Am Sonntag Estomihi (Gottlob Baumann)

Von der Zeit an fing Jesus an und zeigte seinen Jüngern, wie er müßte hin gen Jerusalem gehen und viel leiden von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und am dritten Tage auferstehen. Und Petrus nahm ihn zu sich, fuhr ihn an und sprach: HERR, schone dein selbst; das widerfahre dir nur nicht! Aber er wandte sich um und sprach zu Petrus: Hebe dich, Satan, von mir! du bist mir ärgerlich; denn du meinest nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist. (Matth. 16, 22.23 LUT 1912)

„Du meinest nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist“. So mußte der Herr selbst zu Petrus sagen. Petrus hatte gewiß viel Göttliches bereits in sich, aber hier zeigte er doch einen ungöttlichen Sinn. „Wenn das geschieht am grünen Holz, was will am dürren werden?“ (Luk. 21, 31), möchte man hier sagen. Was soll man sagen, wenn es an aller lebendigen Erkenntnis Christi fehlt, die doch bei Petrus vorhanden war? Und doch ist soviel daran gelegen, ob wir menschlich denken oder göttlich, ob wir ein göttlich erleuchtetes Urteil haben oder nicht. Denn das geht durch alles hindurch. Alles Urteil wird getrübt, wenn es kein göttliches Licht hat. Alle Handlungsweise der nMenschen wird entweder  göttlich weise oder menschlich töricht, je nach dem man denkt.

In der Ewigkeit, am großen Tage der Rechenschaft wird der große Richter nicht fragen, ob wir große Werke getan, ob wir viele Tugend geübt, sondern, ob wir ein göttliches oder ungöttliches Leben geführt haben. Da ist’s doch gewiß nötig, einen göttlichen Sinn anzuziehen. Betrachten wir also

den göttlichen Sinn.

Dieser denkt:

1) Jesus ist der Christ, der Sohn Gottes;
2) Jesus mußte leiden;
3) Ich muß ihm nachfolgen.

Du, o Jesu, denkst göttlich, wir menschlich. In dir, in deinem Lichte mögen wir unsern menschlichen, ungöttlichen, fleischlichen Sinn erkennen. Decke ihn uns auf und erleuchte uns allmächtig mit deinem Lichte, daß dein heiliger, göttlicher Sinn auch in uns übergehe, daß wir doch nach und nach nicht mehr meinen, was menschlich, sondern was göttlich ist! Verkläre unsern Verstand, unser Herz und unsern Willen, unsern ganzen Wandel, damit alles an uns dir ähnlich werde, und mache uns so geschickt, dereinst zu stehen und zu bestehen vor deinem heiligen Stuhl!

Amen.

1) Jesus ist der Christ, der Sohn Gottes.

Johannes sagt: „Wer da glaubt, daß Jesus sei der Christ, der ist von Gott geboren.“ – Um zu meinen, was göttlich ist, also um einen göttlichen Sinn zu haben, muß man aus Gott geboren sein, aus Gottes Wesen und Natur. So lange das nicht ist, bleibt der himmelweite Unterschied: „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR. Sondern so viel der Himmel höher ist, denn die Erde, so sind auch meine Wege höher, denn eure Wege, und meine Gedanken, denn eure Gedanken“ (Jesaja 55, 8.9).

Jesus ist der Christ, der Sohn Gottes. Das glaubt der, der aus Gott geboren ist; denn ein solcher denkt göttlich, hat ein helles Auge, zu sehen die Klarheit Gottes in dem Angesichte Jesu Christi (2. Korinther 4, 6). Um das äußere Sonnenlicht zu sehen, hat man helle gesunde Augen nötig. So ist’s nicht mit dem innern, ewigen Licht, mit dem Licht der Welt, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen (Johannes 1, 9). Das ist [zum Gericht] in die Welt gekommen, auf daß, die da nicht sehen, sehend werden, und die da sehen, blind werden (Johannes 9, 39). Man darf nur sich ihm zuwenden, seiner Spur nachsehen und nachgehen, so gehen die Augen auf, so werden sie gesund und hell. Also ist das helle Auge die Frucht der Geburt aus Gott.

[…]

Das ist die  e r s t e  S t u f e,  die Grundlage des göttlichen Sinnes. In Christo den Sohn Gottes erkennen, nun von ihm angezogen sein, weil er der Sohn Gottes und über alles Menschliche hoch erhaben ist, seine Gemeinschaft suchen, die Worte  des ewigen Lebens suchen, die aus seinem Munde gehen, seine Ruhe suchen: das ist ein göttlicher Sinn.

Prüfen wir uns, ob wir diesen Sinn haben, ob wir auf dieser Stufe stehen. Nicht der hat einen göttlichen Sinn, der den zweiten Hauptartikel* auswendig weiß und ihn für wahr hält; dazu braucht man keine Offenbarung vom Vater im Himmel, das kann man von Fleisch und Blut lernen. Nur der hat Christum wahrhaft erkannt und hat damit einen göttlichen Sinn, der sich zu ihm hinziehen läßt, der Gott sucht und nach Gott verlangt in Christo. O daß wir doch auch um dieses Verlangen zu bekommen, dem Herrn ins Angesicht blickten! Suchen und forschen wir in der Schrift, hören wir, was uns von Christo gesagt wird! Aber wenden wir uns auch zu ihm selbst, daß er sich uns offenbare, und wir helle Augen bekommen, ihn zu erkennen! Er möge uns statt des menschlichen einen göttlichen Sinn schenken, eine Geburt aus Gott, die nach ihrem Ursprung fragt, nach Gott verlangt, die unterscheidet zwischen Göttlichem und Menschlichem und nur durch das befriedigt wird, was aus Gott ist.

* aus: Martin LutherGroßer Katechismus mit den 5 Hauptstücken

2) Jesus mußte leiden.

Aber Petrus steht als warnendes Beispiel vor uns, an dem wir sehen, daß man zwar dieses haben und doch noch ein Satan**, menschlich gesprochen, sein könne. Der göttliche Sinn hat verschiedene Stufen. Wir sollen nicht auf der ersten Stufe stehen bleiben, sondern weiter dringen.

** aus dem Hebräischen: Widersacher, Feind; eine Bezeichnung für den Teufel

„Herr, schone dein selbst, das widerfahre dir nur nicht!“ – Diese Meinung des Petrus schien aus Teilnahme und Liebe für den Heiland hervorzugehen; sie schien göttlich zu sein und war doch ganz ungöttlich und menschlich, ja satanisch. Wir müssen uns mithin noch mehr von dem Vater im Himmel offenbaren lassen; wir müssen noch völliger mit den Gedanken Gottes eins werden und das für das Beste halten und das begehren, was aus Gott ist, was Gottes würdig ist. In Christo erkennen manche den Sohn Gottes, den, den uns der Vater geoffenbart hat, den großen Lehrer göttlicher, himmlischer Dinge; aber das Geheimnis seiner Leiden, das Versöhnungsgeheimnis, das Geheimnis der Wunden Jesu ist in ihnen verborgen und verschlossen.

Auch das machts’s noch nicht, daß man diese Lehren im Katechismus lernt und sie für wahr hält. Man könnte wohl mit jenem Liede sagen: „Sieh, darum mußte Christus leiden, damit du könntest selig sein“, und wüßte doch nichts Rechtes von seinen Wunden. Es kommt auch hier darauf an, ob es einem der Vater im Himmel oder Fleisch und Blut geoffenbart habe. Der Einblick in das Geheimnis der Versöhnung und in das Leiden Jesu setzt eben eine gründliche Veränderung unseres Wesens voraus, eine Durchdringung von göttlichem Licht. Das hat selbst dem Petrus damals noch gefehlt; aber er hat es sich geben lassen. Wer Gott und sich selbst recht kennen lernt, wer recht in das alte Testament hineinblickt, der mag auch zu dieser Erkenntnis gelangen. „Mußte nicht Christus solches leiden und zu seiner Herrlichkeit eingehen?“ (Lukas 24, 26)Das hat der Herr jenen zweien aus dem alten Bunde gezeigt. Doch wie es sich mit der göttlichen Herrlichkeit Jesu verhält, so auch hier: „In deinem Lichte sehen wir das Licht“.

[…]

Das Kreuz ist die Leiter in den Himmel, aber nur das gläubig erduldete Kreuz; denn Selbstverleugnung und Leidenssinn, im Glauben geübt, gehören notwendig zur Nachfolge Christi. Dieser Weg führt zu Christo, also zu einem schönen, seligen, herrlichen Ziel. Möchten wir auch in dieser Fasten- und Passionszeit einen solchen göttlichen Sinn bekommen und darin befestigt werden!

Durch Sterben zum Leben, durch Verleugnen zum Genuß, durch Leiden zur Herrlichkeit!

Amen.

Quelle:

M. Gottlob Baumann, Pfarrer in Kemnat bei Stuttgart: Neunundsiebenzig Predigten über die Evangelien des zweiten württ. Jahrgangs auf alle Sonn-, Fest- und Feiertage.
Zweite Auflage. Stuttgart 1901, S. 118f. Verlag der Buchhandlung der Evang. Gesellschaft.
Dritte Auflage (Unveränderter Abdruck). Quell-Verlag der Ev. Gesellschaft, Stuttgart.

Eingestellt am 14. November 2022 – Letzte Überarbeitung am 15. November 2022