1. Nicht Zank, sondern Friede (Elias Schrenk)

Gestern Abend betrachtete ich mit meiner Familie Joh. 17, 22: „Und Ich habe ihnen gegeben die Herrlichkeit, die Du Mir gegeben hast, daß sie eines seien, gleich wie Wir eines sind.“ Das Wort „Herrlichkeit“ machte uns tiefen Eindruck. Der Heiland nennt das Einssein der Seinen Herrlichkeit, gewiß deswegen, weil dieses Einssein durch den Geist der Herrlichkeit zustande kommt, und weil eine Jüngerschar, die eines ist, durch ihre Liebe leuchtet in der Welt, damit die Welt durch unser Leuchten zum Glauben an Jesum komme (Vers 21. 23). Heute morgen kam Ihr Brief an, in dem Sie seufzen über den gegenwärtigen Zank von innerkirchlichen und außerkirchlichen Kindern Gottes. Ja, lieber Freund, ich seufze mit Ihnen über dieses Gezänke. Die einen rufen: „Heraus aus der Landeskirche, wenn ihr Jesu Jünger sein wollt!“ und die anderen sagen: „Wir können auch in der Landeskirche Jesu Jünger sein!“ Nun fragen Sie mich: Wer hat recht?

Sie wissen, daß ich in der Landeskirche 80 Jahre alt geworden bin. In diesen 80 Jahren habe ich in Afrika, in England, Schottland, der Schweiz und in Deutschland verschiedene Staatskirchen, Freikirchen und Gemeinschaften kennen gelernt. Unter all diesen Kreisen und Gemeinschaften habe ich nicht eine gefunden, bei der nicht viel zu wünschen übriggeblieben wäre. So kam es, daß ich in meinem Leben, durch göttliche Führung, keinen kirchlichen Austritt und keinen kirchlichen Eintritt zu verzeichnen habe. Das kommt wohl auch daher, daß ich seinerzeit bei meinem Heiland gründlich eintrat und von Anfang an den Eindruck bekam, daß wir bei Ihm alles finden, was wir zu unserer Vollendung brauchen. Ich begegnete vielen in meinem langen Leben, die sich längere Zeit mit Kirchenfragen quälten. Nicht wenige dieser Leute machten mir den Eindruck, daß sie in ihrem Leben nie gründlich beim Heiland eingetreten seien; es fehlte ihnen an einer wahrhaftigen Bekehrung; darum waren sie unbefriedigt und suchten bei Menschen, was sie allein bei Jesu finden konnten.

Gewiß braucht jedes Kind Gottes auch Gemeinschaft mit anderen Kindern Gottes; sie dient wesentlich zu unserer Förderung. Ich preise den Herrn, daß Er mich in der bewußten 57jährigen Gemeinschaft mit ihm immer auch Gemeinschaft mit seinen Kindern finden ließ. Die idealste und schönste Gemeinschaft hatte ich in Bern, und ich freue mich heute noch, daß in jenem engeren Kreis kirchliche und freikirchliche Glieder die Kniee zusammen beugten, ohne die geringste Schwierigkeit. Unsere Losung war: „Er das Haupt, wir Seine Glieder.“ Auch in England hatte ich innige Gemeinschaft mit Kindern Gottes, deren kirchliche Anschauungen sich mit den meinen nicht deckten. Der selige Wilhelm Hoffmann, Hofprediger in Berlin, sagte vor Jahren: „Der Berg Zion ist höher als alle Kirchtürme.“ Wir könnten auch sagen: Der Leib Christi ist herrlicher als alle Kirchenabteilungen. Darum ist mir auch das gegenwärtige Zanken der Kinder Gottes von Herzen zuwider; es ist fleischlich. Ich mache nicht mit, weil ich fest überzeugt bin, daß der Heiland auch nicht mitmacht. Er steht himmelhoch über allem Parteigeist.

Wenn wir Menschen und Verhältnisse ohne Parteibrille ansehen, so ist es uns rein unmöglich, reines Geistesleben von der Zugehörigkeit zu einer Staatskirche oder einer Freikirche abhängig zu machen. Brüder, welche Kinder Gottes, die in der Landeskirche stehen, als Christen zweiter Klasse ansehen, haben kein Urteil, das Beachtung verdient. Es kommt nicht darauf an, wo ich stehe, sondern wie ich stehe. Mein persönliches Verhältnis zu Christo gibt den Ausschlag. Ich kann einem Menschen unmöglich gerecht werden, wenn ich ihn nicht danach beurteile, was Christus an ihm getan hat. Nicht die äußeren Beziehungen, in welchen ein Mensch steht, geben ihm seinen Wert, sondern das Gnadenwerk des Heiligen Geistes in seinem Herzen gibt ihm vor Gott seinen Wert. Man sehe doch eine Familie an. Alle Kinder derselben stehen äußerlich in denselben Verhältnissen, und wie verschieden können die einzelnen Kinder sein! Lassen wir deshalb das Zanken und Richten, und lernen wir, einander in Christo anzusehen: dann wird Friede werden.

Ich sehe in dem gegenwärtigen Zanken eine List des Feindes. Wer offene Augen hat, der muß erkennen., daß in dem wachsenden frechen Unglauben unserer Tage eine gewaltige Aufforderung für uns Kinder Gottes liegt, uns zusammenzuschließen zu gemeinsamen Kampf gegen unseren gemeinsamen Feind. Die meisten Kinder Gottes sind heute noch in der Landeskirche. Viel mehr als 7000 beugen ihre Kniee vor dem lebendigen Gott und bilden ein Priester- und Zeugenvolk. Solange es uns noch möglich ist, zu zeugen von unserem gekreuzigten und auferstandenen Heiland, so wollen wir uns wohl hüten, mit dem flüchtigen Elia in die stille Höhle auf dem Horebzu fliehen; wir gehören auf den Kampffplatz des Karmel, und da wollen wir aushalten, solange uns unser Feldherr und König nicht abkommandiert.

Elias Schrenk

Quelle: Elias Schrenk, Seelsorgerliche Briefe für allerlei Leute, 3. Band, S. 7-10. Verlag von Ernst Röttger, Kassel 1911