Johann Jakob Weitbrechts Leben

Jerem. 1, 3: „Ich habe dich je und je geliebt, darum habe Ich dich zu Mir gezogen, aus lauter Güte.“

Wenn Schatten um Schatten in ruheloser Hast über eine Gegend eilen, wenn der eine nur verschwindet, um dem andern Platz zu machen, dann sucht das ermattete Auge nach einem Stückchen festen Sonnenschein, woran es sich laben und ausruhen kann, und hat es das gefunden, dann sieht es ruhiger den jagenden Schattenbildern nach.   ̶̶̶̶   Schatten um Schatten jagt jetzt über das Missionsfeld und über die Missionsgeschichte. Blutige Kriege, Schlaffheit und Verstockung unter den Heiden, frecher Unglaube und bequeme Unwissenheit unter den Christen liegen wie schwere, dunkle Schatten über der Missionsarbeit.

Aber schwerer noch drückt die Halbheit und Lauigkeit der Missionsfreunde, die Unlauterkeit Derer, welche wissen, warum Mission getrieben wird, die Mattigkeit und Unlust von Denen, welche die Hand schon an den Pflug gelegt haben. Wer da einen Blick hinein gethan hat, der weiß, daß es an der Zeit ist, ein »Hilf, HErr Gott, erbarme Dich!«   nicht blos auszurufen, sondern aus bußfertigem Herzen heraus zu beten.   ̶̶̶̶  Aber wer einen Blick in dies dunkle Getreibe gethan hat, der sucht und verlangt nach Sonnenschein, an dem Herz und Auge sich laben kann. Solch ein Stückchen Sonnenschein ist es, wenn wir ein Kind Gottes sehen dürfen, das freudig das Höchste an das Höchste setzt, das Leben an die Ehre Gottes; das sich ganz Dem ergiebt, der es erlöset hat, das sich gerne will verbrennen lassen, wenn nur aus der Asche

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ein Blümchen zu Gottes Lob und Ehre hervorwächst. Ein solches Blümchen ist die Lebensgeschichte des Missionars J. J. Weitbrecht; sein Duft kommt aus dem fernen Indien zu uns herüber. Es ist ein Sonnenschein im düstern Felde wo aber Sonne ist, da ist auch Wärme, und wer sich hineinstellt in die Sonne, der wird warm. Möge der gnadenreiche Gott Seinen Segen geben, daß unter dem Lesen dieser Biographie viele Herzen warm werden, nicht für den armen Menschen, von dem wir schreiben, sondern für den HErrn, der ihn erst bereitet hat zu Seinem Werkzeug und zum Gefäß Seiner Gnade, ̶̶̶̶ und für des HErrn großes Werk.

Es giebt ein Lied, darin wird von Fürsten erzählt, deren jeder die Gaben seines Landes rühmt. Der Eine preist seine goldschweren Berge, der Andre seine stolzen Schlösser, der Dritte seinen edlen Wein.  Ein Fürst nur weiß von seinem Lande nichts zu rühmen, als daß „treue Leute“ drin wohnen. Dieser Eine war Württembergs geliebter Herr.  Wo aber die Frucht der Treue reift, da kann auch die Blüthe der Liebe nicht weit sein, und beide haben  e i n e  Wurzel, die ist der Glaube. Ja es giebt noch Glauben im Württemberger Lande, Gottes Wort ist eine Macht daselbst, und diese allgewaltige Macht hat seit Jahrhunderten sich Leute bereitet, die auf dem Worte stehend, mit dem Worte in der Hand die Kriege des HErrn Zebaoth geführt haben. Und um diese Feldherren haben sich Haufen und Häuflein von Kriegern geschaart, die das Wort in ihr Herz aufnahmen, die lebenslang Streiter gewesen sind gegen Sünde und Teufel, Streiter, von denen die Welt nichts weiß, deren Lohn aber Segen gewesen ist, und sein und bleiben wird ̶̶̶̶  reicher Segen Gottes bis ins tausendste Glied.

Einer solchen stillen, frommen Familie war J. J. Weitbrecht entsprossen. Ein besonderer Gottessegen ruhte und ruht auf ihr. Nicht nur, daß sie in Achtung und Ansehen bei den Menschen steht, nicht nur, daß Weitbrechts Vater und Großvater ein hohes Alter erreichten und viele Kinder und Kindeskinder um sich sehen durften,  ̶̶̶̶   sondern vor Allem, der größte Theil der Familie hat den HErrn JEsum lieb und glaubt an Sein heilig Wort, und das ist mehr, als wenn sie Länder entdeckt und Königreiche erobert hätten.

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In Schorndorf, einem kleinen Landstädtchen unweit Stuttgart, erblickte Weitbrecht am 29. April im Jahre 1802 das Licht der Welt. Sein Vater war Bürgermeister, ein Amt, das seit Jahrhunderten in der W.‘ schen Familie erblich war und das noch jetzt ein Bruder von W. bekleidet. Unser Johann Jakob war der dritte Sohn von 15 Kindern, und er war nicht der Einzige von diesen, der dem Dienst des HErrn sich ergab, mehrere seiner Brüder sind Geistliche und seine älteste Schwester starb als Missionarsfrau in Sierra Leona.

In seiner Jugend zeichnete W. sich nicht durch besondere Gaben oder Talente aus. Sein Sprechen war langsam und sein Lernen gleichfalls nicht schnell. Sein Vater glaubte nicht, daß er so gescheidt und vielversprechend sei, als seine Brüder. Auch seine Gesundheit war immer zart, von seiner Kindheit an bis ins reife Alter; zuweilen war er so schwach, daß man für sein Leben fürchten mußte. Er war gehorsam, fleißig und von liebreicher, sanfter und anhänglicher Gemüthsart; er zeigte seltene Wahrheitsliebe und Aufrichtigkeit, eine einnehmende Einfalt und Geradheit, ein liebliches Temperament und ein liebenswürdiges und dienstfertiges Betragen. Er war zugänglich für religiöse Eindrücke und äußerst treu und sorgfältig in der Ausführung irgend einer Aufgabe, zu der er angewiesen wurde. Für lebhaft und thatkräftig aber wurde er in seiner Jugend nicht gehalten, so stark auch diese Eigenschaften sich in späteren Jahren bei ihm entwickelten. Sein Vater hielt ihn nicht für geeignet zu einem denkenden Beruf; er gewöhnte ihn, sich praktisch nützlich zu machen, im Hinblick auf spätere Brauchbarkeit in einer weltlichen Berufsart.   ̶̶̶̶   Dessen ungeachtet genoß er aber eine gute klassische Erziehung. Sein Vater besaß eine Bildung, die ihn fähig machte, mit seinen Söhnen in lateinischer Sprache zu verkehren, auch die Correspondenz der Brüder wurde in dieser Sprache geführt, und das ist dem W. späterhin zu Gute gekommen bei der gründlichen Erlernung der fremden Sprachen, deren er sich als Missionar bedienen mußte. Ueberhaupt sieht man die wunderbare Hand Gottes auf allen Wegen in seinem frühesten Leben, auf welchen W. bereitet wurde für seinen künftigen Beruf; ein Beruf, an den weder er noch seine Eltern damals dachten.  Aber

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hätten seine Eltern den Plan gehabt, ihren Sohn zum Missionar zu erziehen, sie hätten kaum anders verfahren können. Vater W. besaß ein kleines Bauergut, da durften sich die Kinder in den Ferien und Freistunden erholen  ̶̶̶̶  helfen und arbeiten, das stärkte W.‘ s Gesundheit, und er lernte da viele Dinge, deren Unkenntniß ihm später schwer gefallen sein würde. Auch daß er das Bäckerhandwerk erlernte, trug viel zur Erwerbung von praktischen Kenntnissen bei, die ihm als Missionar vortrefflich zu statten gekommen sind.

Wie nun Gott W. im Aeußerlichen zubereitete zu Seinem Dienst, so noch vielmehr im Innern. Der treue Hirt ging der armen Seele nach, bis er sie zu sich gezogen und Seine brennende Liebe ihr gezeigt, bis sie sich williglich als verlorenes Schaf an Sein Heilandsherz legte.  ̶̶̶̶

Angefangen wurde das gute Werk in W. von einer frommen Mutter welche mit ihm betete und ihn oft ermahnte, sein ganzes Leben Dem zu schenken, der für ihn litt und starb. Diese Mutter starb im sechsten Jahre seines Lebens, aber ihr Verlust wurde durch eine zweite Mutter ersetzt welche mit der nämlichen Treue für sein wahres Heil besorgt war. Daher kam es, daß W. als Kind in vertrautem und kindlichem Umgang mit seinem Heiland stand, aber als er später in die lateinische Schule kam, traten all diese Dinge in den Hintergrund. Ein Drang nach Wissen und Kenntnissen erfüllte ihn; er las viele, besonders historische Bücher. Geographie und Reisebeschreibungen zogen den Knaben an, und ein seichter, moralischer Confirmations=Unterricht war nicht geeignet, aus rechter Quelle den Durst des W. zu stillen. Dessenungeachtet war diese Zeit doch wichtig für ihn, der HErr zog ihn unauf hörlich, es war ihm heiliger Ernst, als ein würdiges Glied an Jesu Christo erfunden zu werden und vom ersten Genuß des heil. Abendmahls bezeugt er, daß er da der Vergebung seiner Sünden gewiß geworden wäre. Leider blieb es nicht so; das Loosungswort heißt eben: „Wachen und Beten“, und das vergaß W. bald. Er verlor im siebenzehnten Jahre seinen Vater, lernte dann drei Jahre das Bäckerhandwerk. Während dieser ganzen Zeit war er ein braver Mensch wie die Leute sagten; er besuchte die Versammlungen und blieb von groben Vergehungen unbefleckt,

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er lebte ein ehrbares Leben, das je vor Menschenaugen wohl bestehen konnte, aber er selbst sagte von sich, daß er nichts weiter gewesen wäre als ein lauer, lebloser Maulchrist. Aber auch seine Stunde hatte geschlagen, die Stunde, wo der HErr ihm Alles wurde für Zeit und Ewigkeit. Einundzwanzig Jahre alt kam W. nach Stuttgart, und hier stand ein treuer Zeuge des HErrn, dessen Johannesstimme Viele hingewiesen hat zum Lamme Gottes. Es war der gesegnete, früh vollendete L. Hofacker, von dem Ströme lebendigen Wassers ausgegangen sind, auf deffen Grabstein Tausende schreiben können: „Träufle mir von Segen, dieser Mann!“ Durch ihn wurde auch W. hingeführt zum Heilande, und hier fand er Vergebung seiner Sünden, Frieden für sein geängstetes Gewissen, Ruhe für seine unruhige Seele, hier fand er Kraft, von nun an ein neues Leben zu leben für Den, dessen Eigenthum er nun geworden war.

Nun ist’s einmal so im Reiche Gottes, wird Jemand felig in Christo, dann drängt’s ihn, diese Seligkeit auch Andern mitzutheilen. Das seligste auf Erden ist, vom HErrn gefangen zu werden, aber darnach ist das seligste, andere Menschen fangen zu dürfen. Und auch hierfür war die Stunde des HErrn bei W. gekommen. Schon früher war er mit der Missionssache bekannt geworden, jetzt war es, als erginge der Ruf des HErrn an ihn, Sein Prediger unter den armen Heiden zu werden. Er schrieb unter Anderm Folgendes an das Missions Comité zu Basel: „Es steigt öfters der stille Wunsch in mir auf, mich ganz dieser heiligen Sache zu weihen, und ich flehe oft zum HErrn um Licht in dieser wichtigen Angelegenheit, damit ich doch keine eigenen Wege gehen möchte. Meines Herzens innigster Wunsch ist also, in das Missionshaus in Basel aufgenommen zu werden; ich meines Theils bin bereit, aus Liebe zu Dem, der mich geliebet und zu sich gezogen hat, mit Freuden Alles aufzuopfern, was in meinen geringen Kräften steht; der HErr möge mich nur von allem eignen Thun und Wollen frei machen, damit Er allein durch Seine Gnade in mir wirken könne, weil es doch ja nur Sein Werk ist. Sein Wille geschehe auch an mir. Amen!

Und dieser Gotteswille geschah. Zu Ende des Jahres 1825

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trat W. in das Missionshaus zu Basel ein. Dasselbe stand damals unter Inspector [Christian Gottlieb] Blumhardt, einem Manne von tiefer Weisheit und apostolischer Frömmigkeit, der seinen Zöglingen nicht nur ein Erzieher und Rathgeber, sondern auch ein Vater war, zu dem auch W. sich ungemein hingezogen fühlte.

Quelle:

Prochnow, J. D. (Hrsg.), Leben und Wirken von Johann Jakob Weitbrecht, weiland Missionar der engl. kirchlichen Missions=Gesellschaft zu Burdwan in Bengalen. Mit Weitbrechts Bildniß, 20 Holzschnitten und Karte. Zum Besten der Mission. Berlin, 1861. Verlag des Missions= und Frauen=Kranken=Vereins, Potsdamer Straße Nr 31. In Commission bei Künkel & Beck, Wilhelmsstraße 115. [Digitalisat]

Eingestellt am 29. April 2024 (dem 202. Geburtstag von J. J. Weitbrecht)