Römer 8, 23: Die Erstlinge

Die wir haben des Geistes Erstlinge, sehnen uns auch bei uns selbst nach der Kindschaft und warten auf unseres Leibes Erlösung. (Römer 8, 23.)

Wie hätte nicht das Herz der Jünger voll Trauerns sein sollen (Joh. 16, 6), als sie hörten, daß Du, Herr Jesu, Du Sonne der Gerechtigkeit und Leben und Liebe der Deinen, von ihnen gehen wolltest. Sie kannten kein Leben, das des Namens werth wäre, ohne Dich; Du warest der Inhalt ihrer Gedanken und ihrer Wünsche, die tägliche Freude ihrer Seele geworden. Das Füllen war an den Weinstock gebunden (1. Mose 49, 11); so innig und tief weiß der Vater im Himmel dem Schönsten unter den Menschenkindern unsere Seelen zu vertrauen. Ihr Herz war voll Trauerns, da Du von ihnen gingest? Und noch war ihnen verborgen, daß Du darum unsern Augen verschwinden wolltest, um unsern Seelen um so näher zu sein. Denn geschehen ist, was Du verheißen; der Tröster ist gekommen, der Dich
verklärt (Joh. 16, 14) und die Erstlinge des ewigen Lebens uns schenkt.

Nun haben wir die Erstlinge des Geistes, und welche tiefe Barmherzigkeit Gottes, daß wir sie haben! Wir tragen sonst so eitele Gedanken, wie Du, Herr, weißt (Ps. 94, 11) und sind so unverständig – da wir aber des Geistes Erstlinge haben, leitet der Geist unsere Gedanken in das, „was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat“ (1. Cor. 2, 9); nun denken wir durch des Geistes Kraft, daß die Liebe Gottes so unaussprechlich groß und der Name Jesu voll Gnade und Wahrheit ist.

Wir sind verlorene Kinder, wissen weder unsern Ursprung noch unsern Ausgang, weder die Größe unserer Unwürdigkeit noch den Weg, wie wir Gott gefallen mögen; Du aber, Du barmherziger Heiland unserer Seelen, gibst uns des Geistes Erstlinge, nämlich das Auge, Dich den Wahrhaftigen und unser Leben zu erkennen und gibst das Ohr, mit Glauben Deine lebendige Stimme zu hören.

O welche Erstlinge des Geistes gabst Du mir, da Du mich wie Jacob in der Nacht von Pniel übermochtest, daß ich Himmel und Erde und mich selbst fahren ließ und zu Dir mich wandte und zu Dir sprach: ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn. Und Du segnetest mich, wie Du allein segnen kannst; denn Du vergibst mir alle Missethat und gibst mirs zu glauben und gibst mirs, Deinen Zeugnissen (1. Joh. 5, 6 u. 8) zu trauen und daß ich an Deiner Hand den großen Gott mit aller Zuversicht meinen Vater nennen kann. O könnte ich Deine tiefe Milde und Güte, o mein Heiland, recht preisen, daß Du mir die Erstlinge des Geistes gegeben hast! Wär ich hier wie ein stilles Meer! Nun muß der Größere dem Kleinern in mir dienen, wie Esau dem Jacob (1. Mos. 25, 23). Denn ob ich nicht anstehe, mich in aller Wahrheit für den vornehmsten unter den Sündern zu bekennen, so darf doch die Sünde nicht herrschen in meinem sterblichen Leibe (Röm. 6, 12).

Denn so süß ist die Erstlingsgabe Deines Geistes, daß ich durch den Glauben an Dich zu jenem Stärkeren gekommen bin, der den Starken untertritt (Luk. 11, 21). Da wir die Erstlinge des Geistes empfingen, fingen wir an zu glauben und zu lieben und Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohne und mit den heiligen Aposteln zu haben (1. Joh. 1, 3). Du, o Jesu, bist nicht wie Isaak, der nur Einen Segen hatte. Wie viel Du gibst, Du bleibst, der Du bist, reich über Alle, die Dich anrufen. Ich rufe zu Dir, Du Höchster, der Du mir nahe bist, daß Du des Geistes Erstlinge in mir mehren wollest.

Herr, mein Gott, höre mich, neige Deine Ohren zu meinem Gebete!

Gib mir des Geistes Erstlinge – etwas mehr Kraft gib mir;
etwas mehr Liebe mit Glauben und Beständigkeit.
Der Du Feuer vom Himmel bringst, lieber Heiland,
das Feuer Deiner Wahrheit und Liebe entzünde in mir
und in den Deinen, die Dich suchen, die Dich meinen,
und die mir so lieb sind, seit ich Dich liebe.

(Theodor Schmalenbach: Stille halbe Stunden)

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Es gibt Erstlinge des Geistes, die den Gläubigen von Zeit zu Zeit zu ihrem Troste und Anmutigung mitgeteilt werden. Es gibt Zeiten, wo gleichsam Himmelslust die Seelen anweht, die alle Nebel verscheucht, die sie in vollen Zügen einatmet, und sich in allen ihren Geisteskräften gehoben und belebt fühlt, wieder jung wird wie ein Adler, dem sein Gefieder wieder gewachsen ist, daß er sich hoch empor schwingt. Es gibt Stunden, wo etwas von dem himmlischen Lobgetön das Herz durchbebt, und es zu einer erhabenen Andacht und Anbetung hinreißt. Dies sind außerordentliche und seltene Dinge, die sich dennoch bei einigen Seelen ereignen, und wie sie durch außerordentlich tiefe Wasser der Anstrengung und Trübsal müssen, wo sie mit Jeremias ausrufen: „Nun bin ich gar dahin,“ so werden sie auch auf eine außerordentliche Weise erfreut. Sie sind wohl dermaßen überschüttet worden, daß sie ohnmächtig hinsanken, und der Braut im Hohenliede nachsagten: „Ich bin krank vor Liebe.“ Den Bischof Palafox überwältigte der Gedanke: Mein Gott ist in der Krippe! so, daß er in eine tiefe und lange Ohnmacht fiel, und die nämliche Wirkung brachte ein Eindruck von der Liebenswürdigkeit des Gekreuzigten bei einem Prediger in Amsterdam hervor, der mit der Austeilung des heiligen Abendmahls beschäftigt, über den Gedanken: Mein Gott am Kreuze! beinahe seinen Geist aufgegeben hätte.

Ich bin zufrieden,
Daß ich die Stadt geseh’n,
Und ohn‘ Ermüden
Will ich ihr näher geh’n,
Und ihre hellen gold’nen Gassen
Lebenslang nicht aus den Augen lassen.

Darum allein auf dich,
Herr Christ, verlaß ich mich.

Andacht zum 19. Januar, aus: Tägliches Manna für Pilger durch die Wüste. Schatzkästlein aus Gottfried Daniel Krummachers Predigten, Seite 20. Neu herausgegeben von J. Haarbeck, Pastor in Elberfeld, im November 1899.

(Verlag der Buchhandlung des Erziehungsvereins, Neukirchen, Kreis Mörs)


Eingestellt am 30. Januar 2021 – Letzte Überarbeitung am 4. Juli 2024