aber sowohl Gesetz als auch Evangelium, wenn das ganze Wort Gottes keine Kraft mehr auf das Herz ausübt, dann ist der Mensch völlig verloren und kann nicht gerettet werden.

Laßt uns aber sehen, wie es kommt, daß das Gesetz und alle Worte Gottes durch die falsche Anwendung der Gebote unwirksam gemacht werden. Das geschieht, wie gesagt, dadurch, daß das Gesetz zum Heilsweg gemacht wird, obwohl es doch verdammen, zu Christus treiben und ein Lehrmeister auf Ihn hin sein sollte. Es geschieht dadurch, dass man vieles vom Gesetz und von den Gerichtsurteilen des Herrn so verflacht, die hohen Anforderungen des Gesetzes so sehr herunterschraubt und so sehr abschwächt, daß sie den Wünschen, dem Geschmack oder zumindest dem Vermögen des Sünders entsprechen. Man sagt: »Dies und jenes kann kein Sterblicher erfüllen; darum kann es nicht Gottes Willen entsprechen, dies zu fordern; denn Gott kann nicht mehr fordern, als wir zu tun imstande sind«. Das ist der grundlegende Irrtum vieler; auf diese Weise würde aber nicht »jeder Mund verstopft … und alle Welt vor Gott schuldig« sein (Röm. 3, 19). Denn wenn auch nur ein Mensch die ernsten Forderungen des Gesetzes erfüllen könnte, so wäre diesem der Mund nicht verstopft, sondern er könnte sich unverschämt vor Gott rühmen.

Wer verstehen will, warum das Gesetz mehr fordert, als wir je zu leisten in der Lage sein werden, und welch einen hohen Standard das Gesetz in seinen Forderungen hat, der bedenke nur, was das Gesetz ist. Das Gesetz ist nichts anderes als der heilige Wille Gottes, in menschlichen Worten ausgedrückt; also erstrecken sich die Forderungen Gottes genau so weit wie Seine Heiligkeit. Denn das Gesetz sagt dir: Gott will dies und jenes; Gott will nicht…

Und nun ist es selbstverständlich, daß dieser Wille Gottes es nicht unterlässt, von dir immer mehr Heiligkeit zu fordern und zu wünschen, bis du so heilig geworden bist wie Er Selbst. Denn was Er nicht Selbst tun will, will Er auch von dir nicht getan haben. Er würde auch nie sagen: »Ich will zwar nicht, daß du dies oder jenes tust; aber um deines starken Begehrens willen erlaube Ich dir, es doch zu tun«. Oh nein, Er gebietet: »Ihr sollt heilig sein; denn Ich bin heilig, der HERR, euer Gott!« (3. Mose 19, 2).

Wenn wir bedenken, daß das Gesetz nichts anderes darstellt als Gottes Heiligkeit, als Gottes Wille, dann verstehen wir, warum es auf ewig nicht um einen Buchstaben oder ein Strichlein verändert werden darf, noch den Schwachheiten eines gefallenen Menschengeschlechts angepaßt werden kann; denn dann müßte Gottes Heiligkeit korrumpiert werden. Und wer die Gnade empfängt, die Heiligkeit des Gesetzes recht zu erkennen, der kann nicht mehr die Hoffnung hegen, vor dem Gesetz vollkommen, das heißt so heilig wie Gott zu werden, sondern er wird mit Sicherheit Demut und Reue empfinden müssen. Wer immer noch hofft, auf obige Weise vor dem Gesetz gerecht werden zu können, hat die »Decke« auf dem Herzen (s. 2.Kor. 3, 13-16), ist blind und hat keine wirkliche Vorstellung davon, was das Gesetz eigentlich verlangt.

»Aber«, sagst du, »man kann doch nicht so heilig werden wie Gott; man kann doch nicht ganz vollkommen werden; man soll doch einfach nur so viel tun, wie man kann.« Durchaus nicht, das läßt Gott nicht gelten; du sollst alle Anforderungen des Gesetzes halten, sonst bist du verdammt. Denn so lautet das Gesetz: »Verflucht sei, wer die Worte dieses Gesetzes nicht aufrechterhält, indem er sie tut!« (5. Mose 27, 26; vgl. Gal. 3, 10). Und Jakobus sagt: »Denn wer das ganze Gesetz hält, sich aber in einem verfehlt, der ist in allem schuldig geworden« (Jak. 2, 10).

»Aber«, sagst du, »Gott ist doch um Christi willen barmherzig, so daß Er auch dann vergibt, wenn man nicht alle Teile des Gesetzes erfüllt« Nein. Er ist durchaus keinem gnädig, der dem Gesetz gegenüber schuldig ist. Ganz anders verhält es sich mit denen, die aufgrund des Glaubens die Gerechtigkeit Christi besitzen. Diese haben vor dem Gesetz keine einzige Schuld, denn sie haben durch Christus – beachte! – gerade diese Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert: »Denn was dem Gesetz unmöglich war – weil es durch das Fleisch kraftlos war –, das tat Gott, indem Er Seinen Sohn sandte« (Röm. 8, 3); kurz gesagt: Sie sind »nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade« (Röm. 6, 14-15). Wer aber unter dem Gesetz ist, dem wird nichts vergeben, denn es verhält sich so, wie Jesus selbst bezeugt hat: »[Es] wird nicht ein Buchstabe noch ein einziges Strichlein vom Gesetz vergehen« (Matth. 5, 18).

Ach, wie groß ist der Schaden für die Seele, wenn man nicht bedenkt, dass die einen unter dem Gesetz stehen und die anderen nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade (Röm. 3, 19; 6, 14; 7, 4.6), und daß die Art und Weise, in der die einen und die anderen regiert werden, sehr verschieden ist. Gewiß ist die Gnade in Christus sehr groß und reich; aber nicht das Geringste davon kommt denen zugute, die unter dem Gesetz sind, die »Moses-Jünger« (Joh. 9, 28) sein wollen; sondern der Apostel Paulus sagt: »Denn alle, die aus Werken des Gesetzes sind, die sind unter dem Fluch« (Gal. 3, 10).

Es ist der schrecklichste Mißbrauch des Gesetzes, wenn man dies übersieht und verschweigt und stattdessen ein anderes »Evangelium« predigt, das gemäß dem Fleisch ist. Mit anderen Worten: Wenn man aus dem Gesetz das herausnimmt, was dem Sünder zu streng klingt – wenn man das Ziel absoluter Heiligkeit herunterschraubt, damit der Sünder diese Meßlatte erreichen kann –, dann führt das zwangsläufig zur Selbstgefälligkeit, zur Selbstgerechtigkeit und zur Selbstsicherheit. Auf diese Weise wird das Ziel und der Nutzen des ganzen Gesetzes zunichte gemacht; denn es war dazu bestimmt, den Sünder zu zerbrechen, zu züchtigen und zu strafen, und nicht, irgendwelche Selbstgerechtigkeit hervorzubringen, nicht, in das Joch der Knechtschaft, in den Abgrund der Verzweiflung zu treiben, sondern zu Christus hin. »Denn Christus ist das Ende des Gesetzes zur Gerechtigkeit für jeden, der glaubt« (Röm. 10, 4).

Dieses Einschränken des Gesetzes, womit man ihm den Stachel herausbricht, geschieht auch dadurch, dass man sich selbst oder anderen Hoffnung für die Zukunft macht, nämlich die Hoffnung, daß das, was zur endgültigen Erfüllung des Gesetzes noch fehlt, in unserem Leben durch den Beistand des Geistes noch geschehen werde, und daß dann, wenn dieser Sieg errungen sei, die Zeit gekommen sei, daß man sich das Verdienst Christi aneignen könne.

Was ist das für ein böser Streich Satans! Bedenke: Wenn der Tod dich in der nächsten Nacht überrascht, dann bist du ja verdammt, weil du nicht heilig bist, wie Gott heilig ist! Du tröstest dich damit, daß du sprichst: »Ich hoffe auf die Treue Gottes, daß Er mich nicht von hier abberufen wird, bis ich genug für den Himmel zubereitet bin« Das ist ja recht schön, daß du so hoffnungsvolle Gedanken von Gott hast; aber wo steht das geschrieben, daß Gott deinen Tod so lange hinauszögert, bis du so heilig geworden bist, wie es das Gesetz fordert? Mit dieser Einstellung wirst du mit Sicherheit weder glückselig leben noch sterben können.

Kommst du nun zu dem Schluß, da du auf diese Weise verloren seiest, so antworten wir: Genau das wollte das Gesetz dir zeigen, damit du lernst, als ein völlig Verdorbener und Verlorener, der nichts vorzuweisen hat, zu Christus zu kommen. Dann brauchst du nämlich nicht mehr auf die Zukunft zu warten, sondern du bist ganz nah am Reich Gottes. Gerade die Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert, aber nicht hervorbringen kann, kannst du jeden beliebigen Augenblick auf einem anderen Weg erlangen, nämlich durch den Glauben an Christi Blut und Gerechtigkeit.

Hüten wir uns also davor, das Gesetz so oberflächlich auszulegen, als ob der Mensch es erfüllen könne, und gleichzeitig zu meinen, man könne nicht selig sterben, ehe man nicht in sich selbst rein und vollkommen geworden sei. Denn unter diesem Gedanken verbirgt sich sowohl ein Antichrist als auch ein Mörder – ein Antichrist, der mit List das Blut Christi überflüssig machen will, der sagt, das Blut Christi tauge zu nichts oder höchstens zu einer teilweisen Heiligung, nicht aber zur Versöhnung für unsere Sünden, und ein Mörder, der entweder mit dem falschen Trost der eigenen Gerechtigkeit oder aber mit einem zwanghaften und zermürbenden Knechtsgeist die Seele letztendlich ins Verderben stürzt.

Nein, sondern je heißer es auf dem Sinai ist, je strenger und klarer die ernsten und geistlichen Forderungen des Gesetzes den Seelen vor Augen stehen, um so besser ist es für sie, um so eher werden sie den Trost empfangen, nämlich den Trost, der ihnen in solcher Selbsterkenntnis gilt. Denn um so eher wird ihnen der falsche Trost, die Hoffnung auf die Gerechtigkeit des Gesetzes, entrissen; dann werden sie genötigt sein, einen anderen Trost zu suchen, nämlich zu Jesus zu fliehen; und bei Ihm finden sie die wahre Glückseligkeit.

Beachte noch einmal: Es gibt kein besseres Mittel, den Seelen schnell zum rechten Trost zu verhelfen, als das Gesetz so streng und so heiß, wie es ist, hervorzuheben. Denn je eher uns aller Trost in der eigenen Gesetzesgerechtigkeit entrissen wird, desto eher nehmen wir die Gerechtigkeit Christi an, die im Evangelium offenbart ist.

Das rechte Sündenbewußtsein

Nachdem wir nun festgestellt haben, dass das erste und eigentliche Werk des Gesetzes ist, den Sünder zur Demütigung und zum Sündenbewußtsein zu führen, fragen wir: Wie muss dieses Sündenbewußtsein aussehen, um gerechtgesprochen werden zu können? Die Antwort lautet: Es genügt nicht, dass man nur seine Tatsünden und äußerlichen Übertretungen erkennt, denn dabei könnte man sich noch damit trösten, dass man sich ja bessern will und sich in Zukunft bessern wird. Nein, das Gefühl der Sündhaftigkeit muss in die Tiefe gehen, es muss tief und gründlich sein. Du musst die Wurzel und Tiefe deines Sündenverderbens fühlen, welches sich in der fleischlichen Sicherheit des Herzens, in seiner Heuchelei, Gefühllosigkeit, Härte und Gottesverachtung zeigt; du musst fühlen, dass du deshalb ein unglücklicher und verlorener Sünder bist.

Solange du diesen Sauerteig alles Bösen im Grunde deines Herzens nicht fühlst, so lange lebt immer noch dein sich wichtig machendes »Ich«, indem du sagst: »Ich soll«, »Ich will«; so lange bleibst du immer noch in deiner Selbstgerechtigkeit und Selbstsicherheit, und so lange kannst du Christus nie wirklich annehmen und ganz allein auf Seinem Verdienst zur Ruhe kommen.

So beginnt man unter dem Gesetz zu arbeiten, indem man sich zu bessern sucht und die Sünden ablegt, und solange man nur auf das Äußere schaut und die Umkehr scheinbar gelingt, ist man voller Hoffnung und bleibt in der Aufrichtung der eigenen Gerechtigkeit. Fängst du aber an, innere Heiligung zu suchen, zu erkennen, dass Gott ja das Herz fordert, und willst du das reinigen, dann kommst du bald in Verlegenheit. Denn während du dich bemühst, Gott über alles zu lieben, fühlst du dich kalt und gottlos; während du ernstlich gegen die Sünde zu beten und zu kämpfen suchst, erliegst du ihr leichtfertig und kampflos, kannst nicht einmal richtig bereuen und beweinen, sondern bist hart und selbstsicher. Dann wirst du verwirrt sein und sagen: »Ich bin ganz verloren, ich bin verstockt, ich bin ein Heuchler, denn ich kämpfe nicht wirklich ernsthaft gegen die Sünde, noch bereue ich sie recht.« – Siehe nun, gerade dies ist es, was das Gesetz bewirken sollte.

Und was fühlst du jetzt? Fühlst du nicht die fleischliche Sicherheit, die Heuchelei, die Härte und die Verachtung des Herzens gegenüber Gott? Das aber ist eben das rechte Werk des Gesetzes. Und dieses Böse musst du erkennen. Aber nun kannst du keinen Trost finden; denn es ist ja schrecklich, so hart, sicher und heuchlerisch zu sein! Aber suchtest du nicht diese Selbsterkenntnis? Sicher, aber du wolltest nur etwas von dem Verderben empfinden, nicht das Verderben selbst in dir sehen. Doch jetzt scheint es dir sogar, dass du nicht einmal das Empfinden deiner Sünden hast, sondern nur die Sünden selbst in dir beherbergst; du siehst sie nur, aber du fühlst nicht ihre Verderbnis. Aber solltest du nicht gerade diese deine Gefühlskälte erfahren? Und solltest du nicht gerade allen Trost in dir selbst verlieren, um auf diese Weise zu Christus getrieben zu werden, auf dass Er allein all dein Trost werde?

Aber in diesem Zustand ist es nicht leicht, zu Christus zu fliehen; nun ist es nicht leicht zu glauben. Ja, jetzt kommt es darauf an, dass du gerade in diesem Zustand Seine Gnade empfängst; sonst bist du trotz allem, was du erfahren hast, doch verloren. Und nun steht Christus da und ruft voller Sanftmut: »Kommt her zu Mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, so will Ich euch erquicken!« (Mt. 11,28). Wenn du jetzt nur einfach die Augen der Vernunft schließt und dich so, wie du bist, in Seine Arme wirfst, so wirst du errettet werden wie aus dem Feuer, reingewaschen in Seinem Blut, gerecht, glückselig und voller Freude. Nun verstehst du den Vers: »Denn Christus ist das Ende des Gesetzes zur Gerechtigkeit für jeden, der glaubt« (Röm. 10, 4).

Das ist nun also der Stand der Dinge, der uns zeigt, »dass das Gesetz gut ist, wenn man es gesetzmäßig anwendet« (1.Tim. 1,8), und wir haben sowohl den rechten als auch den falschen Gebrauch des Gesetzes bei der Bekehrung des Menschen hervorgehoben. Aber auch in der täglichen Buße hat das Gesetz immer noch sein Werk, teils um dem wiedergeborenen, gerechtfertigten und begnadigten Menschen zu zeigen, wie er sich in allen Lebenslagen zu verhalten hat, teils um das leichtsinnige Fleisch zu strafen und zu züchtigen und uns täglich neu zu Christus zu treiben.

Es bleibt noch ein gefährlicher Irrtum zu erwähnen, der zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten auftaucht, nämlich den der Antinomisten (Gesetzesleugner), die das Gesetz sowohl bezüglich der ersten als auch der täglichen Buße für überflüssig und unnütz halten. Wir wollen hier nicht dieselbe Befürchtung zum Ausdruck bringen wie »Moses Jünger«, die heute wie zur Zeit des Paulus ihm vorwarfen, dass er das Gesetz durch den Glauben aufhebe, wenn er die Werke des Gesetzes als untauglich verwarf bezüglich der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Darauf antwortete er: »Das sei ferne! Vielmehr bestätigen wir das Gesetz« (Röm. 3, 31). Nur solche, die zwischen Rechtfertigung und Heiligung, zwischen Gesetz und Evangelium, zwischen Gewissen und Fleisch nie zu unterscheiden gelernt haben, machen jenen Vorwurf; ihnen scheint derselbe Paulus einerseits zu radikal zu sein und die Tür zum Gnadenthron zu weit aufzumachen, andererseits zu streng zu sein und es mit dem Fleisch zu genau zu nehmen und zu bestrafen, was sie ungestraft lassen wollten.

Diese Befürchtung teilen wir gewiss nicht; Paulus war kein Antinomist. Wir sprechen jetzt von den wirklichen Antinomisten, die glauben und behaupten, das Gesetz sei für die Bekehrung nutzlos, wofür sie als Beweis anführen, dass niemals das Gesetz, sondern allein das Evangelium auf ihre Herzen gewirkt habe. O welch großer Irrtum! Wie könnte die Gnade wirken, wenn man von der Sünde nichts wüsste?! Das aber, was die Sünde aufdeckt und bestraft, ist das Gesetz, selbst wenn es dadurch redet, dass man Christus als Gekreuzigten predigt und auf Seine Wunden hinweist, die aufgrund unserer Sünden geschlagen wurden. Oftmals wirkt das Gesetz auf eine indirekte und geheime Weise. »Aber ich hätte die Sünde nicht erkannt, außer durch das Gesetz«, sagt Paulus (Röm. 7, 7). Obgleich das Gesetz nicht Leben gibt, so bewirkt es doch, dass man zum lebendigmachenden Evangelium getrieben wird.

Das Gesetz stellt quasi das Pflügen dar, das Evangelium ist die Saat. Es ist wahr, dass durch das Pflügen allein weder das Wachstum noch die Ernte hervorgebracht wird, sondern dass es dazu auch des Säens bedarf. Aber wenn der Boden nicht vorher durchgepflügt wird, bleibt die Aussaat fruchtlos; die Saat vertrocknet auf der harten Oberfläche und wird von den Vögeln weggefressen.

Diejenigen aber, die glauben, das Gesetz sei für die Christen nicht mehr notwendig, berufen sich auf falsch interpretierte Bibelstellen wie: »Nachdem aber der Glaube gekommen ist, sind wir nicht mehr unter dem Lehrmeister« (Gal. 3, 25); und »dass einem Gerechten kein Gesetz auferlegt ist« (1.Tim. 1, 9); und dann sagen sie: »Du sollst das Gewissen der Leute nicht mit Gesetzen binden.« Die Antwort darauf ist: Nicht das Gewissen soll gebunden werden, sondern dein Fleisch, auch wenn du schon unter der Gnade stehst.

Wenn aber dein Herz nicht rechtschaffen ist vor Gott, so daß du »Lust [hast] an dem Gesetz Gottes nach dem inneren Menschen« (Röm. 7, 22), sondern daß du (wohlgemerkt!) diese oder jene Sünde ungestraft lassen willst, so soll auch dein Gewissen gebunden sein; und was so gebunden ist auf Erden, »das wird [auch] im Himmel gebunden sein« (Matth. 18, 18). »Denn wenn ihr gemäß dem Fleisch lebt, so müßt ihr sterben« (Röm. 8, 13).

Bist du aber ein wahrer Christ, dann ist der Geist gewiß willig, dem Herrn in allem nachzufolgen, und er braucht nicht durch das Gesetz gezwungen zu werden. Doch das Fleisch ist schwach, träge und böse; das muß bestraft und gezüchtigt werden, wie Luther an einer Stelle sinngemäß sagt: Peitsche und Zaumzeug gehören nicht in die Brautkammer, sondern in den Stall für den Esel (dem das Fleisch entspricht). »So steht nun fest in der Freiheit, zu der uns Christus befreit hat … nur macht die Freiheit nicht zu einem Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander durch die Liebe« (Gal. 5, 1.13).

Autor: Carl Olof Rosenius. Aus dem Buch »Geheimnisse im Gesetz und Evangelium – Band 3« entnommen und sprachlich überarbeitet.


Eingestellt am 4. August 2023