Die Stimme der Natur

Was ist’s, das trotz der Täuschung Qualen
Uns hinzieht an das Menschenherz?
Was uns verlockt zu tausend Malen
Zu neuer Lust, zu neuem Schmerz?
Was neu des Glaubens Gluth entzündet,
Wie Bitt’res auch das Herz erfuhr,
Und uns Versöhnung mild verkündet?
Es ist die Stimme der Natur.

Allmächtig erklinget gleich bebenden Saiten
Von ihrer Berührung das ganze Gemüth;
Ob feindliche Klänge dort kämpfen und streiten:
Sie schafft, daß dem Chaos der Einklang entblüht.
Sie ebnet des Zweifels unruhiges Wogen,
Und wärmet den Busen mit Liebe und Licht,
Und wenn wir den heiligen Balsam gesogen:
Es nimmer an Trost uns und Hoffnung gebricht.

O Wäre sie uns stets geblieben,
Die Stimme, offen, wahr und treu !
Wir würden inniger uns lieben,
Gleich Kindern, ohne Furcht und Scheu !
Doch ach, Verstellung schränkt die Rechte
Des lieblichen Vertrauens ein,
Verdrängt der Liebe fromme Mächte,
Und reicht für Wahrheit, leeren Schein.

Doch, wenn aus der Larven verworr’nem Getümmel
Nur einmal hervorbrach ihr freundlicher Laut;
Wie mahnt es so schnell uns an Engel und Himmel !
Wie fühlen wir Gott uns so innig vertraut !
Wie lösen sich leise die drückenden Bande,
Die Zeit und Gewohnheit um’s Herz uns gelegt!
Wir fühlen uns selig im heimischen Lande,
Wo rosige Blüthen der Augenblid trägt.

Oft streden wir so weit die Hände
Nach einem unbekannten Glück,
und kehren oft mit karger Spende,
An Muth und Glauben arm, zurück.
Indessen blüht das Wahre, Gute
Uns oft am Weg‘ so traut und nah,
Nur das in raschem Uebermuthe
Das blöde Aug‘ es übersah!

(Agnes Franz)

Quelle: Gedichte von Agnes Franz. Erster Theil, Hirschberg, gedruckt und im Verlage bei C.W.J. Krahn (Digitale Sammlungen, Bayerische Staatsbibliothek, München)
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Eingestellt am 26.12.2021