2. Samuel 18, 19f.

Ahimaaz, der Sohn Zadoks, sprach: Laß mich doch laufen und dem König verkündigen, daß der HERR ihm Recht verschafft hat von seiner Feinde Händen. Joab aber sprach zu ihm: Du bringst heute keine gute Botschaft. Einen andern Tag sollst du Botschaft bringen, und heute nicht; denn des Königs Sohn ist tot. Aber zu Chusi sprach Joab: Gehe hin und sage dem König an, was du gesehen hast. Und Chusi neigte sich vor Joab und lief. Ahimaaz aber, der Sohn Zadoks, sprach abermals zu Joab: Wie, wenn ich auch liefe dem Chusi nach? Joab sprach: Was willst du laufen, mein Sohn? Komm her, die Botschaft wird dir nichts einbringen. Wie, wenn ich liefe? Er sprach zu ihm: So laufe doch! Also lief Ahimaaz geradewegs und kam Chusi vor.

„Wie, wenn ich liefe?“

Wer fragt so, lieber Leser? Wenn du ein Bibelkenner bist, dann weißt du, daß es Ahimaaz war, der so großes Verlangen hatte, David die vermeintliche gute Botschaft vom Tode Absaloms zu bringen. (2. Sam. 18, 19f.)

„Wie, wenn ich liefe?“ – Diese Frage kannst du aber auch dir selbst stellen. Und die Botschaft, die du bringen kannst, ist keine vermeintlich gute, sondern die wahrhaft frohe Botschaft, das Evangelium von Christo. Nun kannst du vielleicht nicht reden in Versammlungen, nicht Sonntagsschule halten, nicht Missionar und Diakonisse werden, vielleicht bist auch du zu schüchtern und fühlst dich zu ungeschickt, Kranke zu besuchen und überhaupt mit andern über ihr Seelenheil so ohne weiteres zu reden.

Wie wäre es aber, wenn du deine Füße gebrauchtest, wenn du liefest und mit betendem Herzen dich aufmachtest, zu deinen Verwandten und Bekannten zu gehen und ihnen ein christliches Blatt zu bringen? Du bringst es ihnen vor allem regelmäßig jede Woche. Du bringst es ihnen, nachdem du es selbst zuerst sorgfältig durchgelesen hast und also mit seinem Inhalt vertraut bist. Du machst sie aufmerksam auf jenen schönen Vers, auf diese Geschichte, von der du weißt, sie interessieren sich dafür. Nach acht Tagen kommst du einmal wieder, bringst ihnen die nächste Nummer, sprichst über die vorherige Nummer, vielleicht einfach über das, was dir am wichtigsten war. So kommst du nach und nach, ohne ihnen lästig zu werden, auf eine ungekünstelte und auch für dich leichte Weise dazu, dein persönliches Zeugnis zu dem des Blattes hinzuzufügen.

Hast du so ein bißchen Mut und Übung gewonnen, dann bitte den Herrn um seine Leitung, ob und wie du auch noch ganz Fremden ein Blättchen bringen könntest. Vielleicht geht dir’s wie dem Schreiber dieser Zeilen, du bist ganz überrascht, wie viel leichter es geht, Abnehmer für solche Blätter zu bekommen, als unser ängstliches, kleingläubiges Herz zu hoffen wagt. Ich war eine Zeitlang dahingegangen, ohne Blätter verteilt zu haben. Ich wußte wohl, andere taten es, aber ich tat es nicht. Warum? Ja, warum? „Alle können nicht alles tun. Ich habe keine Zeit. Es würde auffallen. Was würden die bekannten vielgefürchteten Leute sagen?“ – So und anders lauteten die mehr oder weniger stichhaltigen Gründe, die ich mir vorsagte. Aber ich hatte keine rechte Ruhe. Immer wieder war’s, wenn ich mir die Frage stellte: „Wie, wenn ich liefe?“ – als ob eine innere Stimme mir sagte, wie Joab zu Ahimaaz: „So laufe doch!“

Ach, wie viel Geduld hat doch der Herr mit uns und unserer verkehrten Geduld. Unter der verkehrten Geduld meine ich die, die wir mit uns selber haben. Endlich konnte ich der Mahnung: „So laufe doch!“ nicht mehr widerstehen. Der Herr gab mir den Mut, und so zog ich denn mit einem tüchtigen Packen „Bote des Friedens“ los. Im Stillen hatte ich mich darauf gefaßt gemacht, manche Schmährede hören zu müssen, am Ende gar einmal über meine Absicht schnell eine Treppe hinabbefördert zu werden. Aber, ehrlich gestanden, ich fand gar nicht den geeigneten Boden für meine Märtyrerstimmung. Alle Leute zusammen haben mir nicht so viel Fürchterliches gesagt, als ich mir selber vorgesagt hatte und der Feind der Seelen, der sich ja auch wohl für die Blätterverteilung interessiert. Allerdings sein Interesse geht dahin, daß sie nicht geschieht. Die meisten Leute waren von vornherein freundlich. Einige schauten den Titel bedenklich an und wurden dann freundlich. Bei anderen freilich verfinsterten sich die Gesichtszüge, und sie sprachen Zweifel aus, ob das Blättchen etwas für sie sei. Wenn man nur einmal angefangen hat zu laufen, dann geht es schon leichter. Das merkte ich bald. –

Als auch das zweitemal, nachdem die Leute doch wenigstens zum Teil das Blättchen gelesen hatten, der Empfang meist ein wohlwollender oder doch höflicher war, da faßte ich Mut, noch eine Anzahl Häuser aufzusuchen. Nach drei oder vier Wochen machte ich mich nun daran, einmal bei meinen Gratisabnehmern anzufragen, ob sie vielleicht den Boten bestellen wollten. Nun natürlich sagten nicht alle ja. Die einen sagten: wir sind katholisch, oder wir lesen die „Tremonia“, andere: wir lesen den „Kirchlichen Anzeiger“ oder: wir halten so viele Blätter. Zwei Mütter hatten die merkwürdige Begründung, sie bestellten die Blätter nicht, sonst (welche Gefahr!!) lesen es die Kinder. Sie waren nicht zu überzeugen, daß das sicher den lieben Kleinen weniger schade als alles, was sie sonst in die Hände und in die Herzen bekämen. Ein sogenannter „evangelischer“ Mann hatte seiner katholischen Frau gesagt, das Blatt sei nichts wert.

Der am häufigsten wiederkehrende Grund aber für die Ablehnung einer Bestellung war: Wir haben keine Zeit. Wir haben keine Zeit! Da wurde es mir doch wieder lebendig: wie zwingen doch die armen, törichten, zeitlosen Menschen unsern Vater im Himmel, ihnen Zeit zu machen. Ja, wahrhaftig, die Leute müssen krank werden, sie müssen arbeitslos werden, oder Gott muß sie auf irgendeine andere Weise zum Stillstehen zwingen, sonst würden bald alle aus Mangel an Zeit noch ihre Ewigkeit verlieren!

So viel von den ablehnenden Antworten, von denen nicht eine einzige beleidigender Art war.

Und nun, wie viele Abonnenten gab’s denn, und was sagten sie denn? So fragt vielleicht ein lieber Leser. Nun, es bestellten von etwas über hundert Leuten, die ich besucht hatte, einige über vierzig. Die genaue Zahl weiß ich nicht mehr. Das hatte ich nicht erwartet. Fast die Hälfte wohl von diesen Leuten verwunderte sich über den billigen Preis von 1 Pfennig. Eine liebe Frau konnte sich erst gar nicht recht darüber beruhigen, daß es möglich sein sollte, für einen so geringen Preis „viel Gutes“ zu schreiben. Eine Frau hatte mich schon abgewiesen, da, als ich aus der Etage wieder herunterkam, rief sich mich und sagte: wir wollen’s doch bestellen, meine Tochter liest es so gerne. In einem oder zwei vornehm aussehenden Häusern machte das Dienstmädchen ein sehr zweifelhaftes Gesicht, aber siehe da, sie kam mit dem Bescheid: wir wollen es bestellen.

Einmal passierte der merkwürdige Fall, daß die Frau nein sagte, aber der Mann es doch bestellte. Übrigens fand ich viel untertänige Frauen, die sich trotz des niedrigen Abonnementsbetrages nicht schämten, zu sagen, sie müßten erst ihre Männer fragen. Ach, daß ich doch immer den Gedanken und den Mut bei der Hand hätte: auch bei sogenannten „Kleinigkeiten“ muß ich erst meinen Heiland fragen. manche bestellten mit solch ermutigender Freundlichkeit das Blättchen, daß ich denken mußte: ach, wenn ihr wüßtet, wie wohl ihr mir tut! Seit dieser Blätterreise sehe ich die Leute, die an unsere Tür kommen und allerlei verkaufen wollen, mit ganz anderen Augen an und habe mir vorgenommen, ihnen künftig auch noch mehr wohlzutun, seitdem ich weiß, wie Hausieren schmeckt.

Ich habe noch manches erlebt, was ich nicht alles erzählen kann. Aber zum Schluß noch mein gelungenstes Erlebnis: Am Anfang einer Straße stand auf der rechten Seite ein großes Doppelhaus. Ich hatte an der linken Seite der Straße mit dem Abgeben der Probenummern begonnen. Als ich sah, daß auf der rechten Seite, abgesehen von dem Doppelhaus, mehr vornehme Häuser standen, während in den Häusern auf der linken Seite arme oder doch einfache Leute zu wohnen schienen, beschloß ich, zum Teil aus Feigheit, nur in die Häuser auf der linken Seite zu gehen. Aber das Doppelhaus rechts zog mich so eigentümlich und unwiderstehlich an, daß ich doch hinein mußte. Und richtig, der freundliche Herr hatte für sein ängstliches Kind eine freundliche, ermutigende Zurechtweisung hier bereit. Gleich beim ersten Besuch bestellte mir eine freundliche Witwe, die eine Mansardenwohnung inne hatte, ein Blatt; beim zweiten Besuch ein älteres Ehepaar, beim dritten Besuch eine freundliche Frau, deren Türe gegenüber lag. Das Drolligste aber kam beim vierten Besuch. Unten im Hause wohnte ein lieber, weißhaariger Großpapa, der mir gleich das Herz ein wenig abgewann. Endlich fragte ich auch ihn, ob er nichts bestellen wolle. Er versprach mir, das nächstemal Bescheid zu sagen. Als ich wieder kam, erklärte er mir, er habe das Blatt genau studiert und herausgefunden, daß man, wenn man ein Blatt bestellen wolle, es bei der Post bestellen müsse und daß man nur bei der Bestellung von vier Blättern dieselben für einen Pfennig pro Blatt frei ins Haus bekomme. Ich erwiderte ihm, daß ich ihm gerne sein eines Blättchen für einen Pfennig franko brächte. Nein, erwiderte er, er habe es gelesen, daß das nur bei vier Blättern möglich sei. Ich versicherte ihm, ich bringe eins für einen Pfennig. Er sagte, das stimme nicht. Ich hielt ihm vor, daß ja noch andere Leute das Blättchen erhielten. Ja, sagte er, wenn die nahe beisammen wohnten, das wäre etwas anderes. Aber wer weiß, wo die alle wohnen. Da fällt mir plötzlich ein: Ich bin ja in dem einzigen Haus, wo mir schon drei Blätter bestellt sind. Ich sagte also: „Lieber Herr, in Ihrem Hause lesen ja schon drei das Blättchen, die und die Leute.“ „Ja,“ erwidert er, „dann bestelle ich auch.“ Und seitdem durfte ich auch ihm das Blättchen bringen. Inzwischen ist noch ein fünftes Blättchen in demselben Haus bestellt, gerade in dem Haus, in das ich nicht hatte gehen wollen, als ich auf das sah, was vor Augen ist, und wohin ein zuerst unerklärlicher Zug mich getrieben hat. Wie beschämt und freudig danke ich seitdem dem Herrn und bin froh, daß ich gehört habe auf die Mahnung: So laufe doch!

Merkwürdig war mir, daß in den über 100 Häusern nicht ein einziges mal jemand sich als Kind Gottes zu erkennen gab. Ich glaube auch, daß nicht viele darunter waren. Um so mehr aber sehe ich ein, daß der treue Herr mich in die rechte Straße und zu den rechten Leuten brachte. Und die Gründe, mit denen ich mein Nichtlaufen verteidigte, wenn mir die Frage aufstieg: „Wie, wenn ich liefe?“ – sie sind zerschmolzen wie Butter an der Sonne. Ich konnte das Verteilen tun, wenn gleich ich nicht „alles“ tun kann. Ich hatte Zeit, denn das Verteilen kostete viel weniger Zeit als ich dachte. Ich bin auch gar nicht so sehr „aufgefallen“, wie ich fürchtete. Und „was die Leute sagen“ ist auch nicht so schlimm. Aber Gewinn habe ich selber viel gehabt und jedenfalls „am ersten die Früchte genossen“.

Und wie wird die Freude in der Ernte sein! Denn das Wort kann und wird nicht leer zurückkommen. Nun, überlegst du nicht vielleicht auch einmal den Gedanken: Wie, wenn ich liefe? Unsere älteren und jüngeren Geschwister, die schon länger Blätter verteilen, könnten uns noch viel mehr Ermutigendes sagen. Bestelle dir einmal etliche „Boten des Friedens“ und nimm auch für die Kinder eine Anzahl „Friede sei mit Euch“ mit. „Laufe doch!“ Vielleicht kommst du bald, wie Ahimaaz dem Chusi, den anderen Bringern der guten Botschaft zuvor.

Quelle: Otto Schopf, in: Gärtner – Eine Wochenschrift für Gemeinde und Haus (1913)
Aus: Glaubensstimme – Die Archive der Väter

Eingestellt am 3. April 2023