1. Korinther 1, 26ff.

Sehet an, liebe Brüder, eure Berufung: nicht viel Weise nach dem Fleisch, nicht viel Gewaltige, nicht viel Edle sind berufen. Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, daß er die Weisen zu Schanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, daß er zu Schanden mache, was stark ist; und das Unedle vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt, und das da nichts ist, daß er zunichte mache, was etwas ist, auf daß sich vor ihm kein Fleisch rühme. (1. Kor. 1, 26-29)

Die »Weisen« stellt der Apostel unter denen, aus deren Klasse nur wenige von Gott zu seinem Reiche berufen seien, voran, denn das hellenische Element der Wissenschaftlichkeit und des Wissenschaftsdünkels war das stärkste, gefährlichste und verwirrendste in der Gemeinde; dagegen ist seine Polemik am stärksten gerichtet, er konzentriert sie hier in dem beigegebenen Merkmal »nach dem Fleisch«, was den Ausdrücken: »Weltweise« und »Weisheit dieser Welt« in V. 20 entspricht, doch in das innere Wesen und den Grund dieser Bildung mehr eingeht. Bei den »Gewaltigen«
und den »Edlen« fällt der Beisatz weg, da die bloß äußerliche Beziehung sich bei diesen von selbst versteht, der moralische Begriff von »Fleisch« aber keine Anwendung findet.

Beide Klassen nun, die Gewaltigen und die Edlen, hängen miteinander nahe zusammen; unter den ersteren kann man außer den Würdenträgern, den sog. Prytanen und Demiurgen, auch die Reichen, Vermögenden verstehen, die letzteren dagegen
bezeichnen die Patrizier und die vornehmeren Geschlechter des Bürgerstandes, wie denn in Korinth das aristokratische Element vorherrschend war. Den möglich stärksten Gegensatz zu den »Weisen nach dem Fleisch« bildet hierauf das »was töricht ist vor
(besser: in) der Welt«; das Neutrum hier und bei den folgenden Ausdrücken dient zur Verallgemeinerung des Begriffs, vielleicht aber zur Andeutung dieser kaum als Personen, als Menschen geachteten Glieder der Gesellschaft (vgl. unser deutsches »das Mensch«). Im Gegensatz zu den Edlen stehen in steigender Aufeinanderfolge die drei Begriffe: »das Unedle, das Verachtete«, »das da nichts ist«; denn zu Korinth war Stand und Herkunft der herkömmliche Maßstab für die Schätzung der Menschen; auch gab es der sog. Ehrlosen drei Klassen in absteigenden Graden: die Thetem, die Libertiner und die Sclaven. Letztere nun sind »die da nichts sind«, d. i. Personen, die in äußerster Niedrigkeit auch gar nichts mehr gelten, aller persönlichen Geltung ermangeln. Bedeutsam ist, wie dem dreimaligen »vor (in) der Welt« ein dreimaliges »hat Gott erwählet« als unmittelbar sich anschließender Gegensatz gegenübersteht; der Leser soll da den Gegensatz von Welt und Gott, von Welt und Erwählten in ganzer Stärke fühlen (Osiander).

In den ersten Jahrhunderten wurde dem Christentum mehrfach vorgeworfen, daß meist nur geringe Leute, Frauen und Sklaven zu ihm überträten: Paulus erkennt diese Thatsache nicht nur an, sondern findet in ihr selbst eine Verherrlichung des Evangeliums; denn darin gerade erweist sich dasselbe als Gottes Kraft und Gottes Weisheit, daß es von diesen Ständen ausgehend dennoch äußerlich und innerlich die Welt überwunden hat. Es hat gerade in diesen seinen verachteten Bekennern eine Kraft des Handelns und Leidens erzeugt, die über das natürlich-menschliche Maß hinausging – sie allein haben sich dem Despotismus der römischen Kaiser nicht gebeugt; desgleichen hat es ihnen eine Festigkeit der Ueberzeugung mitgeteilt, welche die stolze griechische Weltweisheit nirgends besaß, und ein christlicher Handwerker konnte dasjenige beantworten, wonach der griechische Philosoph sich vergebens fragte (Neander.)

Auf Grund unsrer Stelle und ähnlicher Aussprüche der Schrift stellte der spanische Mönch Johannes a Cruce den Spruch auf:

Um zu ergründen das Ganze, wisse nichts; um zu erkosten das Ganze, koste nichts; um zu besitzen das Ganze, besitze nichts; um zu werden das Ganze, werde nichts. (Besser)

Man könnte meinen, natürliche Gaben, Weisheit, Vermögen, Standesvorzüge, kommen ja auch von Gott und können zu dessen Ehre und Ruhm angewendet werden; in der Schrift aber rechnet der Geist Gottes erst alsdann, daß man Gott die Ehre gebe und sich seiner rühme, wenn man ihn als die Quelle der Gnade in Christo kennen lernt und darin bei tiefster Vernichtigung seiner selbst all sein Heil sucht (Rieger).

Vom Negativen der Ausschließung alles Sich-Rühmens vor Gott wendet der Apostel sich nun zum Positiven, zu dem Sich-Rühmen in dem HErrn, wobei die Gläubigen dadurch bestimmt werden sollen, daß sie aus ihm sind, von ihm herkommen in Christo Jesu und in diesem ihrem Heilande alle Heilsgüter zu ihrer Seligkeit besitzen; da soll es nun allerdings zu einem Sich-Rühmen bei ihnen kommen, aber eben nur zu einem solchen, dessen Grund und Gegenstand der HErr, es selbst aber die Aeußerung des Hochgefühls, der Freude und Zuversicht ist. (ling.)

Der äußeren Niedrigkeit der Christen, von der in V. 27f. die Rede war, wird in V. 30 zunächst ihre innere Herrlichkeit entgegengestellt: aus dem Vater durch den Sohn haben sie ihr Wesen; und das nicht bloß in Beziehung auf ihre Schöpfung, sondern vorzugsweise in Beziehung auf ihre Neuschöpfung, ihre Wiedergeburt. Durch welche Stufen nun diese hindurchgeht und wer dieselbe vermittelt und vollbringt, das spricht Paulus in dem aus, was er von Christo sagt; derselbe erscheint da als ein den Menschen von Gott hingestelltes Geschenk, er ist durch seinen tätigen und leidenden Gehorsam uns Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung geworden, und was nun bei uns davon sich findet, ist die Entfaltung des in ihm Gegebenen. Die vier Begriffe stehen zueinander im Verhältnis einer Stufenleiter, und umfassen miteinander die Erscheinungen des christlichen Lebens von ihren Anfängen bis zu ihrer Vollendung: die Weisheit, insofern sie das wahrhaftige, wesentliche Wissen vom Göttlichen, das Eins ist mit dem Wissen der eigenen Nichtigkeit, bedeutet, ist der Anfang alles wahren Lebens; sie führt zur Gerechtigkeit und dann weiter zur Heiligung; die Erlösung aber geht hier aufs Ende, auf die Vollendung des neuen Lebens. Ist so die Wiedergeburt ganz Gottes Werk, wie die Schöpfung, Gottes Werk nach Anfang, Mittel und Ende, so hat nun auch der Christ sich desselben, seines Gottes und HErrn, zu rühmen, während dagegen ein Mensch seiner selbst sich nicht vor ihm rühmen soll; darum beruft sich Paulus zum Schluß noch ausdrücklich auf die zweite Hälfte des Spruches in Jer. 9, 23 u. 24, nachdem die erste Hälfte stillschweigend seinen Ausführungen in V. 26-29 zu Grunde gelegen. (Olshausen.)

Daß Paulus die Weisheit, welche wir an Christo Jesu haben, durch die Wortstellung im
Grundtext sonderlich betont und ihr die drei andern, unter sich durch »und« verbundenen Stücke mittels eines dem ersten derselben beigefügten Wörtleins (rs)
einheitlich nebenordnet, kann in diesem Zusammenhange nicht befremden, in welchem es sich ja um die Weisheit vorzugsweise handelt. Sie besitzen wir damit, daß wir Christum haben, weil in ihm das wesentliche Verständnis aller Dinge und die Lösung aller Rätsel gegeben ist; nicht minder aber besitzen wir damit auch jene andern drei Stücke, welche sich zusammen zur Weisheit verhalten, wie des Menschen Selbstbestimmbarkeit zu seiner Erkenntnisfähigkeit, die Gerechtigkeit nämlich oder den auf Sündenvergebung beruhen- den Stand des Menschen zu Gott, in welchem wir Gottes Urteil für uns haben, die Heiligung oder die Umsetzung unsers Verhaltens aus einem sündigen in ein unserer Gerechtigkeit entsprechendes, und die Erlösung, welche hier im Unterschied von der Rechtfertigung und Heiligung gemeint und also Herstellung aus der Knechtschaft unter dem Tode als dem Solde der Sünde in die Freiheit eines unserer Gerechtigkeit und Heiligkeit entsprechenden Lebens ist. Die Gerechtigkeit ist die einmal für immer vorhandene, die Heiligung eine während unsers Lebens sich fortsetzende, die Erlösung eine jenseits unsers irdischen Lebens sich vollendende: wer dies alles samt der Weisheit besitzt und in einem dadurch erfüllten Dasein steht, der rühme sich des HErrn, d. i. Gottes, welcher es gemacht hat, und Christi, in welchem ihm vermittelt ist, daß er in solchem Dasein steht. Man kann aber auch sagen, er rühme sich Christi, an welchem er alles besitzt, und Gottes, welcher Christum dazu gemacht hat, es uns zu sein. (v. Hosmann).

Quelle: Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments nach der deutschen Übersetzung Dr. Martin Luthers, mit in den Text eingefügter Auslegung, ausführlichen Inhaltsangaben und erläuternden Bemerkungen, herausgegeben von K. August Dächsel, Pastor prim. zu Neusalz a. d. O. Band 7: Das Neue Testament. Der zweiten Hälfte oder der Lehr- und prophetischen Bücher erste und zweite Abteilung: Die Briefe der heiligen Apostel und die Offenbarung St. Johannis. Nebst einem Sachregister zum gesamten Bibelwerk. Verlag der Lutherischen Buchhandlung Heinrich Harms, Groß Oesingen.

Eingestellt am 1. Februar 2021 – Letzte Überarbeitung am 21. September 2023