Lukas 23, 33-34, Apostelgeschichte 7, 59-60: Unser Vergeben

«Und als sie an den Ort kamen, den man Schädelstätte nennt, kreuzigten sie dort ihn und die Übeltäter, den einen zur Rechten, den anderen zur Linken. Jesus aber sprach: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun! Sie teilten aber sein Gewand und warfen das Los darüber.» (Lukas 23, 33-34).

«Und sie steinigten den Stephanus, der betete und sprach: Herr Jesus, nimm meinen Geist auf! Und er kniete nieder und rief mit lauter Stimme: Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an! Und nachdem er das gesagt hatte, entschlief er.» (Apostelgeschichte 7, 59-60)

Ein bedeutender Theologe hat treffend gesagt: Vergeben ist das Kennzeichen jedes echten Christentums. Wir sahen schon vorigen Sonntag: Das Allergrößte in alle Ewigkeit ist, daß dort am Kreuz Jesus Christus die auf Golgatha grauenvoll auf die Spitze getriebene Weltsünde vergeben hat, diese ihn kreuzigende Sünderwelt nicht fallen ließ, nicht verwarf, sondern ihr vergab. Heute aber laßt mich vor allem eine andere Seite betonen. Trösten wir uns unterm Kreuz nicht nur der Vergebung Christi, sondern folgen wir ihr nach, wie Stephanus es tat. Das charakteristische Kennzeichen des persönlichen Christenlebens ist das Vergeben, man kann gewiß auch sagen: Das Lieben. Aber in dieser Welt voll Unrecht und Bosheit, gegenüber dieser großenteils so unsympathischen Menschheitsnatur, vermag ein wirkliches Liebesleben nur zu führen, wer es versteht, immer wieder zu vergeben.

Wollen wir darum heute betrachten

das Vergeben im echten Christenleben,

und zwar lassen wir es uns predigen, vom Gekreuzigten selbst wie vom Auferstandenen, durch das Sterben des Stephanus, eines seiner edelsten Jünger.

Hier bitte ich zunächst, denken wir nicht nur an das allgemeine Vergeben gegenüber anderen Völkern. Überblicke erst einmal dein persönliches Leben. Denke an diese oder jene einzelnen, die dir und den Deinen empfindlich wehgetan, schweres Unrecht zugefügt, dich tief gekränkt, dein Leben und Arbeiten fortgesetzt verbittert haben. Und dann sage dir: Es handelt sich darum, gerade diesen Menschen zu vergeben. Aber auch das soziale Vergeben ist heutzutage wichtig. Vielen, die gegen einzelne kaum etwas haben, fällt es sehr schwer, einer anderen Menschengruppe, einem anderen Volk zu vergeben.

Von größter Bedeutung ist es, daß wir das Vorurteil ablegen, als wäre das Vergeben ein schwächliches und darum unwürdiges Verhalten. Die meisten unter uns kennen wohl das ergreifende Drama «Glaube und Heimat».

«Handlung: Über Jahrhunderte wurden Tiroler und Salzburger Christen aus ihrer Heimat vertrieben – weil sie Protestanten waren. Erzählt wird die Geschichte von alpenländischen Bauernfamilien, die nach einem Edikt von Kaiser Ferdinand I. vor die Wahl gestellt werden, entweder ihrem angeblich „ketzerischen“ lutherischen Glauben abzuschwören oder auszuwandern. „Fehlgläubige Männer mit ihren Weibern sind auszutreiben; die guetgläubigen Weiber dürfen auf den Häusern bleiben“, so verkündet es im Schönherr-Stück ein kaiserlicher Bote. Ein erzkatholischer Mönch bietet sich dem Herrscher an, dessen Befehl aufs Grausamste durchzuführen. Für seine unerbittliche Art, den protestantischen Altbauer Rott und seine Familie von Haus und Hof zu vertreiben, wird er sogar zum Ritter geschlagen. Trotz dieser schweren Erfahrungen und Schicksalsschläge sinnt der alte Rott nicht nach Rache. Vielmehr erweist sich sein Glaube stärker, denn er gewährt Vergebung gegenüber seinem Peiniger. Von so viel Großmut beeindruckt, begreift auch der Mönch den katastrophalen Irrtum seines Handelns, doch ist es zu spät.»*

Den krönenden Schluß bildet hier die übermenschliche Erhebung des evangelischen Bauernmannes, der es über sich bringt, dem fanatischen Mörder seines geliebten, einzigen Sohnes, der diesen soeben in den Tod getrieben, dennoch zu vergeben, eine Seelengrösse, vor der jener verhärtete Sünder plötzlich zusammenbricht. Oder blicken wir auf Stephanus. Welch ein wundervolles Sterben! Wie geheimnisvoll groß, von der Wut und Mordlust einer tobenden Menge umgeben, den Himmel doch offen zu sehen und voll Vertrauen und Frieden seine Seele Gott übergeben zu können. Und nun erst wie Stephanus in der Liebe zu sterben mit dem Gebet: «Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht zu.» Spüren wir da nicht: Die vergebende Liebe ist doch das Größte, Höchste und Schwerste im Christendasein.

Welch ein Vergeben fordert denn Golgatha von uns? Wem gilt es zu vergeben?

Der Gekreuzigte betete: «Vater, vergib ihnen.» Wer sind sie, denen hier Vergebung wird? Lassen wir sie im Geist an uns vorüberziehen: Ein feingebildeter, aber frivoler, überzeugungs- und gewissenloser oberster römischer Landesbeamter und Richter, voll feiger Menschenfurcht; entmenschte, rohe Kriegsknechte und Henker! Pharisäer, die eben ihre maßlose Heuchelei und Ungerechtigkeit ganz nackt gezeigt haben; Fromme, ja Theologen voll mörderischen Hasses, Rachsucht und Roheit. Ein Volk – ja – das von Gott religiös-sittlich besterzogene und doch herzlos und von niederträchtigem Wankelmut. Kurz, eine Sünderwelt, die den einzigen vollkommen, ja göttlich Guten in ihrer Mitte nicht nur von sich stößt, sondern mordet! Daraus folgt für uns: Die Nachfolge des Gekrezigten verpflichtet uns auch, den verruchtesten, schlimmsten Menschen zu vergeben. Das ist eine Riesenforderung!

Was ist denn das natürliche Verhalten eines Gerechten, wenn ihm und den Seinen schneidendes Unrecht zugefügt wird? Nicht wahr, innerlich aufzukochen, aufzubrausen im Zorn, sich aufs tiefste zu entrüsten. Und wenn die Erfahrung solcher Bosheiten von bestimmter Seite immer wiederkehrt, dann ist es verständich, dass die Seele allmählich erfüllt wird mit Erbitterung, ja Hass und dem Durst nach Vergeltung, nach Strafe, aber auch leicht nach Rache. Und wenn nun gar in besonderen Zeiten ein Mensch oder eine Menschengruppe sich wiederholt niedrig und charakterlos, ja schlecht und niederträchtig gezeigt, da ist es so natürlich, dass sich in der Seele nicht nur Zorn festsetzt, sondern Verachtung, so dass man kein Erbarmen mehr, nur Schadenfreude empfindet.

Und nun heißt uns das Kreuz: Überwinde diese Affekte und stattdessen – vergib. Mißverstehen wir das nur ja nicht! Das heißt nicht: Ringe diese starken Naturtriebe nieder und bleibe passiv. Vergib! Das heißt eben nicht: Sei und bleibe nachsichtig, nachgiebig, gleichmütig und tue nichts. Das wäre wirklich schwach! Gegenüber offenbarem Unrecht und offenbarer Gemeinheit ist Gleichmut so leicht Stumpfheit, ja Gewissenlosigkeit und Mangel an religiös-sittlicher Energie. Und das ist schlimmer als die immerhin lebens- und kraftvollen Affekte von Zorn, Empörung, ja auch Haß und Rachsucht, wobei die Seele das Unrecht ungemein stark, wenigstens als böse empfindet. Das Lebens- und Kraftvolle ist immer noch weniger schlimm als das Schwächliche. Aber das Vergeben auf Golgatha ist etwas viel Stärkeres als jene Naturtriebe, es ist die größte Tat.

Um das zu verstehen, betrachten wir die Wurzeln echten Vergebens, wie sie sich gerade bei Jesus am Kreuz zeigen.

Zunächst in dem Zusatz: «Denn sie wissen nicht, was sie tun.» Da zeigen sich als Wurzeln des Vergebens Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit. Haß verwirrt den Geist, macht ihn parteiisch, ja blind. Das Zornige will gar nicht die Wahrheit betreffs des Gehaßten sehen, um ihn danach gerecht zu beurteilen. Welch großartige Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit sehen wir dagegen bei dem Gekreuzigten gegenüber seinen Mördern! Gewiß wußten sie, daß sie furchtbar unrecht handelten. Und doch forderte Wahrheit und Gerechtigkeit zu sagen: Sie wissen nicht, was sie tun, nämlich wie unrecht es war. Sie wußten noch nicht annähernd, wer es war, dem sie solches antaten. Sie handelten als Masse, und da ist der einzelne immer, wenn überhaupt schlimm, noch viel schlimmer als an und für sich. Sie handelten in diesen Stunden der Finsternis unter einer gewaltigen, mächtigen dämonischen Massensuggestion, unter einem Irrwahn. –

Suchen auch wir gleich Jesus, dem Feinde immer entgegenzusetzen Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit. Alles verstehen heißt freilich durchaus nicht alles verzeihen. Aber wer sich bemüht, auch den bösen Feind und sein Handeln möglichst zu verstehen, kommt dem Vergeben viel näher, als wer von den Leidenschaften sich hinnehmen läßt. Bedenke zum Beispiel gegenwärtig wahr und gerecht bei den Völkern, unter denen wir bis vor kurzem gestanden, wie seit Jahrzehnten ihre Regierung gegen sie gefrevelt, ihre geistigen Führer sie unausgesetzt zum Haß aufgestachelt haben, wie seit Beginn des Krieges ihre Obrigkeit sie völlig von allem Erhebenden in dieser Zeit ausgeschlossen, dagegen alle finsteren, wilden, ja mörderischen Instinkte in ihnen aufgepeitscht hat. Das zu übersehen wäre unwahr und ungerecht. Aber freilich, welch eine Energie gehört dazu, gegenüber urwüchsigem Zorn, Empörung und Verachtung, solche Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit durchzusetzen. Zum Vergeben, das diesen Wurzeln entwächst, gehört viel sittliche Kraft.

Aber mit Wahrheit und Gerechtigkeit allein gelangt man nicht zum Vergeben. Für sie bleibt oft viel Bosheit beim Feinde und eine wahrhaft himmelschreiende Schuld bestehen. Das Vergeben muß darum in uns noch eine andere Gesinnungswurzel haben: Das ist die Menschenliebe, das Wohlwollen gegen jedes Menschenwesen; vor allem aber der Trieb der Barmherzigkeit und des Mitleidens, aber wieder nur ja nicht als ein schwächliches, sondern als Wille womöglich allen Unglücklichen, auch den Unglücklichsten, nämlich den bösen Menschen zu helfen, sie zu retten und trotz allem weiter mit ihnen zu leben. Sieht nun auf dem Wege dazu die Gerechtigkeit oft eine furchtbar schwer empfundene und Gericht verdienende Riesenschuld, so ist es eben das Entscheidende, daß im liebenden Menschen sich die Menschenliebe und das Erbarmen zum Entschluß und festen Willen erhebt, über die Schuld ganz hinwegzukommen, auf Vergeltung zu verzichten, um sich nur womöglich helfend und rettend des Schuldigen annehmen zu können.

Aber nun können wir gar nicht genug eines betonen. Für wirkliches Vergeben ist von großer Bedeutung, daß wir, wie der Gekreuzigte, gerade betend vergeben. Wer wirklich zu beten versteht, weiß, wie viel das besagt. In unseren heiligsten Stunden, wenn wir vor dem Gott stehn, der unser Herz durchschaut, gilt es zu vergeben. Das ist der Prüfstein der Echtheit!

Für uns Sünder liegt weiter darin: Nicht nur ich vergebe. Wie wenig kommt es doch darauf an! Ich bitte aber meinen Gott, meinen Schuldiger nicht zu richten, sondern ihm zu vergeben, das heißt ihm Gnade und Geduld zu gewähren, seine Bekehrung zu bewirken, daß er ihn danach noch leben und Frucht bringen lasse.

So ist das Herz echten Vergebens das betende, überhaupt innerliche Vergeben. Aber es ist nicht das Ganze. Das herzliche Vergeben ringt danach, sich zu äußern, ja beim Schuldigen eine wirklich beiderseitige Versöhnung durchzusetzen. Das Vergeben kann aber längst im Herzen verwirklicht sein, nach außen hingegen noch lange unmöglich bleiben. Denn durch Liebe und Erbarmung darf im Vergeben doch nie Wahrheit und Gerechtigkeit aufgehoben werden. Recht muss recht, wahr muss wahr bleiben und Unrecht muß bekämpft und überwunden werden. Rechtes Vergeben aber sei in diesem Kampfe nie ein Hemmnis, sondern die wirkungsvollste Waffe. Lernen wir nur als solche, die das dargetane Unrecht schwer empfinden, aber doch es schon im Herzen vergeben haben, betend allen unheiligen Zorn und Haß zu überwinden und dann hinzugehen, um wider das Unrecht aufzutreten, aber nun zugleich dem Sünder die Hand zu bieten, wenn er nur das Unrecht bereut und ihm entsagt. Auch wer vor Gott schon vergeben, kann dabei gegen die Sünde durchaus scharf auftreten. Aber es ist die Schärfe des Operationsmessers, nicht des Bajonetts. Beide verwunden und schmerzen, aber wie verschieden!

Aber wie kann dieses hohe, schwere Vergeben möglich werden? Aus zwei Lebenswurzeln strömt die Kraft dazu. Sie scheinen sich zu widersprechen und liegen doch im gesunden Christenleben immer beide nebeneinander:

Erstens: Jesus konnte vergeben, weil er so göttlich groß und erhaben war. Daraus folgt für seine Nachfolger: Der Hochgesinnte wird vergeben können –, wer Hohes erlebt, und sich dadurch über das Niedrige hat herausheben lassen; wer recht voll zu danken gelernt für erfahrene göttliche Güte, Rettung und Beseligung. Da wird das Herz fest und weich zugleich. Das hebt auch über früher erlittenes Unrecht weit hinaus. Was soll ich jetzt noch danach fragen? Wie klein dagegen, wer nach großer Rettung von Vergeltungs- oder gar Rachegedanken nicht loskommen kann!

Zweitens: Aber im gesunden Christenleben stehen neben diesen Auferstehungshöhen immer auch die Golgathatiefen, als die eigentlichen Wurzeln des Vergebens. Wer gelernt, sein eigenes Dasein als des Todes schuldig und todwürdig anzusehen und ganz im Bewußtsein steht, nur einer unendlich großen Vergebung Gottes jeden weiteren Tag zu verdanken, dem wird es möglich werden, selbst auch immer wieder zu vergeben. Die Sünden anderer können und sollen auch ihm furchtbar und gerichtsreif erscheinen. Aber genauso wie die eigenen.  Und doch wage ich es, für sie auf Grund von Golgatha an Gottes Vergeben zu glauben. Wie sollte ich dann nicht auch glauben an Vergebungsmöglichkeit für andere schlimme, ja rohe Sünder?

Meine Lieben! Eines ist sicher: In unserer Heimat wird es nur zu voller Rettung kommen, werden tödliche Erbitterung und Verbitterung nur weichen, wenn viele Christen das volle, große Vergeben lernen werden. Möge die Betrachtung des Kreuzes in uns Frucht tragen. Bitten wir im Bewußtsein der absoluten Notwendigkeit dessen flehentlich um den Heiligen Geist des Vergebens vom Kreuze Jesu Christi her.

Amen.

Traugott Hahn (1875-1919)

Quelle: Traugott Hahn, Glaubet an das Licht. C. Bertelsmann, Gütersloh, 1925

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Eingestellt am 8. Februar 2021