Römer 15, 30: Helft mir kämpfen!

Ich ermahne euch aber, lieben Brüder, durch unsern Herrn Jesum Christ und durch die Liebe des Geistes, daß ihr mir helfet kämpfen mit Beten für mich zu Gott. (Römer 15, 30)

„Ich ermahne euch aber, liebe Brüder, durch unsern Herrn Jesum Christ und durch die Liebe des Geistes“. – Hört ihr den Ton warmer, werbender Liebe aus diesen Worten heraus? Mit ermunterndem Zuruf, mit mahnendem Ernst, mit um Beistand flehendem Eifer sucht Paulus seine römischen Brüder hineinzuziehen in das gewaltige Ringen, in dem er selbst allen voran und allen zugut steht. Paulus weiß, daß kein Apostel, wie hochbegnadet, wie reich begabt, wie glaubensstark er auch sei, allein diesen Kampf kämpfen soll und kann. Er weiß, er braucht seine Brüder und darf zum geringsten Glied am Leibe Christi nicht sagen: „Ich bedarf deiner nicht“.

Er weiß aber auch, sie bedürfen des Kampfes und müssen durch Leiden Gehorsam lernen, im Streite gestählt und vollkommen gemacht werden. Wie so oft, wenn er ihr Herz erreichen will, redet er sie an als „Brüder“. Wir wissen aus Römer 9 und Pauli ganzer Geschichte, mit welch tiefer Liebe er an seinen „Brüdern nach dem Fleisch“ hing. Was aber muß ihm erst der Bundesname bei seinen Brüdern „in Christo“ bedeutet haben! Wie ehrt und lockt zugleich dieser Brudername. Ach, daß der Heilige Geist es auch uns allen schenken könnte, daß uns das Wort „Bruder“ kein gedankenlos gebrauchter abgegriffener Begriff sei. Ach, daß die zartesten und stärksten Empfindungen und Kräfte unseres Herzens in Bewegung gesetzt würden, wenn unsere Brüderlichkeit zum Mitkämpfen aufgerufen wird.

Aber er hat noch einen anderen Namen, an den er sie erinnert, um alle Gedanken zur höchsten Aufmerksamkeit und Konzentration, alle Gefühle zur heißesten Glut, alle Kräfte zur äußersten Anspannung und Entfaltung zu bringen. Es ist der Name, der über alle Namen ist. Er nennt den teuren Jesusnamen. Er nennt den Ehrfurcht und Gehorsam heischenden Namen Christi, des Herrn, dem jedes Knie sich beugen und jede Zunge Ehre erweisen soll. Möge niemand unter uns so abgestumpft und so verknöchert sein, daß der Name, der Teufel zittern und Engel jauchzen macht, der Name, auf dem Gottes heiliges und höchstes Wohlgefallen ruht, ein Herze kalt läßt.

Hinter Pauli werbender und mahnender Liebe steht Jesus selbst. In Jesu Namen und Auftrag und in Jesu Geist, im Vertrauen darauf, daß Jesus seine Ermahnung fruchtbar mache, schreibt er ihnen. Nicht eine fleischliche Glut, nicht seelische Begeisterung will Paulus wecken, sondern er will die heilige Liebe auflodern lassen, die ihren Ursprung und ihre Nahrung hat in der Liebe Gottes zu uns, die spürbar und erkennbar ausgegossen ist in unsere Herzen durch den Heiligen Geist. An die in Christo Jesu, ihrem gekreuzigten Herrn, geoffenbarte Liebe Gottes will er seine Brüder erinnern, in diese Liebe sie eintauchen, so daß sie von ihr durchdrungen in heißer Gegenliebe und Bruderliebe willig und geschickt sind, mit einzutreten und anzuhalten im heiligen Kampf.

Doch! Auch wir sind Pauli Brüder. Darum gilt sein werbender Mahnruf auch uns. Auch unser Heiland und Herr ist Jesus Christus. Und auch wir kennen die Liebe des Geistes, der auch uns der Liebe Gottes teilhaftig und gewiß gemacht hat, die Liebe des Geistes, die aus Paulus zu uns spricht und auch die in unseren Herzen vorhandene, durch den Geist gewirkte Liebe anfachen will. Gottlob, man darf und kann noch ein Held sein oder werden! Gottlob, man kann seinem Heiland noch Dank und Liebe beweisen. Ob einer auch noch so schwach sei und noch so ungeschickt, ja, ob einer noch so hart gebunden und todeswund sei, Jesus ist Arzt und Feldherr zugleich, Hoherpriester und König in einer Person. Darum laßt uns wegsehen auf Jesum, der Vorläufer und Kampfpreis, Kraftquell und Vollender unseres Glaubens zugleich ist, und laufen in dem ernsten, großen, aber auch seligen Kampf, der uns verordnet ist.

Brüder! Es ist Krieg! Ein mit allen möglichen Waffen ausgerüsteter Feind ist an der Arbeit! Hier tut er unbemerkt und ungehindert gefährliche Minierarbeit, dort schießt er Brandpfeile ab. Und Gottes Volk blutet aus tausend Wunden, Führer wanken, gewaltige Kämpfer fallen, Vorposten schlafen. Schildwachen bemerken den Feind nicht. Gefangene werden weggeschleppt. Ratlos laufen manche Kämpfer durcheinander. Da und dort, wo wir’s nie gedacht, pflanzt der Feind seine Fahne im Siegesjubel auf. Und noch gehen so manche Waffenfähige und Dienstpflichtige unwissend und unbekümmert um alles, was geschieht, ihrer Privatarbeit oder gar ihrem Privatvergnügen nach, und andere lächeln im Schlummer und träumen Friedensträume. Und wo bleibt unterdessen Jesu Ehre, wo die ernsteste Verpflichtung im Himmel und auf Erden, daß durch die, die ihn kennen, Gottes Wille geschieht und Gottes Name geheiligt wird?

Wer Sinn hat für Jubellieder und Siegespsalmen, wer Lust hat, im Kampfe gemachte Beute am Throne dessen niederzulegen, der im heißesten Kampf den Sieg für uns erstritten hat, wen jammert des Volks, wer den Verheißungen glaubt, wer des Lebens Ernst und Wonne mit klarem Bewußtsein durchkosten und sein Leben auskaufen will, so ganz, wie man es auskaufen kann, der wache auf und höre. Denn allen, die Gott dienen und dienen wollen, gilt des Apostels Ruf: Helft mir kämpfen!

Aber ist Gottesdienst denn nicht beschauliche, weihevolle Stille? Ist Gottesdienst nicht Friede? Ist Gottesdienst denn Kampf? O ja, mein lieber Frager: Gottes Dienst ist auch Stille, Gottes Dienst ist auch Friede, Stille im Sturm und Frieden im Getümmel! Ja, nur wer recht stille geworden ist, ist brauchbar im Kampfgetümmel, und wer den tiefsten Frieden hat, ist am siegreichsten im Kampf. Die Achse mag ruhen, während das Rad sich dreht, die Sonne stille stehen, während sie unablässig ungezählte glühende Pfeile aussendet. Es bleibt dabei, das Leben, das Menschenleben und vor allem das Leben derer, die Gott dienen, ist in dieser Zeit ein Kampf und zwar ein großer Kampf!

Aber womit hatte Paulus denn zu kämpfen und womit wir? Hören wir zunächst Paulus selbst: Ich betäube meinen Leib und zähme ihn, daß ich nicht anderen predige und selbst verwerflich werde. Also er kennt und führt auch die Kämpfe, die uns unsere Leiblichkeit bereitet. Er weiß auch davon, wie vom Fleische aus die Seele angefochten wird, so daß man z.B. keinen Ausweg mehr sieht, am Leben verzagt, außen Kämpfe und von innen solche Befürchtungen hat, daß man an einem Ort es nicht mehr aushalten und zu offenen Türen nicht eingehen kann. Und auch von der entgegengesetzten Seite droht eine Gefahr, nämlich die, daß sein Geist, der so Großes getan und noch Größeres geschaut hat, sich überhebe. Und so groß ist die Gefahr, daß er sie nicht mit aller Selbstzucht überwinden kann, sondern dazu einen Pfahl im Fleisch, einen Satansengel nötig hat, der ihn mit Fäusten schlage, auf daß er sich nicht überhebe. Und wieviel machten ihm seine Geschwister im Herrn zu schaffen mit ihrem Unglauben und ihrer Unwissenheit, ihrer Gesetzlichkeit oder Zügellosigkeit, mit ihren Mißverständnissen und ihrem Mißtrauen. Welche Kämpfe beschworen die Selbstsucht und Untreue, die Wankelmütigkeit und Weltliebe, der Ehrgeiz und die Verzagtheit seiner Mitarbeiter herauf. Und nicht nur die untergeordneten unter ihnen, sondern auch einmal selbst der hervorragendste, Petrus.

Dann sieht er, wie von den Irrlehrern die einen mit Hilfe des mißverstandenen Gesetzes, die anderen mit Hilfe heidnischer Philosophie, die einen durch allerlei zweifelnde Fragen, die andern durch selbsterdachte Frömmigkeit und wieder andere endlich durch persönliche Verdächtigungen seine Gemeinden irrezuleiten und ihn selbst zu verdächtigen suchen.

Wir sehen ihn im Streit mit der rohen Brutalität ungeschlachter heidnischer Gebirgsbewohner und mit den feineren und verletzenderen gebildet sein wollenden Großstädtern, mit der Ungerechtigkeit römischer und griechischer Beamter und der Selbstsucht der durch seine Tätigkeit in ihren Geschäftsinteressen geschädigten Philipper und Epheser.

Aber am schwersten war sein Ringen mit denen und um die, durch die er am meisten litt, für die er unablässig betete, denen er, wohin er kam, zuerst das Evangelium brachte und für die, ja von denen er Schläge und Gefängnis, Verfolgungen und Schmähungen aller Art willig und reichlich erlitt, seine Brüder nach dem Fleisch, die gesetzeseifrigen, tot rechtgläubigen pharisäischen Juden, die er in unserer Stelle „die Ungläubigen in Judäa“ nennt und schließlich auch noch die liberalen Sadducäer. Wie haben diese Juden ihn von Stadt zu Stadt verfolgt, wie haben sie durch Verleumdung und Verhetzung, durch List und Gewalt ihm das Leben sauer und seine Arbeit an ihnen schwer gemacht, ja, in die erbittertste Feindschaft gegen Paulus und in die blindeste Verstockung gegen Gott und die Wahrheit sich hineingearbeitet, und so Gottes Liebesratschluß verkannt und in Bezug auf sich unwirksam gemacht. Vergeblich suchte Paulus zu verhindern, daß sie auf diese Weise nicht nur ihr eigenes Heil verscherzten, sondern auch ihre Missionsaufgabe gegenüber den nichtjüdischen Völkern unerfüllt ließen und statt dessen ihren Bundesgott und ihren König und Messias verwarfen.

Und endlich zeigt uns Paulus noch, daß hinter dem eigenen Ich und hinter den Menschen von Fleisch und Blut noch ein Feind steht, fürchterlicher als alle anderen. Das sind die Fürstentümer und Gewalten, die Herrscher der Welt, die in der Finsternis dieser Welt herrschen und die auf Fleisch und Blut, auf Menschen und Dinge in der Welt einen gewissen Einfluß haben und vermittelst der sichtbaren Welt uns locken und schrecken, und an ihrer Spitze der, der versucht hat, selbst Jesum in den Tagen seiner Niedrigkeit zu Fall zu bringen, der es wagen wird, gegen des Herrn Volk nach dem tausendjährigen Reich noch einmal einen gewaltigen Feldzug zu führen, und der es wagt, Gott, dem Vater, zu trotzen.

Schon ein kurzer Ueberblick über den unermeßlichen Kampfplatz, über die vielseitigen und unablässigen Riesenkämpfe läßt es uns wohl verstehen und tief mitfühlen, wie innig und ernst er in seinen Tagen seine Brüder zum Mitkämpfen aufforderte. Wie aber steht es in unseren Tagen? Ach, wenn ein solcher Riese im Reiche Gottes wie er, der Zehntausende zu Jesu führte, der Zeichen und Wunder tat, der Worte reden konnte, die durch die Jahrtausende hindurch in stets sich verjüngender und steigender Macht wirksam waren, wenn er, der elf Apostel seinesgleichen neben sich hatte, der in wenigen Jahren fast aus dem Nichts die Gemeinde erstehen, bald über die ganze damals bekannte Welt sich ausbreiten sah, wenn er um Hilfe rief, wieviel mehr dann wir, die wir keine Apostel und keine Geistesriesen sind.

Und wenn wir nun hineinschauen ins eigene Herz und Leben, wenn wir auf unsere Brüder schauen und die Scharen derer, die sich Christen nennen und die noch größere Schar derer, die auch nicht dem Namen nach Christen sind, wie sollten wir nicht uns selbst und unsere Brüder zum Kampf aufrufen und inständig alle, die können, bitten: Helft mir kämpfen!

Wenn Paulus mit sich selbst zu kämpfen hatte, wieviel mehr wir? Wo bei Paulus große Kämpfe, aber auch große und beständige Siege zu verzeichnen sind, ach, da sehen wir bei uns oft viel weniger ernstes Ringen, aber dafür um so häufiger größere, verborgene und offenbare Niederlagen, die laut schreien und heischen, daß Gottes Volk Mann für Mann sich aufmache, sich gegenseitig ermuntere und ermutige, helfe und mitrüste zum heiligen Streit.

Heimlich und offen hemmen und fällen uns die Pfeile der Fleischeslust, die Netze der Augenlust, das Gift des hoffärtigen Lebens.

Bedurften nur Timotheus und Titus und nicht auch wir Prediger und Gemeindeglieder von heutzutage der Ermahnung zur Wachsamkeit auf dem Gebiete der Keuschheit? Gerade wenn man sich sicher dünkt, wenn man es entgegen dem Vorbild der Schrift für unanständig hält, in ernster Keuschheit vor solchen Gefahren zu warnen, hat der Feind leichtes Spiel, und nachher stellt sich oft maßlose Reue und Verzweiflung ein. Und andere, die mehr und anders als Gottes Wort es uns heißt, in einseitiger Weise einzelne solche Sünden bekämpfen, müssen es erleben, daß sie sich selbst besudeln und bei andern das wecken, was sie bekämpfen wollen, bis der böse Geist, den sie vertreiben möchten, sich auf die wirft, die sich mit ihm abgeben, ohne dazu berufen, ausgerüstet und in den Schranken, die die Schrift zeigt, geblieben zu sein. Fleischeslust ist nicht nur zu bekämpfen auf dem sittlichen Gebiet. Die ganze Lebenshaltung in Essen und Trinken, der Kostenaufwand bei Familien-, Vereins- und Gemeindefesten, fleischliche Gesinnung im Reden und Handeln, im Geschäftsleben, im Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer, im Sorgen für die Zukunft, die eigene oder die der Familie, ein sich der Welt gleich stellen beim Eingehen und Auflösen von Verlobungen, bei Heiratsplänen der Eltern für ihre Kinder, unbiblische Familienverhältnisse, fleischliche Gesichtspunkte bei Berufswahl, Stellen- und Wohnungswechsel, Streitigkeiten, Mißtrauen, böse Nachreden, Unwahrhaftigkeit und viele andere Dinge, bei denen das Fleisch mitspricht, bringen uns manche Niederlage bei und schwächen unsere Zeugenkraft mehr als wir denken. Tut es da nicht not, einen gründlichen Krieg gegen grobe und feine Fleischlichkeit zu führen?

Und wie steht es mit der Augenlust? Der zunehmende Wohlstand und die vermehrte Berührung mit weltlicher Bildung und Kultur führt auch in gläubigen Kreisen leicht zu einem nicht einmal unserer bürgerlichen Stellung, geschweige denn unserem Christenstande entsprechenden Aufwand in Kleidung und Wohnung, zu einer Pflege der Kunst und Schönheit, die oberflächlich macht und veräußerlicht. Schon gibt es Gesangchöre, die mehr auf künstlerische Vollendung des Gesangs und Beifall, als auf den Inhalt der Lieder, die Gesinnung der Sänger und die geistliche Beeinflussung der Zuhörer Wert legen. Schon hört man von Gemeinden, die Gemeinden von Gläubigen sein wollen und auf die schöne Form der Predigt, ja auf das Aeußere des Predigers unvermerkt mehr Wert legen als auf den inneren Gehalt von Rede und Redner. Heischt derartiges nicht die größte Wachsamkeit und den entschlossensten Widerstand?

Und wer sein eigenes Herz kennt, der weiß, wie selbst da, wo Fleischeslust und Augenlust scheinbar oder wirklich mehr zurücktreten, ja manchmal gerade da die Hoffart ihre Verheerungen anrichtet. Es ist ein offenes Geheimnis, daß Boten des Kreuzes und manche, die ein Bischofsamt innehaben oder begehren, fast unerträglich ehrgeizig und herrschsüchtig sind, und selten hat jemand Mut und Macht, das in der rechten Weise zu rügen. Ehrgeizig und herrschsüchtig ist Satan auch. Wie können wir ihn bekämpfen, wenn wir mit denselben Fesseln gebunden sind wie er ? Und wenn man jemanden mit Recht oder Unrecht, mit Geschick oder Ungeschick auf einen wirklichen oder vermeintlichen Fehler aufmerksam macht, wie schlecht kann dann die berechtigte und vollends die vermeintlich unberechtigte Ermahnung ertragen werden und der andere unumwunden seinen Fehler eingestehen, verurteilen und um Vergebung bitten.

Wie manche lernen nicht, sich herunterhalten zu den Niedrigen, aushalten in unangenehmer Stellung, feurige Kohlen auf das Haupt von Undankbaren und Feinden sammeln, das Bessere dem andern lassen. Wie gedankenlos macht Hoffart, so daß man Kranke und Arme, Schwache und Hungrige übersieht, Gastfreundschaft vergißt, nicht daran denkt, dem andern zu geben, was man ihm schuldig ist. Wie fehlt es dann auch an wahrem Adel der Gesinnung, der das Kleine als klein ansieht, das Zeitliche mit Ewigkeitsgehalt zu füllen sucht und Gott in allem zu verherrlichen versteht. Irdische Dinge werden oft behandelt, als ob Leben und Seligkeit davon abhinge, und Reichsgottessachen eilig, oberflächlich und nachlässig und ohne genügende Ueberlegung erledigt, wobei als der beste Plan oft der gilt, der am wenigsten Geld kostet. Und anderwärts, wo man nicht sparen und großzügig sein will, geschieht es manchmal aus Ehrgeiz, aus der Sucht, anderen Gemeinschaften ebenbürtig zu sein oder der Welt zu imponieren und die Schmach des Kreuzes Christi zu umgehen. Sind da nicht Fesseln, die wir brechen, Feinde, die wir schonungslos niedermachen müssen?

Und noch ein Gebiet im Bezirke unseres eigenen inneren Lebens ist zu nennen, von wo es Widerstände zu überwinden und Schlachten zu schlagen gibt, das ist das Gebiet unserer Beschäftigung mit Gottes Wort und mit Gott selbst, unser verborgenes Leben mit Christo in Gott. Satan kann sehr gründlich sein. Er scheint die Wurzeln unserer Kraft zu kennen.

Darum lenkt er auch dorthin seine Angriffe, indem er uns vom Lesen und Durchforschen des Wortes Gottes und vom Sinnen über Gottes Wort abzuhalten sucht. Er scheint die Macht des Gebetes zu kennen und sucht uns träge und zerstreut zum Gebet zu machen. Er sucht unseren Dank und unsere Bitten zu ersticken und unsere Fürbitte zu lähmen.

Und endlich weiß er, welche Wonne, welche Kraft, welchen Frieden das Herz hat, das den Herrn anschaut. Er weiß, wie die Welt ihre Schrecken und Reize verliert, wenn der Geist uns Jesum und in Jesu den Vater verklärt, uns die Ratschlüsse Gottes enthüllt, uns die Winke und das Walten Gottes in Natur und Geschichte erschließt. Und wenn es keine Lust und keinen Schrecken gibt, der unsern Blick von Jesus ablenken und unter die Herrschaft der Welt bringen könnte, so sucht er uns in Vielgeschäftigkeit in der Reichsgottesarbeit oder in ein scheinheiliges und schein-christliches Genußleben zu verstricken und so im verborgensten Heiligtum und auf den Höhen des Christenlebens und beim Tempelbau und im Augenblick des Sieges oder gar nach scheinbar schon gewonnener Schlacht uns aus dem Hinterhalt zu verwunden.

Doch als ob diese Schar von Feinden unseres inneren Lebens ihm nicht genügte, so hat Satan noch andere Heere von Feinden gegen uns ins Feld zu führen. Man denke an die Verirrungen und Folgen der Pfingstbewegung, der Milleniumtagesanbruchlehre, der Wiederbringungslehre, an Adventismus und neuapostolische Gemeinden.

Und die ungläubige Bibelkritik und liberale Dogmatik klopfen auch bei uns da an, wo man orthodox, rechtgläubig in der Inspirationslehre und in anderen Punkten der Dogmatik war, ohne seine Anschauungen aus der Schrift geschöpft, an der Schrift geprüft und durch Aufschlüsse des Geistes bekommen zu haben.

Und wie einst die Apostel gegen die tote Rechtgläubigkeit und Frömmigkeit um sie her besonders hart zu kämpfen hatten, so haben auch heute nicht nur freikirchliche, sondern sogar kirchliche Gläubige ihre erbittertsten Gegner und die gefährlichsten Nachahmer aller Zweige ihrer Liebestätigkeit oft da, wo äußerliche Religiosität und Buchstabenglaube herrscht. Diejenigen, die unserem Volke je länger je mehr im Namen der Freiheit und des Fortschritts jede innere Stütze nehmen, die die Leute auf ihre eigene Kraft und auf ein Erbarmen Gottes trauen heißen, das keine geschehene Sühne unserer Schuld im Opfer Christi kennt, sie bereiten einen solchen Zustand der Hilflosigkeit und Trostlosigkeit bei ihren Anhängern vor, der diese schließlich noch eher fürs Evangelium empfänglich macht, als es die armen Leute sind, die an Wort und Sakrament mit dem Kopf glauben und nun sich reich und selig und gesichert wähnen. Diese getäuschten Besitzer vermeintlicher Ewigkeitsschätze verteidigen ihren Scheinbesitz mit allen Mitteln des Wortes und der Gewalt und merken nicht, daß eines der ersten Zeichen der Gotteskindschaft, die Bruderliebe, ihnen fehlt. Nur wer dieser Lieblosigkeit die heiße Liebe Christi, dieser fleischlichen Sicherheit die überschwengliche Gewißheit der Kinder Gottes mit Treue und Weisheit gegenüberstellen kann, vermag hier Siege zu erringen.

Daß mit diesen sichtbaren Gegnern der Wahrheit noch immer die Zahl der Feinde nicht erschöpft ist, zeigt uns, um nur noch an einiges zu erinnern, der Spiritismus und Okkultismus, die Zaubermächte des Heidentums und der Einfluß der suggestiven Kräfte des Menschen. Nicht zu reden von all den Geistesbewegungen in der Literatur und Politik, an die sozialistischen und kapitalistischen Bestrebungen, um die Menschheit zu knechten, an eine Art von Philosophie oder Religiosität, die nur in immer neuen Formen die Kreaturvergötterung, ja den Kultus der Sünde und des Lasters lehrt, während andere Gewalttat und Laster ohne Bemäntelung in ihren gröbsten Formen verüben.

Nur Gedankenlosigkeit und Stumpfsinn erzittern nicht. Nur Trägheit, Sünde und Mangel an Glaube, Hoffnung und Liebe können es zustande bringen, daß Gläubige von all diesen Dingen wissen können und nicht ernsthaft und schriftmäßig darauf sinnen und damit beginnen, diesen unübersehbaren Heeren und Meeren und Gefahren und Feinden gegenüber einen Kampf im großen Stil zu führen, einen Kampf, in dem mindestens so viel Nachdenken, Vor- und Umsicht, soviel sich Ueben, soviel Selbstaufopferung und Darangeben aller Bequemlichkeit, soviel zähe Ausdauer und eine noch ganz andere Begeisterung die Herzen bewegt, als dies bei einem Kriege der Völker untereinander der Fall ist.

Und wenn noch eins geeignet ist, uns aufzuschrecken, so ist es der Umstand, daß die Gemeinde Gottes von heutzutage anscheinend keinen Mann hat, in dessen Herz so nach Gottes Willen die Sorge für alle Gemeinden sich konzentriert, wie das beim Heidenapostel der Fall war. Die Gemeinde ist zersplittert in viele Gruppen, die sich oft nicht verstehen, manchmal nicht beistehen, ja leider viel zu oft noch gegnerisch gegenüberstehen. Wie wenige Führer und Vorbilder gibt es, wie viele blicken nicht einmal innerhalb ihrer eigenen Denomination aufs Ganze ihrer Denomination, wie viele bleiben bei ihren nächsten Nachbarn, ja beim eigenen Kreis und ihrer eigenen Person stehen. Wie wenige haben große Gesichtspunkte, große Erkenntnis, Weisheit und Kraft, große Liebe und Demut und große Aehnlichkeit mit Jesu.

Hand aufs Herz, Brüder! Wie viele von uns läßt die Not unserer Gemeinde (ich meine jetzt nicht unsere Ortsgemeinde, sondern die Gesamtheit unserer Gemeinden) und der Jammer der Gemeinde des Herrn in Deutschland, Europa und der Welt nicht schlafen, wie viele treibt sie zu großen Taten? Wie viele können, wenn auch in vielfach verkleinertem Maßstab, sprechen: Ich will, daß ihr wisset, welch einen großen Kampf ich habe. Wenns nur in der eigenen Gemeinde oder Spezialarbeit erträglich geht, wie oft ist man dann zufrieden! Wie viel Zeit bringen wir mit Kämpfen zu und wieviel mit Spielereien, mit Geschwätz, mit Pflege eigener Interessen? Und wenn wir kämpfen, wie sehr, wie innig, wie ausdauernd, wie todesmutig kämpfen wir? Und wenn wir entschlossen sind, viel und alles daranzusetzen, was führt uns zu dieser Opferwilligkeit: Parteigeist, Konkurrenzneid, Selbsterhaltungstrieb, Ehrgeiz, Schwärmerei? Es gibt, gottlob, ganz andere, unendlich gewaltigere, reinere, edlere, beseligendere Triebkräfte zum großen Kampf. Aber sind diese göttlichen, geistgewirkten Kräfte die, die in uns wirksam sind, und wenn sie in uns wirksam sind, sind sie in uns wirksam in Kraft, in großer Kraft, in weltüberwindender Kraft?

Und nun sind wir an dem Punkt angelangt, wo wir fragen müssen: Wie kämpfte Paulus und wie können wir Genossen seines Kampfes sein? Wenn wir uns Paulus ansehen, so sehen wir einen Kämpfer, der zum Kampfe gegürtet ist, der alles abgelegt hat, was aufhält und beschwert im Kampfe. Er hat seine ganze Person in den Kampf gestellt. Sein Leib ist dem Herrn begeben zum Brandopfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei. Seiner Seele gestattete er nicht die Herrschaft über den Geist. Die Welt war ihm gekreuzigt und er der Welt. Mit allen natürlichen Vorzügen und Beziehungen hatte er gebrochen. Auf alle Vorzüge und Rechte der Geburt, auf Gehalt, Ehe, Ehre, Ruhe verzichtete er, wo immer es die gesunde Entwicklung seines inneren Lebens, die wahren Interessen seiner Mitmenschen und die Ehre seines Herrn erforderten. Dasselbe gilt für uns, wenn wir den guten Kampf kämpfen wollen. Eine Fülle von Leiden, Mühen, Entbehrungen, Verfolgungen und Schmähungen waren sein Teil. So wenig, wie er sich den Opfern entzog, entzog er sich den Leiden. Aber mit dieser Enthaltsamkeit und dieser Fähigkeit, jede Unbill zu tragen, sind die Züge dieses vorbildlichen Kämpfers noch nicht erschöpft. Sie sind nur die negative Seite seiner Glaubens-Hingabe an den Herrn. Für ihn hieß „Leben“: Christus.

Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebet in mir, und was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben des Sohnes Gottes, der mich geliebet hat und sich selbst für mich gegeben. Ich habe mehr gearbeitet denn sie alle, nicht aber ich, sondern die Gnade, die mit mir ist.

Pauli Hingabe an Jesum war also eine schrankenlose. Wenn er gelegentlich über Mitarbeiter klagt, die alle das Ihre suchen, und sagt, daß keiner von ihnen so gar seines Sinnes sei, wie Timotheus; wenn er 1. Kor. 4, 9-13 das von dem seinen sehr verschiedene Christenleben der Korinther zeichnet, so sehen wir aus diesen Stellen, daß es schon in Pauli Tagen Christen gab, deren Hingabe an den Herrn eine beschränkte war. Ganze Hingabe an die Sache, der man dient und für die man kämpft, ist aber eine unerläßliche Voraussetzung des Erfolges und des Sieges.

Völlige Hingabe an den Herrn heißt aber auch, völligen Gebrauch machen von der Quelle des Lichts und der Kraft, der Weisheit und der Heiligkeit, des Erbarmens und der Liebe. Hingabe an den Herrn heißt, sich öffnen den Heiligen Geist und seinen Lebenskräften, die nur tödlich sind für das Fleisch und für alles, was von unten stammt.

Und woher kommt die Willigkeit und der Mut zu solcher Hingabe, woher kommt die Kraft und das Vertrauen, das dazu nötig ist? Sie strömen aus dem gläubigen Aufsehen auf Jesum. Jeder Blick auf Jesum läßt uns Eindrücke und Einflüsse zuteil werden, die Vertrauen zu Jesu in uns erwecken, jeder Blick auf Jesum ist ähnlich der Berührung jenes Weibes, das seines Kleides Saum anrührte. Jesus zieht an wie ein Magnet. Es geht Kraft von ihm aus. So wird Jesus uns köstlich und immer köstlicher. So weckt er nicht nur Vertrauen und Wollen, sondern auch das Vollbringen und vollendet das in uns angefangene Werk. Je größer uns Jesus wird, während wir ihn beschauen, desto leichter wird es uns, ihm alles zuzutrauen. Denn keine Gabe ist so groß und alle seine Gaben sind nicht so groß wie er selbst, und ihn, diese unaussprechliche Gabe hat der Vater uns geschenkt. Wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken! Der Blick auf Jesum macht uns jedes Opfer leicht. Man kann ihm nicht mißtrauen, während man ihn anschaut, man kann nicht unterliegen, während man auf ihn blickt. Unsere Zweifel und Befürchtungen, unsere Niederlagen und Selbstsüchtigkeit sind alle erzeugt und geboren, während wir den Blick von Jesu ablenkten. Und so wollen wir denn um das vor allem bitten, daß wir es lernen möchten, auf Jesum zu sehen, an Jesum zu denken, weil das die Voraussetzung für jeden siegreichen Kampf ist.

Die Grundlage aber der Hingabe Pauli an Jesum und die Grundlage seines Aufsehens auf ihn, das, was dem Paulus und uns vor allem Jesum groß machte, was Paulus und uns in den eigenen Augen klein machte, das ist, daß derselbe Jesus, von dessen Richterherrlichkeit Paulus und wir geblendet und niedergeworfen wurden, daß dieser selbe Jesus sich ihm und uns als der darstellte, durch den unsere Sünden gesühnt und abgewaschen sind. Diese Erfahrung mit Jesu, die wir in der Rechtfertigung und Bekehrung machen, ist die erste und grundlegende Seite des Errettungswerkes, dessen andere Seite die Heiligung und Erneuerung und Verklärung sind. Wer das erfahren hat, daß Jesus seine Schuld tilgte, ganz umsonst, einfach auf Grund seines Erlösungswerkes, dem öffnen sich die Augen für alle anderen Schönheiten Jesu und er lernt, sich Jesu immer völliger und vorbehaltloser anzuvertrauen.

Was nützt uns Geld, was nützen hoffnungsvolle Arbeitsfelder und begabte Arbeiter, was nützen die besten Organisationen, biblische Grundsätze und Lehrsätze, ja selbst ein bis ins kleinste gewissenhaftes Gebetsleben, das zäh durchgeführt wird, ohne ganze Hingabe, ohne schrankenloses Vertrauen Jesu gegenüber? Wenn wir uns ihm nicht hingeben und anvertrauen; wem dann? Wenn ihm nicht ganz und alles, wem den Rest?

Kommt, ihr alten Brüder, ihr stärkeren, erkenntnisreicheren und gelehrteren, macht es uns recht deutlich vor, wie man sich Jesu anvertraut, und helft uns kämpfen, daß wir in diese apostolische Stellung kommen, so wird sich von hier aus die Erfüllung der uns gestellten Riesenaufgabe, der Sieg in diesem gewaltigen Ringen anbahnen. Von hier aus und nur von hier ergibt sich dann alles andere, wodurch wir selbst recht kämpfen und anderen kämpfen helfen können.

Paulus scheint ja in unserem Text den ganzen Kampf ins Gebet zu verlegen. Wir verstehen das, denn das Leben beginnt mit dem Aufsehen auf Jesum, das wahre Leben ist auch der Anfang des sich Jesu Anvertrauens und Hingebens. Im Gebet wird uns Jesus groß und größer, im Gebet werden wir kleiner und kleiner. Unter der Uebung des gläubigen Gebets erstarkt der Glaube, keimt die Hoffnung, wächst die Liebe.

In der Gegenwart Jesu, während man auf ihn aufschaut, wird die Bibel uns interessanter und deutlicher, glaubhafter und köstlicher, und demzufolge werden wir dann mehr unsere Bibel erleben und ausleben und dann auch anderen anders mit dem Wort dienen können. Wie blank und scharf wird dann unser Geistesschwert zum Kampfe sein!

Und wo so Gebet und Wort ihren gewaltigen Einfluß auf unser Leben ausüben, da wird der Wandel des einzelnen ein Gepräge bekommen, der Satan und seiner Sache mehr Schaden zufügt, als früher eine Menge unserer schönsten Worte. Und ist schon eine solche glühend und leuchtend gewordene Kohle ein Schrecken für Satan, wie erst, wenn in der Gemeinschaft, die wir untereinander pflegen, dann viele Kohlen zusammenkommen. Ist ein Kämpfer schon gefährlich, wie erst eine ganze Schar, die sich gegenseitig ergänzt und stärkt. Sind wir eine solche dem Herrn geweihte und dem Tod geweihte Zeugenschar, so werden wir allerdings auch mehr Widerspruch und Feindschaft von der Welt und ihren Beherrschern erfahren, wir werden mehr zu leiden haben, denn Satan wird es dann eher für der Mühe wert und für nötig halten, uns zu bekämpfen. Aber wenn die Kräuter gerieben werden, duften sie um so mehr, der Wind der Verfolgung schürt die Flammen der Liebe und macht die Segel unseres Lebensschiffleins schwellen, so daß es um so schneller durch die Wellen schneidet und sein Ziel erreicht. Als ersterbende Weizenkörner werden wir viele Frucht bringen und im Erliegen siegen. Das alles, wenn wir vertrauen auf unsern Herrn. Doch zu solchem Vertrauen haben wir Kinder des Neuen Bundes allen Anlaß, denn was für Helden hat unser Herrscher im Alten Bunde aus seinen Knechten gemacht!

Quelle:
Schopf, Otto: Biblische Ansprache auf der Bundeskonferenz in Wanheimerort, am 15. Juni 1911. Gefunden bei: Glaubensstimme – Die Archive der Väter

Eingestellt am 30. September 2022 – Letzte Überarbeitung am 16. Januar 2023