1. Korinther 13, 5

„Die Liebe rechnet das Böse nicht zu“ (1. Kor. 13, 5).

Es ist eine Redensart, die man oft hören kann: „Vergeben will ich dir’s wohl, aber vergessen kann ich das nicht!“ Wer nicht vergessen kann, der kann auch nicht vergeben. Denn wenn jedes Mal, wenn dir der Beleidiger begegnet, die Erinnerung an die Kränkung in dir wach wird, die er dir einmal zugefügt hat, dann hast du ihm auch nicht recht vergeben. Vergeben und vergessen gehört zusammen, denn die Liebe rechnet das Böse nicht zu. Wir können es von Gott lernen, was das heißt.

Mir wurde einmal besonders wichtig, was Gott in Bezug auf David geredet hat. Da sagt er zu Salomo: „Um Davids, meines Knechts, willen, den ich erwählt habe, der meine Gebote und Rechte gehalten hat“ (1. Kön. 11, 34). Wie? David hatte die Gebote und Rechte gehalten? Das ist doch nicht wahr. David war doch ein Ehebrecher und ein Mörder! Ja, wie kann denn Gott sagen: „…der meine Rechte und Gebote gehalten hat?“ – Gott hat Davids Sünden vergeben. Er hat sie ihm vergeben und vergessen. Darum kann David jubeln und danken: „Wohl dem Menschen, dem der Herr die Missetat nicht zurechnet“ (Ps. 32, 2).

Die Liebe rechnet das Böse nicht zu. Sie trägt nicht nach. Sie vergibt, ja sie hat schon vergeben. Im Gebet des Herrn heißt die fünfte Bitte nach dem Grundtext wörtlich: „Vergib uns unsere Schulden, wie wir vergeben haben unseren Schuldigern“ (Matth. 6, 12). Wenn man uns eine Kränkung zufügt, dann sollen wir schon vergeben haben im Voraus. Pastor Stockmeier sagte einmal: „Anstatt den Schild des Glaubens zu brauchen, brauchen manche die Kneifzange des Glaubens“. Damit wollte er sagen: „Die Schrift bezeichnet den Glauben als einen Schild, den wir vorhalten können, so daß die Pfeile uns gar nicht treffen. Manche aber sind der Meinung, sie müssen sich erst mit den Pfeilen des Bösewichts spicken lassen und dann gehen sie daran, einen nach dem anderen mit der Kneifzange wieder herauszuziehen.“

Ist es so, daß wir erst die Kränkungen empfangen müssen, daß wir erst gekränkt werden müssen, um dann die Kränkung mit vergebender Liebe wieder herauszuziehen? Nein, es gibt etwas Besseres, und das ist: Gar nicht gekränkt zu werden, weil wir allen Kränkungen mit dem Schilde begegnen, daß wir schon im Voraus vergeben haben. Dann werden wir überhaupt gar nicht mehr gekränkt, dann nehmen wir gar nicht erst übel. Wenn wir nach der Schrift doch einmal vergeben müssen, dann ist es doch viel praktischer, gar nicht erst übel zu nehmen, gar nicht erst böse zu werden. Denn daß wir vergeben müssen, das sagt der Heiland doch ganz deutlich. Nicht 7-mal, sondern 70-mal 7-mal, also 490-mal. Wenn du das buchstäblich nehmen willst, dann nehme es buchstäblich. Wenn nun Petrus anfing zu zählen, dann wußte er nicht genau, ob er schon 490-mal vergeben habe, oder erst 480-mal. Also lieber noch weiter vergeben. Was will der Herr damit sagen? Das Vergeben soll uns zur zweiten Natur werden. Das Vergeben soll uns selbstverständlich sein. Nun, dann nimm gar nicht erst übel, dann erzürne dich gar nicht erst, sondern halte den Schild des Glaubens vor.

„Wie wir vergeben haben unseren Schuldigern…“ Die Liebe rechnet das Böse nicht zu. Die Liebe führt nicht Buch über die Verfehlungen des Nächsten, wie das Menschen wohl mal tun. Ich sah einmal das Notizbüchlein eines Kindes, wo aufgeschrieben war, wie oft die Geschwister gegen die Inhaberin des Buches frech gewesen waren. Du lachst darüber? Hast du es nicht vielleicht ähnlich gemacht? Aufgeschrieben hast du es nicht, nun ja. Aber in deinem Gedächtnis war ein Platz der Verfehlung deines Nächsten gewidmet. Nicht wahr? Wie macht es die wandelnde Liebe? Die Liebe rechnet das Böse nicht zu. Und du?

(Ernst Modersohn)

Aus: Wandelnde Liebe. Eine praktische Auslegung von 1. Korinther 13. G. Ihloff & Company, 1909
[Digitalisat im Web Archive; Nachdruck in der Christlichen Onlinebibliothek]

Eingestellt am 11. April 2022