Hiob 22, 29

Denn die sich demütigen, die erhöht er; und wer seine Augen niederschlägt, der wird genesen.  (Hiob 22, 29)

In den Menschenaugen kann man oft besser lesen, als in Büchern, was die Zeit bewegt
und die Herzen drückt. Aber die Augen sprechen nicht nur von dem, was im Herzen ist,
sondern sie sind auch ein wichtiges Eingangstor in das Seelenleben des Menschen. Wer
darum seinem Gott begegnen will, muß seine Augen, das Interesse seiner Seele, niederschlagen für die Welt ringsum. Aber gefährlicher als alle diese Augenblickssachen um ihn her mögen ihm die Menschen mit ihrem Einfluß auf sein Seelenleben sein. Da gibt’s keinen andern Rat: wer wirklich genesen will, innerlich gerettet werden will, der muß die Augen niederschlagen für alle diese Augenblicksmenschen um sich her. Dann aber kommt noch ein Niederschlagen. Er muß einsehen, daß er auch vor Gott nichts kann, als seine Augen niederschlagen, in denen seine Schuld zu lesen. Das macht demütig, zer-
knirscht, gebückt. Von der Welt und von Menschen nichts zu erwarten und Gott gegen-
über in Schuld! Aber gerade dann, wenn man das recht empfindet, kann einem durch
Jesum geholfen werden! Ein Augenblick, — ein gläubiges sehnsüchtiges Hinaufschauen
zum Kreuze, wo er für uns starb — und man liest in Jesu Augen Vergebung und Frieden,
Hilfe und Heil. Wohl dem, der das erlebt und erfahren hat, daß er an Jesu gesund gewor-
den ist durch den Blick eines wirklichen Glaubens!

Herr, mein Gott, gehe nicht ins Gericht mit mir und vergilt mir nicht nach meiner Missetat! Du weißt, wie ich mich gern von allem wegwende und allein dir zukehre, um alle Hilfe von dir zu erwarten. Nun, so hilf mir denn auch um Jesu willen, daß meine Seele genese und ich in stillem Frieden dir gehören und willig dir gehorchen kann! Amen.

(Samuel Keller)

Quelle:

Samuel Keller (1856-1924): Lebendige Worte, Kassel 1900 [pdf-Fassung]