Die überschwengliche Gnade an dem größten der Sünder

Zu dieser Zeit saß ich unter der Kanzel des ehrwürdigen Herrn Gifford, dessen geistliche Lehre durch Gottes Gnade für meine Beständigkeit viel bedeutete. Dieser Mann machte es sich zur besonderen Aufgabe, das Volk Gottes von all jenen drückenden und ungesunden Sicherungen zu befreien, zu denen wir von Natur geneigt sind. Nach seiner Mahnung sollten wir uns vor allem davor hüten, irgendeine Wahrheit gutgläubig anzunehmen, nur weil sie von diesem oder jenem oder von sonst irgendeinem herstamme. Wir sollten vielmehr zu Gott rufen, er möge uns von der Wirklichkeit jeder Wahrheit überzeugen und uns dabei durch seinen eigenen Geist in dem heiligen Wort heimisch machen. Denn, sagte er, wenn ihr die Wahrheit nicht mit deutlicher Gewißheit vom Himmel empfangen habt, werdet ihr bei schweren Versuchungen innewerden, daß euch jene Hilfe und Kraft zum Widerstehen fehlen, die zu haben ihr euch einst einbildetet.

Das war für meine Seele zeitlich so passend, „wie Frühregen und Spätregen zu ihrer Zeit“ (5. Mose 11, 14). Denn die Wahrheit dieser Worte hatte ich, und zwar durch traurige Erfahrung, bereits gefunden. Ich hatte nämlich gefühlt, daß niemand, besonders nicht ein vom Teufel Versuchter, sagen kann: „Jesus Christus ist der Herr, außer durch den heiligen Geist“ (1. Kor. 12,3). Deswegen war meine Seele durch Gnade sehr bereit, diese Lehre innerlich ganz aufzunehmen. Auch war ich geneigt, zu Gott zu beten, er möge mich in keinem, was Gottes Ehre und meine eigene ewige Seligkeit angeht, ohne Bestätigung vom Himmel lassen. Denn ich sah jetzt klar den außerordentlichen Unterschied zwischen den begrifflichen Vorstellungen von Fleisch und Blut und der Offenbarung von Gott im Himmel. Ferner sah ich den großen Unterschied zwischen einem nur eingebildeten, menschlicher Klugheit entstammenden Glauben und dem Glauben eines Menschen, der dazu von Gott geboren ist: „Selig bist du, Simon, Jonas Sohn; denn Fleisch und Blut hat dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel“. „Wer da glaubt, daß Jesus sei der Christus, der ist von Gott geboren“ (Mat. 16, 17; 1. Joh. 5, 1).

Aber ach! Wie wurde jetzt meine Seele durch Gott selbst von Wahrheit zu Wahrheit geführt! Von der Geburt und Krippe des Sohnes Gottes an bis hin zu seiner Himmelfahrt und bis zu seiner Wiederkunft vom Himmel zum Weltgericht.

Wahrlich, in dieser Hinsicht fand ich jetzt, der große Gott war sehr gut zu mir. Denn nach meiner Erinnerung gab es da überhaupt nichts, das mir Gott, wenn ich ihn darum anrief, nicht nach seinem Wohlgefallen kundgemacht und geoffenbart hätte. Ich glaube, es gibt keinen Teil des Evangeliums des Herrn Jesus, in den ich nicht ordnungsgemäß eingeführt worden bin.

Ich sah mit großer Deutlichkeit nach den vier Evangelisten die wunderbaren Werke Gottes, wie Jesus Christus zu unserer Errettung dahingegeben wurde, und zwar von seiner Empfängnis und Geburt bis hin zu seiner Wiederkunft zum Gericht. Mir war es, als wenn ich ihn gesehen hätte, wie er geboren wurde, wie er aufwuchs und wie er durch diese Welt von der Krippe bis zum Kreuz wandelte. Darüber hinaus sah ich ihn auch, wie er so mild sich selbst für meine Sünden und Missetaten ans Kreuz hängen und nageln ließ. Auch fiel mir beim Nachsinnen über diesen seinen Gang in meinem Geist plötzlich ein, daß er bestimmt war „zur Schlachtbank“ (Jes. 53, 7). Als ich ferner die Wahrheit seiner Auferstehung betrachtete, gedachte ich an sein Wort: „Rühre mich nicht an, Maria“ usw. (Joh. 20, 27). Da habe ich ihn gesehen, wie wenn er aus der Grabesöffnung herausspränge vor Freude darüber, daß er wieder erstanden sei und den Sieg über unsere furchtbaren Feinde errungen hätte, und sagte: „Ich steige auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott“ (Joh. 20, 17). Ebenso habe ich ihn im Geiste gesehen, wie er als Mensch zur rechten Hand Gottes des Vaters sitzt. Ich habe auch die Art und Weise gesehen, wie er mit Herrlichkeit vom Himmel kommen wird, die Welt zu richten. Und ich wurde in diesen Dingen durch die Worte der Schrift fest gemacht.

Einmal wurde ich von der Frage beunruhigt, ob der Herr Jesus ebenso wohl Mensch war, wie er Gott ist, und ob er ebenso wohl Gott war, wie er Mensch gewesen ist. Und wirklich war mir in diesen Tagen alles nichts, mochten die Leute auch sagen, was sie wollten, es sei denn, ich hatte es mit deutlicher Gewißheit vom Himmel. Ich hielt mich selbst noch nicht für heimisch und vertraut mit irgendeiner Wahrheit über Gott. Wohl, ich war sehr in Unruhe über diese Frage und wußte ihre Lösung nicht. Schließlich kam mir die Schriftstelle in den Sinn: „Und ich sah, und siehe mitten zwischen dem Thron und den vier Tieren und mitten unter den Ältesten stand ein Lamm, wie wenn es erwürget wäre“ (Off. 5, 6). Da dachte ich: „mitten unter dem Thron“, da ist die Gottheit, und mitten unter den Ältesten„, da ist die Menschheit. Ach, das leuchtete mir glänzend ein. Es war ein köstliches Gefühl und gab mir liebliche Zufriedenheit. Auch half mir hierin jene andere Schriftstelle sehr: „Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft soll auf seiner Schulter sein; und er soll heißen Wunderbar, Rat, der mächtige Gott, der ewige Vater, der Friedefürst“ (Jes. 9, 5).

Während mich Gott so in seinem Wort unterwies, gebrauchte der Herr daneben noch zwei Dinge, um mich in dieser Wahrheit fest zu machen. Das eine waren die Irrlehren der Quäker, das andere aber war die Schuld meiner Sünde. Wie nämlich die Quäker sich der Wahrheit widersetzten, so machte mich Gott in ihr dadurch um so fester, daß er mich in die Schrift und ihre wunderbaren Wahrheitsbeweise einführte. Ich wurde dadurch zu einem noch engeren Forschen in der Schrift getrieben und durch ihr Licht und Zeugnis nicht allein erleuchtet, sondern auch in der Wahrheit sehr fest und trostvoll gemacht.

Außerdem half mir, wie ich sagte, die Sündenschuld viel. Denn das Blut Christi nahm sie noch stets, wenn sie über mich kommen wollte, wieder und immer wieder hinweg. Und das geschah dazu lieblich, gemäß der Schrift. Liebe Freunde, ruft zu Gott, er möge euch Jesus Christus offenbaren. Niemand kann lehren wie er.

Es würde hier zu lange währen, euch im einzelnen zu erzählen, wie Gott mich in allen Fragen von Christus heimisch machte und wie er mich dazu in seine Worte einführte. Ja, wie er mir seine Worte öffnete, sie vor mir aufleuchten und in mir wohnen ließ. Und wie er sie mit mir reden ließ und mich durch sie über und über tröstete, und das sowohl über sein eigenes Sein wie auch über das Sein seines Sohnes, des Geistes, des Wortes und des Evangeliums.

Nur das Eine will ich euch hier noch berichten. Im allgemeinen gefiel es ihm, seinen Gang mit mir folgendermaßen zu nehmen: Zuerst mich durch Versuchungen hinsichtlich seines Wortes anfechten zu lassen und dann dasselbe mir zu offenbaren. So zum Beispiel lag ich zuweilen unter großer Sündenschuld darnieder, ja wurde von meinen Sünden bis zu Grund und Boden zermalmt. Dann aber zeigte mir der Herr den Tod Christi. Ja, er besprengte mein Gewissen so mit seinem Blut, daß ich, und zwar noch vor allem bewußten Gewahrwerden, zu dem Gefühl kam: in demselben Gewissen, in dem eben noch das Gesetz regierte und raste, hat jetzt der Friede und die Liebe Gottes durch Christus Ruhe und Wohnung gefunden.

Jetzt hatte ich wirklich eine deutliche Gewißheit meiner Rettung vom Himmel, vor meinem inneren Auge durch viele goldene Siegel bekräftigt. Jetzt konnte ich mich dieser augenscheinlichen Offenbarung und jeder anderen Enthüllung der Gnade mit Trost erinnern. Und oft verlangte und wünschte ich, der jüngste Tag wäre gekommen, damit ich auf ewig durch die Anschauung, Freude und Gemeinschaft mit dem entflammt sein könnte, dessen dornengekröntes Haupt, dessen bespeites Angesicht, dessen gebrochenes Gebein und dessen Seele ein Opfer für meine Sünden geworden waren. Denn während ich zuvor ständig vor dem Höllenrachen zitternd darniederlag, fühlte ich mich jetzt so weit davon entfernt, daß ich ihn beim Zurückblicken kaum noch wahrzunehmen vermochte. Ach, dachte ich auch, wäre ich doch jetzt viermal zwanzig Jahre alt, damit ich sogleich sterben könnte und meine Seele zur Ruhe einginge.

Aber bevor ich aus diesen meinen Versuchungen so weit gekommen war, verlangte mich sehr danach, ein Werk irgendeines frommen Menschen aus alter Zeit zu lesen, der seine eigenen Erfahrungen einige Jahrhunderte vor meiner Geburt niedergeschrieben hätte. Denn diejenigen, die in unseren Tagen Schriften verfaßt haben, haben nach meinem Empfinden allein das geschrieben, was andere fühlten. Oder vielmehr sie hatten mit der Kraft ihres Verstandes oder ihres Amtes sich um die Beantwortung solcher Einwände bemüht, durch die sie andere verwirrt sahen. So aber gingen sie selbst nicht in die letzte Tiefe.

Wohl, nach vielem solchen Verlangen meines Geistes legte der Gott, in dessen Hand alle unsere Tage und Wege stehen, eines Tages ein Buch von Martin Luther in meine Hand. Es war seine Erklärung des Galaterbriefes, und das Buch war so alt, daß es schon beim bloßen Umwenden in Stücke zu zerfallen drohte. Ich war nun sehr erfreut, daß solch ein altes Buch in meine Hand gefallen war. Fand ich doch, als ich nur ein wenig von Luthers Erfahrungen gelesen hatte, darin meinen eigenen Zustand so weitgehend und tiefgründig behandelt, als ob sein Buch aus meinem Herzen geschrieben worden wäre.

Dies wunderte mich. Denn, so dachte ich, dieser Mann konnte nichts von dem jetzigen Zustand der Christen wissen, sondern er muß notwendig die Erfahrungen früherer Tage niedergeschrieben und ausgesprochen haben.

Außerdem untersucht Luther in diesem Buch höchst ernst auch den Ursprung derartiger Versuchungen wie Gotteslästerung, Verzweiflung und ähnliches und zeigt, daß das Gesetz des Mose wie auch Teufel, Tod und Hölle hierbei eine sehr große Rolle spielen. Das war mir zuerst recht seltsam, aber beim näheren Betrachten und Wachen fand ich es in der Tat so. Ohne mich hier auf Einzelheiten einzulassen, muß ich doch vor allen Menschen die Bemerkung fallen lassen: Ich ziehe dies Buch Martin Luthers über den Galaterbrief allen Büchern vor, die ich je gesehen habe (mit Ausnahme der heiligen Bibel). Ist es doch das geeignetste Buch für ein verwundetes Gewissen.

Und jetzt glaubte ich zu fühlen, daß ich Christus herzlichst lieb hätte. Ach, meinte ich, meine Seele und mein Gefühl hängen unverbrüchlich an ihm. Ich fühlte meine Liebe zu ihm so heiß wie Feuer. Und ich glaubte jetzt, ich würde, wie Hiob sagt (29, 18), „in meinem Nest sterben“. Aber sehr bald merkte ich, daß meine große Liebe noch allzu klein war, und daß ich, der eine solche brennende Liebe zu Jesus Christus zu haben meinte, ihn für eine richtige Kleinigkeit hin zugeben imstande war. Gott weiß, wie er uns Menschen demütigen und vor Hochmut bewahren kann.

Bei meiner Predigt des Wortes habe ich besonders das eine beobachtet, nämlich daß mich der Herr anleitete, da anzufangen, wo sein Wort mit Sündern anfängt. Das bedeutet, mit der Verurteilung alles Fleisches zu beginnen und dabei offen zu erklären, daß Gottes Fluch durch das Gesetz um der Sünde willen auf allen Menschen liegt, die in die Welt kommen. Diesen Teil meiner Tätigkeit erfüllte ich nun mit tiefem Gefühl. Denn die Schrecken des Gesetzes und die Schuld meiner Übertretungen lagen schwer auf meinem Gewissen. Ich predigte, was ich fühlte, was ich schmerzlich fühlte, eben das, worunter meine arme Seele erschüttert seufzte und zitterte. In der Tat, ich bin wie einer gewesen, der zu ihnen von den Toten gesandt wurde. Ich ging selbst in Ketten, um den in Ketten Gebundenen zu predigen. Und ich trug in meinem eigenen Gewissen jenes Feuer, vor dem ich andere inständig warnte. Ich kann wahrlich und ohne jede Heuchelei sagen: Wenn ich zu predigen hatte, ging ich voller Schuld und Schrecken dahin, gerade bis zur Kanzeltür. Und dort wurde es mir abgenommen. Ich wurde frei in meinem Geist, bis ich meinen Dienst verrichtet hatte. Unmittelbar danach aber, noch bevor ich die Kanzeltreppe ganz heruntersteigen konnte, wurde es mit mir so schlimm wie zuvor. Doch Gott trug mich weiter, freilich mit einer strengen Hand. Weder Schuld noch Hölle konnten mich nämlich von meinem Dienst fernhalten.

So fuhr ich zwei Jahre lang fort, gegen die Sünden der Menschen und ihren furchtbaren Zustand wegen derselben eindringlich zu predigen. Danach kam der Herr in meine eigene Seele mit einem sicheren Frieden und Trost durch Christus. Denn er gab mir durch ihn viele liebliche Enthüllungen seiner segensreichen Gnade Deshalb änderte ich jetzt meine Predigtart. Denn noch immer predigte ich, was ich sah und fühlte. Deswegen bemühte ich mich jetzt sehr, Jesus Christus in allen seinen Ämtern, Beziehungen und Wohltaten gegenüber der Welt zu verkündigen. Und ich war auch bestrebt, alle jene falschen Stützen und Halte aufzudecken, zu verurteilen und wegzuräumen, an welche sich die Welt anlehnt und mit denen sie fällt und zugrunde geht. Bei diesen Gegenständen blieb ich ebenso lange wie bei den andern.

Hiernach führte mich Gott etwas in das Geheimnis der Vereinigung mit Christus hinein. Deswegen enthüllte und erläuterte ich es auch meinen Zuhörern. Und nachdem ich etwas mehr als fünf Jahre lang durch diese drei Hauptpunkte des Wortes Gottes hindurchgewandert war (1. Sündenschuld, 2. erlösende Gnade, 3. Mysterium der Vereinigung mit Christus), wurde ich während meiner Predigtpraxis gefangen genommen und in das Gefängnis geworfen. Dort habe ich mehr als doppelt so lang gelegen, um die Wahrheit durch den Weg des Leidens zu bekräftigen, als ich sie vorher auf dem Wege des Predigens gemäß der heiligen Schrift bezeugt habe.

Wenn ich gepredigt habe, so hat mein Herz, Gott sei Dank, oft während des ganzen Gottesdienstes mit großem Ernst zu Gott geschrieen, er wolle das Wort zur Errettung der Seelen wirksam machen. War ich doch immer in Sorge, der Feind könnte das Wort aus den Gewissen wegnehmen und es dadurch unfruchtbar bleiben. Deswegen bemühte ich mich, das Wort so zu sagen, daß dadurch möglichst die Sünde und die schuldige Person einzeln bezeichnet würden.

Und wenn ich den Gottesdienst vollendet hatte, kam mir der Gedanke ins Herz, das Wort würde jetzt wie ein Regen aufs Steinige fallen. Ich wünschte dann immer von Herzen: Ach, möchten doch meine heutigen Zuhörer auch so wie ich sehen, was Sünde, Tod, Hölle und der Fluch Gottes ist. Möchten sie ebenso erfahren, was die Gnade, die Liebe und die Barmherzigkeit Gottes durch Christus für Menschen ist, die ihm noch so weit entfremdet sind! Und tatsächlich sagte ich in meinem Herzen oft vor dem Herrn: Wenn ein sofortiges öffentliches Gehenktwerden ein Mittel wäre, sie zu erwecken und in der Wahrheit festzumachen, so wäre ich voll Freuden dazu bereit.

Bei meinem Predigen war es mir, als ob ein Engel Gottes dicht hinter meinem Rücken stünde, um mich zu ermutigen. Das war besonders der Fall, wenn ich mich mit der Lehre von dem Leben befaßte, das durch Christus gewirkt wird und nicht durch Werkgerechtigkeit. Während ich es vor den Gewissen anderer zu entfalten, zu beweisen und zu befestigen suchte, stand dies alles mit solcher Macht und himmlischer Deutlichkeit vor meiner eigenen Seele, daß ich nicht mit der Aussage zufrieden sein konnte: Ich glaube und bin sicher. Meines Erachtens war ich mehr als sicher, daß jene von mir versicherten Dinge wahr seien, wenn meine eigene Äußerung hier gestattet ist.

Mein sehnlichster Wunsch bei der Erfüllung meines geistlichen Dienstes war der, an die dunkelsten Orte des Landes, gerade mitten unter das Volk zu gehen, das am weitesten vom Bekenntnis der Wahrheit entfernt war. Aber nicht aus dem Grunde, weil ich das Licht nicht hätte ertragen können. Ich fürchtete mich nämlich nicht, mein Evangelium jedermann offen zu zeigen. Sondern vielmehr deswegen, weil meiner Überzeugung nach mein Geist am meisten zu dem Werk der Erweckung und Bekehrung geneigt war. War doch auch das Wort selbst, das ich brachte, vornehmlich auf diesen Weg gerichtet: „Dabei aber habe ich sonderlich meine Ehre darein gesetzt, das Evangelium zu predigen, wo Christi Name nicht bekannt war, auf daß ich nicht auf einen fremden Grund baute“ (Röm. 15, 20).

Ich hatte in meinem ganzen Leben niemals einen so großen Zugang zum Wort Gottes wie jetzt. Jene Schriftstellen, in denen ich zuvor nichts Besonderes sehen konnte, vermochten an diesem Ort und in diesem Zustand in mir zu leuchten. Ebenso war mir Jesus Christus niemals zuvor so wirklich und deutlich wie jetzt. Hier habe ich ihn wirklich gesehen und gefühlt. Ach, solche Worte wie dies: „Wir haben euch nicht kluge Fabeln gepredigt“ (2. Pet. 1, 16) oder wie jenes: „Gott hat Christus von den Toten auferweckt und ihm die Herrlichkeit gegeben, auf daß euer Glaube und Hoffnung zu Gott stehen möge“ (1. Pet. 1, 21), sie waren für mich in der Lage eines Gefangenen gesegnete Worte.

Ich habe an diesem Ort liebliche Gesichte von der Vergebung meiner Sünden und von meinem Leben mit Jesus in einer andern Welt gesehen: O, der Berg Zion, das himmlische Jerusalem, die unzählbare Schar der Engel, Gott als der Richter aller, die Geister der vollendeten Gerechten und Jesus waren mir an diesem Ort lieblich (Heb. 12, 22?24). Ich habe hier das gesehen, was ich nach meiner Überzeugung niemals, solange ich in dieser Welt bin, auszudrücken vermag. Ich habe eine Wahrheit in dieser Schriftstelle gesehen: „Ihn habt ihr nicht gesehen und habt ihn doch lieb; und nun glaubt ihr an ihn, wiewohl ihr ihn nicht seht“ (1. Pet. 1, 8).

Von allen Versuchungen, die mir jemals in meinem Leben begegneten, ist die schlimmste und die am schlimmsten zu ertragende der Zweifel an dem Dasein Gottes und an der Wahrheit seines Evangeliums. Wenn diese Versuchung kommt, so wird mir mein Halt genommen und mein Grund entrissen. Ach, oft habe ich an das Wort denken müssen: „Habt eure Lenden gegürtet mit Wahrheit“ (Eph. 6,14) und an das andere: „Wenn der Grund zerstört wird, was kann der Gerechte tun“ (Ps. 11, 3)?

Wenn ich manchmal nach begangener Sünde empfindliche Strafe von der Hand Gottes erwartete, war das allernächste, das mir von ihm zuteil wurde, die Enthüllung seiner Gnade. Wenn ich Trost empfangen hatte, nannte ich mich manchmal selbst einen Narren, daß ich so unter der Unruhe versank. Und wenn ich niedergeschlagen war, hielt ich mich wiederum nicht für klug, daß ich dem Trost derart Raum gegeben hatte. Mit solcher Stärke und mit solchem Gewicht haben diese beiden auf mir gelegen.

Über eins habe ich mich sehr gewundert. Gott besuchte jetzt meine Seele immer wieder mit einer so gesegneten Enthüllung seiner selbst wie nie zuvor. Dennoch haben mich hinterher wiederum Stunden tiefster innerer Dunkelheit überfallen. In ihnen verlor ich fast die Vorstellungsfähigkeit, wer überhaupt jener Gott sei, der mich mit seinem Trost stets neu erquickt hat.

Ich habe manchmal in einer Zeile der Bibel mehr gesehen, als ich zu ertragen imstande war. Und doch war zu anderer Zeit mir die ganze Bibel wie ein trockenes Holz. Oder besser, mein Herz war ihr gegenüber so tot und trocken, daß ich aus ihr nicht den geringsten Erfrischungstrunk erhalten konnte, so sehr ich auch danach lechzte.

Das ist die allerbeste Furcht, die durch das Blut Christi gewirkt wird. Und das ist die allerlieblichste Freude, die mit der Trauer um Christus gemischt ist. Ach, es ist für uns etwas Gutes, vor Gott auf den Knien zu liegen, Christus im Arm. Ich hoffe, ich weiß davon einiges.

Ich finde bis zu diesem Tage in meinem Herzen sieben Greuel:

  1. Neigung zum Unglauben;
  2. Rasches Vergessen der von Christus geoffenbarten Liebe und Barmherzigkeit;
  3. Ein Vertrauen auf die Werke des Gesetzes;
  4. Abschweifen und Kälte beim Beten;
  5. Meine Vergeßlichkeit, auf das Erbetene zu warten;
  6. Meine Neigung zum Murren darüber, daß ich nichts mehr habe, und demgegenüber meine Bereitwilligkeit, das, was ich habe, zu mißbrauchen;
  7. Ich vermag nichts zu tun von dem, was mir Gott befiehlt, ohne daß sich meine Verderbtheiten dazwischendrängen: „Wenn ich das Gute tun will, ist mir das Böse gegenwärtig“ (Röm. 7, 2 1).

Diese Dinge sehe und fühle ich unaufhörlich. Ich werde von ihnen gequält und bedrückt. Doch Gottes Weisheit ordnet sie zu meinem Besten:

  1. Sie veranlassen mich, mich selbst zu verabscheuen;
  2. Sie bewahren mich davor, meinem Herzen zu trauen;
  3. Sie überzeugen mich von der Unzulänglichkeit aller eigenen Gerechtigkeit;
  4. Sie zeigen mir die Notwendigkeit, zu Jesus zu fliehen;
  5. Sie drängen mich, zu Gott zu beten;
  6. Sie zeigen mir, wie nötig mir Wachsamkeit und Nüchternheit sind;
  7. Und sie rufen mich auf, durch Christus zu Gott zu beten, er möge mir helfen und mich durch diese Welt hindurchtragen.

Quelle: Glaubensstimme