Offenbarung 6 (Johann Peter Lange)

Exegetische Erläuterungen

Kap. 6, Uebersicht

Dieses zweite eschatologisch-cyklische Weltbild ist in seinen Grundzügen so einfach klar und verständlich wie das erste, das Weltbild der sieben Kirchen, und es scheint erst einer chronologisch=kirchengeschichtlichen Exegese vorbehalten gewesen zu sein, dasselbe wieder fest mit sieben Siegeln zu verschließen und nächtlich dunkel zu machen. Durch den Aufschluß des Lammes ist das dunkle Buch zum Hellsten geworden, das Buch der Weltgeschichte in ihren rätselhaften, furchtbaren, nächtlichen Erscheinungen. Schon das ist ein Lichtstrahl, daß das Buch versiegelt ist, d. h. durch die höchste Hand verschlossen auf künftigen Aufschluß hin. Sodann ist es eine hoffnungsvolle Tatsache, daß der Siegel sieben sind, d. h. daß das Rätsel ein heiliges ist, und in der siebenten Zahl einer festlichen Lösung entgegengeht. Da aber erst das erste Siegel gelöst ist, verbreitet sich ein Freudenlicht über die ganze dunkle Weltgeschichte. Der Reiter auf dem weißen Roß reitet allen folgenden Reitern voran. Schon das ist beruhigend, daß der Zug ein Reiterzug ist; die Rosse bezeichnen die rasche Bewegung großer Lebens= oder Todeserscheinungen; keine dieser Erscheinungen bleibt ein stehendes Schicksal über der Welt. Sie alle aber haben in ihren Reitern ihre Lenker; so wild einzelne auf Erden erscheinen – im Himmel ist ihre Lenkung, ihre Richtung, ihr Lauf, ihr Ziel bestimmt.

Allen voran ist der Reiter auf dem weißen Roß, er ist Fürst, sie sind die Knappen. Also alle scheinbar verderblichen Ereignisse müssen seinen Zwecken dienen, und diese Zwecke sind jetzt noch die Erlösung und ihre Ausbreitung in der Welt, nicht schon das Gericht wie bei dem Ausritt Kap. 19, 11. Das Roß ersten Reiters ist weiß; heilig und rein wie himmlisches Licht ist die dynamische Grundbewegung, welche alle anderen, mehr in die Augen fallenden Bewegungen beherrscht. Der Reiter aber ist Christus; ihm also, seiner Macht, seinem Walten sind alle folgenden Tatsachen untertan, nicht nur die drei Reiterknechte, sondern auch die Tat des fünften, sechsten und alle Momente umschließenden siebenten Siegels. Sein Bogen ist der Bogen mit dem sicher treffenden Pfeil des Wortes, sein Kranz oder seine Krone ist das seines prinzipiellen Sieges über alle Macht der Welt und der Finsternis, und wenn er wieder auszieht zu siegen, so ist dies die Tatsache, daß sich sein prinzipieller Kampf und Sieg in einer großen Folge von welthistorischen Kämpfen und Siegen entfalten und vollenden muß. Er bedarf nicht vieler Attribute; ein Hauptattribut ist dieses, daß er die drei Reiter nicht vor, sondern hinter sich hat. Die Figuren der drei folgenden symbolischen Reiter sind nun offenbar so allgemein gehalten, daß als durchaus willkürlich erscheinen muß, wenn man den Krieg oder die Teurung oder die Todesmacht je einzeln auf besondere Zeiten beschränken will. Wir haben hier offenbar dunkle Gestalten vor uns, welche über die Bühne der ganzen Welt dahinziehen. Wenn also hier die Darstellung auch in die vorchristliche Zeit zurückgreift, folgt daraus, daß auch Christus, der Reiter auf dem weißen Roß, schon in der vorchristlichen Zeit in der dynamischen Wirkung seiner Zukunft alle historischen Schranken überwaltet hat.

Ferner folgt daraus, daß diese Mächte von Anfang an den eschatologischen Zug haben, nach dem Ende, dem Gerichte hin gravitieren [d.h. hinstreben]. Wie sollte es auch anders sein, da das Endgericht die Ausgleichung bringen muß zwischen dem Unrechttun und dem Unrechtleiden im Krieg, da es ferner die Ausgleichung bringen muß zwischen denen, welche in Wein und Oel geschwelgt, und denen, welche bei dem knappen Maß des Weizens und der Gerste gedarbt haben in der Teurung. Der Tod ist aber schon von vornherein eschatologisch. Gleichwohl beweist die volle Erscheinung Christi an der Spitze der Rosse, daß wir es hier vorzugsweise mit Gestalten der christlichen Zeit, und zwar als der letzten Zeit zu tun haben. Das zweite Roß hat die Blutfarbe. Sein Reiter ist Krieg, und zwar der ganze Krieg in seiner schrecklichsten Gestalt, nicht etwa nur der Krieg der Notwehr, der Verteidigung, vielmehr jene düstere Gewalt, welcher es verstattet ist, den Frieden nehmen von der Erde, ein wechselseitiges Würgen auf zahllosen Schlachtfeldern zu stiften, und in Stolz und Uebermut mit dem großen Schwert, dem Symbol aller Todeswerkzeuge, bis auf den heutigen Tag zu prangen und zu prunken.

Es heißt nun aber nicht, von Zeit zu Zeit den Frieden we zunehmen, denn die zwischeneinfallenden Friedenszeiten sind so problematisch, von Kriegsaufregungen und Kriegsbesorgnissen durchzittert, daß im Grunde der vollkommene Friede von der Erde weggenommen bleibt bis zur Erscheinung des ewigen Friedens. Die schwarze Farbe des dritten Rosses ist die Farbe der Trauer, hier insbesondere des Hungers und Kummers der Brotnot, wie sie ebenfalls als ein Los der dunklen Weltgeschichte durch die Welt geht. Der Pauperismus [massenhafte Verarmung] ist obendrein geneigt, alle Lebensverhältnisse schwarz zu sehen, schwarz zu malen, weit über das Maß der strengen Wirklichkeit hinaus.

Das Geschick der Teurung aber ist kaum zur Hälfte ein unmittelbares Gottesgeschick, lediglich auf Mißwachs der Erde zurückzuführen; ebensowenig wie der Krieg oder der Tod unter den Namen bloßer Naturereignisse zu befassen. Es ist zur guten Hälfte eine Folge der sozialen Ueberspannung des Unterschiedes zwischen Reich und Arm. Denn die notwendigsten Lebensbedürfnisse, Weizen und Gerste müssen durch die Waage des Reiters und durch eine strenge Taxe hindurchgehen, nach welcher der Denar als der ganze Tagelohn eines Mannes in Weizen nur ausreicht für die Nahrung desselben einzelnen Mannes (für einen Achtel Scheffel, Choinix), und nur mit dem Ankauf von Gerste für einen Denar ein kleiner Ueberschuß für eine sehr kleine Familie übrig bleibt; drei Achtel Scheffel. Diese Strenge ist um so empfindlicher, da die Mittel zum Genuß und zum Schmuck, Oel und Wein, vorwaltend Mittel der Reichen, verschont bleiben sollen.

Allerdings bleibt dann auch diese menschliche Ueberspannung eines von Gott verordneten Gegensatzes ebenso verantwortlich wie der gewalttätige Krieg, und nur die Unterordnung des dritten Reiters unter die Macht des ersten Reiters macht zuvörderst eine ideale Ausgleichung (den Armen wird das Evangelium gepredigt – nicht aber soll ihnen die Apostasie gepredigt werden), gegen das Ende hin aber auch eine reale. Zu vergleichen Matth. 24, 7. Es ist aber bei dieser Schickung besonders merkwürdig, daß sie durch eine Stimme aus der Mitte der vier Tiere verhängt wird. Das soll doch wohl heißen, daß alle vier Tiere im besonderen Maße an ihr beteiligt sind. Was der Löwe auf der einen Seite als Machtverhältnis aufstellt, das wird durch den Opferfarren auf der anderen Seite, die aufopfernde und hingebende Liebe, ausgeglichen, und die adlerhaften Aufschwünge des Geistes über die irdischen Verhältnisse werden ergänzt durch das Menschenbild der Humanität.

Das vierte Roß ist von fahler Farbe, blaßgelb, und sein Reiter heißt mit seinem Namen ausdrücklich benannt: der Tod. Das ganze Totenreich der Hades selbst ist in seinem Gefolge. Wie er selber ein Knappe Christi ist, so hat er nach seiner Mächtigkeit auch seinerseits wieder einen Knappen, den Hades. Damit ist es ausgesprochen, daß die Macht des historischen Todes, wie er eine Folge der Sünde ist, sich hinab erstreckt bis in das Totenreich nach seiner dunklen Gestalt, und es verbreitet sich damit auch ein Licht über die alttestam. Lehre vom Scheol. Wenn aber auch nach anderen Stellen die Tore des jenseitigen Totenreichs weit und begehrlich aufklaffen gegen diesseitige Lebensbühne (Matth. 16, 18), so erscheint hier ihre Wirkung mitten auf der diesseitigen Weltbühne selbst.

Quelle:

Theologisch-homiletisches Bibelwerk. Die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments mit Rücksicht auf das theologisch-homiletische Bedürfniß des pastoralen Amtes in Verbindung mit namhaften evangelischen Theologen bearbeitet und herausgegeben von J.P. Lange. Des Neuen Testamentes Sechszehnter Theil: Die Offenbarung des Johannes. Bielefeld und Leipzig. Verlag von Velhagen und Klasing. 1871. [Digitalisat]


Eingestellt am 17. September 2023