5. Der Wunderbare. (Lukas 2, 18 u. 33)

Und alle, vor die es kam, wunderten sich der Rede, die ihnen die Hirten gesagt hatten. Und sein Vater und seine Mutter wunderten sich des, das von ihm geredet ward.
Lukas 2, 18 u. 33

Sie wunderten sich.

Es sind nun achtzehnhundert Jahre vergangen, daß der Heiland der Welt von Maria der Jungfrau geboren ist und in der Krippe lag. Als Er geboren war, verließen die heiligen Engel den Himmel und lobten Gott über diesem Wunder. Und Alle, die es hörten und
ahnten, was geschehen, wunderten sich. Sollte ich mich nun, o Jesu, Deiner nicht wundern? Ist heute Deine heilige Menschwerdung weniger wunderbar und weniger
tröstlich und weniger groß und gewiß, als sie es einst war? Meiner Väter Geist wäre nicht bei mir und wäre von mir gewichen, könnte ich ohne Verwunderung über Dich leben?

Ein Kind bist Du geboren – ein Kind mit schwachen Gliedern, wie’s Kindern eigen ist. Die Jungfrau muß Dich pflegen und tragen, in Windeln wickeln und in der Krippe Dir eine Ruhestätte schaffen. Nun wohnst Du, ewiger Gott, Schöpfer meines Lebens, in meinem Fleisch und Blut, bist mir gleich geworden „in der Gestalt des sündlichen Fleisches“, Röm. 8, 3. Der Himmel und aller Himmel Himmel mögen Dich nicht versorgen, auch der Tempel Salomos konnte Dich nicht fassen (1. Kön. 8, 27), nun aber bist Du leibhaftig
geworden in dem Kinde Marias. Wahrlich ja, bei Gott ist kein Ding unmöglich. Wie sollte ich mich Deiner nicht wundern! Wundern fängt da an, wo das Verstehen aufhört und das Ahnen anfängt und der Glaube still und anbetend sein Werk hat. So laß mich, mein Gott, nach Deiner Barmherzigkeit bereit sein, daß ich ahne, glaube, anbete über Jesu, der wahrhaftiger Gott und ein geringes Kind ist. Nun spüre ich, Herr, Deine tiefe Liebe; nun denke ich an mein jammervolles Elend, das nicht mit Silber und Gold kann gebessert werden; nun liegt vor mir die volle, frische Hoffnung des Lebens, denn Du bist Mensch geworden und kommst, um mit Deiner Gottheit und Menschheit wegzunehmen, was mich quält und wiederzubringen, was mir fehlt. Wie tief ich seufze, wenn ich an mich denke, an meine Kindheit und vergangenen Jahre, an meinen Tod und mein Gericht, so merke ich, daß Du alle Thore des Jammers schließest und mir die Gemeinschaft Gottes und den Umgang der heiligen Engel wiederbringst.

Jesu, ewiger Gott, Du bist Mensch geworden – nun ist der Mann vorhanden, der stärker ist als Simson und der Schlange den Kopf zertritt, nun muß der Tod sich fürchten und die Sünde findet ihre Sühne. Es ist Alles Freude und Lobgesang über Deiner wunderbaren
Menschwerdung. Daß ich Dich möchte fassen! Aber es will mir nicht gelingen, Dich zu fassen, wie ich möchte, ob ich Tag und Nacht sinne. So bleibt mir das Wundern. Herr, laß Dir mein Wundern wohlgefallen! Ich wundere mich Deiner Herrlichkeit, der Du allein groß bist und wäre die Welt vielmal so weit von Edelstein und Gold bereit, so wär sie Dir doch viel zu klein, zu sein ein enges Wiegelein. Ich wundere mich Deiner Niedrigkeit; denn Du liegst in der armen Krippe und Du ruhst in mir, ohne daß ich Dich begreife.

Ich wundere mich Deiner Armuth; denn Du hast nichts und hast Alles, so daß ich, ob ich Alles hätte, arm wäre ohne Dich und reich bin, wenn ich nichts habe und nur Dich gewinne. Ich wunderte mich, da ich Dich kennen lernte und wundere mich, da ich Dich kenne und werde mich wundern, wenn ich Dich kennen werde. So werde ich in heiliger Verwunderung über Jesum leben und sterben und im ewigen Leben wird die übergroße Seligkeit über meine Sinnen gehen.

Schönster Herr Jesu!
Schönster unter den Menschenkindern!
Ich wundre mich Deiner,
Du Wunderbarer!

Quelle:

Stille halbe Stunden. Von Th. Schmalenbach. Gütersloh, Druck und Verlag von C. Bertelsmann. 1877.
Bayerische Staatsbibliothek, urn:nbn:debvb:12-bsb11354794-3
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Schriftstellen:

Denn was dem Gesetz unmöglich war (sintemal es durch das Fleisch geschwächt ward), das tat Gott und sandte seinen Sohn in der Gestalt des sündlichen Fleisches und der Sünde halben und verdammte die Sünde im Fleisch; (Röm. 8, 3)

Denn sollte in Wahrheit Gott auf Erden wohnen? Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen; wie sollte es denn dies Haus tun, das ich gebaut habe? (1. Könige 8, 27)