Psalm 90, 8 (Spitta)

Denn unsere Missetaten stellst du vor dich, unsre unerkannte Sünde ins Licht vor deinem Angesicht. (Psalm 90, 8)

Die Erkenntnis unserer Missetat und Sünde ist das erste Erfordernis, wenn wir die Gnade Gottes und Vergebung der Sünde erlangen wollen. Erkenne deine Missetat, daß du wider den Herrn, deinen Gott gesündigt hast“ (Jeremia 3, 13).

Aber wie unvollkommen ist diese Erkenntnis, so lange sie nur menschlich bleibt! Man stellt seine Sünde sich gering vor, indem man sie nur vor sich stellt, vor sein getrübtes Auge und unter sein bestochenes und parteiisches Urteil. Man mißt ihre Größe nur nach dem Schaden und der Schande, die sie uns und andern hier auf Erden zufügt, und nennt nur die schädliche, schändliche und vor menschlichem Gericht strafbare Tat Sünde. –

Eine ganz andere Sündenerkenntnis lehrt Moses Psalm 90, 8, wenn er, vor Gott stehend, spricht:

„Unsere Missetat stellest du vor dich; unsere unerkannte Sünde ins Licht vor deinem Angesicht“.

Er erkennt seine und seines Volkes Missetat nicht nach menschlicher, sondern nach göttlicher Vorstellung, wie sie Gott vor sich stellt, sie anschaut und beurteilt, der Gott, welcher Herzen und Nieren prüft, der nicht nur recht sieht, sondern auch mehr als wir, auch die von uns unerkannte Sünde sieht, was im Finstern verborgen ist, ans Licht zieht, ja ins Licht stellt vor seinem Angesicht. So bekommt man erst eine rechte Vorstellung von der Sünde, ein zerschlagenes Herz und einen demütigen Geist, ein beschämendes Gefühl seiner Sündenblöße, darüber einem alle stolzen Gedanken und Einbildungen vergehen, und man wie Hiob seufzt: „Herr, deine Augen sehen mich an, darüber vergehe ich!“ (Hiob 7, 8), oder wie der Zöllner an seine Brust schlägt und spricht: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ – Und bei solcher Vorstellung seiner Sünde bekommt man durch das Evangelium eine herzerquickende Vorstellung von Gottes Gnade. Denn siehe da, Gott hat Christum vorgestellt zu einem Gnadenstuhl durch den Glauben in seinem Blut, damit er die Gerechtigkeit, die vor ihm gilt, darbiete, in dem daß er die Sünde vergibt, welche bis anhero geblieben war unter göttlicher Geduld; auf daß er zu diesen Zeiten darböte die Gerechtigkeit, die vor ihm gilt, auf daß er allein gerecht sei und gerecht mache den, der da ist des Glaubens an Jesu“  (Römer 3, 25f).

(Carl Johann Philipp Spitta)

Quelle: Glaubensstimme – Die Archive der Väter (Psalm 90)


Herzenskündiger, Du mein Gott und Herr!
Ach, Du weißt es, wie ich’s meine,
was ich bin und was ich scheine.
Meines Herzens Grund ist Dir klar und kund.

Urquell allen Lichts, Dir verhüllt sich nichts!
Wollt‘ ich Dir auch nichts bekennen,
würdest du mich doch erkennen!
Ja, Du kennest mich besser noch als ich.

Und Du siehst mich an! Heiliger, wer kann
Deiner Augen Blick ertragen,
ohn‘ an seine Brust zu schlagen?
Geh doch ins Gericht mit dem Sünder nicht!

Vor Dir hingestellt, jede Hülle fällt!
Ach, vor Deinem Angesichte
steh‘ ich erst im rechten Lichte!
Was ich bin vor Dir, das bin ich in mir.

Gib den Kindesgeist, der Dich Vater heißt,
daß mit kindlichem Vertrauen
ich Dir in die Augen schauen,
ja, mich freuen kann, siehest Du mich an!

(Philipp Spitta)

Querverweise:

Allein erkenne deine Missetat, daß du wider den HERRN, deinen Gott, gesündigt hast und bist hin und wieder gelaufen zu den fremden Göttern unter allen grünen Bäumen und habt meiner Stimme nicht gehorcht, spricht der HERR. (Jeremia 3, 13)

Und kein lebendig Auge wird mich mehr sehen. Deine Augen sehen mich an; darüber vergehe ich. (Hiob 7, 8)

Und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, so durch Jesum Christum geschehen ist, welchen Gott hat vorgestellt zu einem Gnadenstuhl durch den Glauben in seinem Blut, damit er die Gerechtigkeit, die vor ihm gilt, darbiete in dem, daß er Sünde vergibt, welche bisher geblieben war unter göttlicher Geduld; (Römer 3, 24.25)


Eingestellt am 13. Januar 2024