Matthäus 25, 15

Und einem gab er fünf Zentner, dem andern zwei, dem dritten einen, einem jedem nach seinem Vermögen, und zog bald hinweg. (Matthäus 25, 15)

Ungleich behandelt der Herr seine Knechte, und deshalb geht in uns das Murren an: Ungleichheit ist Ungerechtigkeit. Warum soll der eine fünf, der andere dagegen nur zwei und der letzte gar nur ein einziges Talent empfangen? Bin ich nicht verkürzt, wenn es andere gibt, die mehr besitzen und mehr vermögen als ich?

Die Verderbnis der Gerechtigkeit zur Gleichmachung liegt auf der Menschheit als giftiger Wahn und quälender Druck, und es gibt keinen, der stark genug wäre, um diese Kette zu sprengen, als Jesus allein. Er hat seinen Jüngern gesagt: Ihr habt nicht alle denselben Anteil an dem, was ich euch gebracht habe, habt nicht alle dasselbe Verständnis meines Wortes, nicht alle dieselbe Stärke der Liebe und dieselbe Ausrüstung zu meinem Dienst. Daher vermag bei euch der eine mehr als der andere, weil er reicher ist als der andere.

Diese Ungleichheit entsteht nicht durch eure Versündigung, als müßte sich der, der nur ein Talent empfangen hat, anklagen und sagen: Hätte ich mehr Glauben und eine tiefere Buße, so bekäme ich auch fünf Talente. Ich gebe euch Verschiedenes; denn ihr seid verschieden und sollt es auch sein, auch in Gottes Reich und in meiner Gnade. Warum bewirkt er denn die Ungleichheit? Damit sichtbar sei, daß er der Herr ist, daß die Talente sein Eigentum sind, daß er sie nach seinem Willen verteilt. Das wird darin sichtbar, daß jeder nur das empfängt, was der Herr ihm gibt, nicht das, was der andere hat. Das Verlangen nach der Gleichheit entsteht aus der Eigensucht des Menschen, der seine Ansprüche anmeldet und seine Wünsche als gültiges Gesetz geehrt wissen will. Aber nicht meine Wünsche ordnen meinen Weg; er wird für mich geordnet und für jeden so, wie sein Herr es will. Gibt es aber noch Gemeinschaft zwischen uns, wenn wir nicht nur in unseren natürlichen Eigenschaften, sondern auch in unserem Christenstand verschieden sind?

Aber unser ganzer Besitz, die fünf und die zwei und das eine Talent, ist ja des Herrn Eigentum und seine Gabe. Wie können die Knechte gegeneinander streiten und gegeneinander arbeiten, wenn sie doch die Knechte des einen Herrn sind? Er ist unser Friede, er der, der die Christenheit einigt. Weil er der Eine ist, gibt es eine allgemeine Kirche und innerhalb dieser Einheit macht er seine Herrschaft dadurch offenbar, daß er jedem seine Gabe nach seinem Willen gibt. Wenn ich das erfaßt habe, so freue ich mich daran, daß die anderen anders sind als ich; denn darin wird der Reichtum Jesu offenbar.

Ich sehe, Herr, auf Dich, nicht auf die anderen, auf Deine mir gegebene Gabe, nicht auf das, was die anderen haben. Wenn ich auf die anderen sehe, werde ich verwirrt; wenn ich auf Dich sehe, stirbt mein Murren ab. Dann kann ich all mein Begehren in die eine Bitte fassen: Hilf mir, treu zu sein mit dem, was Du mir gabst.

Amen.

(Adolf Schlatter)

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Eingestellt am 13. August 2022