Richter 15, 18-20 – Der Brunnen des Anrufers

Da ihn aber sehr dürstete, rief er den Herrn an und sprach:
Du hast solch großes Heil gegeben durch die Hand deines Knechtes; nun aber muß ich Durstes sterben und in der Unbeschnittenen Hände fallen. Da spaltete Gott die Höhlung in Leni, daß Wasser herausging; und als er trank, kam sein Geist wieder, und er ward erquickt. Darum heißt er noch heutigestags „des Anrufers Brunnen“, der in Lehi ist. Und er richtete Israel zu der Philister Zeit zwanzig Jahre.
(Richter 15, 18-20)

Simson hat tausend Philister erschlagen. Nun hat er den Kinnbacken weggeworfen. Da überfällt ihn der Durst. Er liegt verschmachtend am Wege. Er hat nicht mehr die Kraft, sich bis zur nächsten Wasserstelle zu schleppen. Er fürchtet, sterben zu müssen und in der Philister Hände zu fallen. Da bleibt nur ein Ausweg: er schreit nach oben. Er ruft den Herrn an und sagt ihm seine Not und sagt ihm auch, wieviel der Herr doch früher an ihm und durch ihn getan hat. O, man denkt oft, Knechte Gottes, die „tausend erschlagen“, seien vor persönlichen Durstzeiten völlig sicher. Nein, dem ist nicht so!

Der Herr hat Großes durch Simson getan; aber nun ist seine eigene Seele jämmerlich daran, wie vielleicht noch nie in seinem Leben. Von oben betrachtet ist es aber doch eine köstliche Lage; denn es bleibt ihm gar kein Ausweg mehr übrig als Schreien zum Herrn. Er ruft den Herrn an. Er ruft aus der Not des brennenden Durstes heraus. Wir wissen nicht, wie lange Simson so rief; nur der Inhalt seines Gebetes ist kurz zusammengefaßt. O welch heiße Inbrunst klingt aus dem Flehen!

Genauso kann es einer Seele zumute werden in geistlichen Nöten: Wenn Gott nicht eingreift, komme ich einfach um.

Nach diesem heißen Gebet folgt ein einfaches, aber herrliches Wunder Gottes: „Da spaltete Gott die Höhlung in Lehi, daß Wasser herausging.“ Gott spaltete. Niemand sonst konnte es. Wer hätte die rechte Stelle in jener Höhlung treffen können? Gott allein kannte sie. Er spaltete die Höhlung bei Lehi. O daß er spalten wollte all die Felsen an den vielen toten, dürren Orten! Wäre bei Lehi kein Anrufer gewesen, die Gegend dort wäre vielleicht dürr und trocken geblieben bis heute. O wie wertvoll ist ein einziger Anrufer in einer öden, dürren Gegend, wo noch kein Leben ist!

Jener „Brunnen des Anrufers“ ist ein irdisches Vorbild von Pfingstsegnungen. Gott will gewiß an vielen Orten noch solche Brunnen des Anrufers schenken, wenn nur die Anrufer da sind. Oberlin kam nach dem Steintal. Wie jämmerlich sah es dort aus! Eine dürre Gegend war es, wie bei Lehi. Oberlin meldete sich nicht schleunigst vom Steintal weg in eine bessere Gegend, die mehr einbrachte, sondern blieb im Steintal als ein Anrufer, bis ein Brunnen des Anrufers dort entstanden war!

Als Gott die Höhlung gespalten hatte, da trank Simson und lebte wieder auf. Sein Geist, der schon fast einschlafen wollte, kam wieder. Der Platz blieb bedeutsam für sein ganzes Leben. Er bekam den Namen „Brunnen des Anrufers“. Sein heißes, inbrünstiges Flehen erhielt ein Denkmal in dem Namen. Nie vergaß er, wie er damals aus wirklicher Not heraus gebetet hatte. Auch Gottes Freundlichkeit bekam ein Denkmal in dem Namen. Solche Plätze vergißt man nie in seinem Leben, wo es einem zumute war, als müsse man sterben, und wo dann eine wunderbare Erquickung und Segnung von oben folgte.

Der Brunnen scheint geblieben zu sein, so daß noch viele da tranken, und darum „heißt er Brunnen des Anrufers bis auf den heutigen Tag“.

Wer kann die Segnungen ermessen, die von solchen Orten jahrzehntelang ausgehen, wo solch ein Anrufer gelebt hat und ein Brunnen des Anrufers entstanden ist? Diese Gegend bei Lehi, die man früher mied, weil sie so trocken, so dürr, so langweilig war, die wurde jetzt von manchen aufgesucht. Warum? Es war ein Brunnen dort entstanden, ein Brunnen des Anrufers. Viele tranken jetzt dort, ohne die Not und das Anrufen Simsons durchgemacht und durchgekostet zu haben.

Der Weg, wie auch bei uns solch ein Brunnen des Anrufers entstehen kann, ist Johannes 4, 14 angegeben. Jesus sagt dort: „Wer das Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, das wird in ihm ein Brunnen des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt.“  Viel Wasser trinken, das Jesus gibt!

Der schönste Brunnen des Anrufers ist der, den Jesus geöffnet hat in Gethsemane und auf Golgatha. Da war seine Seele betrübt bis in den Tod. Da hat er Gebet und Tränen mit Geschrei geopfert. Da ist ein Brunnen des Anrufers entstanden, der die Not vieler Tausender von verschmachtenden Menschen gestillt hat bis auf den heutigen Tag. Da ist der rechte Brunnen des Anrufers. Wer da erquickt und gelabt ist, kann selber „durchs Jammertal gehen und daselbst Brunnen graben.“ (Ps. 84, 6)

(Alfred Christlieb: Andachten)

Pastor Alfred Christlieb (1866-1934)

Bildnachweise:

Salomon de Bray, Samson with the Jawbone, 1636 / Wikimedia Commons

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Eingestellt am 29. Juli 2020