Morgentau (Philipp Friedrich Hiller)

Ein Nebel steigt noch auf und feuchtet alles Land,
Wie dort im Paradies , von unsres Schöpfers Hand.
Ihr Ausgetriebenen, die ihr den Thau beschauet,
Sagt nicht: „es thauet“ nur, sagt besser so: „Gott thauet“.
So still, so kühl, so leicht, so reichlich, zart und rein,
So voll subtiler Kraft, so rund, so voller Schein
Fällt dieses Wundernaß, daß denen, die es merken,
Das Auge thränend thaut vor Lust an Gottes Werken.

Von tausend Sorgen kommt ein Tröpflein Thau nicht her.
Kein Hälmlein stehet hier, das nicht sein Tröpflein trüge.
Und hat es schon nicht zwei, doch hat es zur Genüge.
Heut braucht es weiter nicht, auch morgen ist ein Tag,
Da es sich wiederum zur Nothdurft laben mag.

Ich weiß die Wege nicht,
Wie Gottes sanfte Macht durch starre Herzen bricht.
Das Leben wiederbringt in so viel tausend Seelen
Die Kraft, die Menschenwitz nicht fassen, messen, zählen,
Verstehn, ergründen kann, so wunderbar beweist,
Und bei so mancher Kraft nur eine Gnade heißt.
Die wirkt oft früh, oft spät, bald langsam, bald geschwinde,
Heut wenig, morgen viel, jetzt mächtig, jetzt gelinde.
Da schlägt die Wurzel aus, als wie der Libanon,
Dort breiten Zweige sich als wie ein Oelbaum schon
Mit schönen Schatten aus; hier wird Geruch gegeben.
Man sieht nicht, wie es wächst, doch siehet man das Leben.
Schließt ein getropfter Thau so viel Verborgnes ein,
Welch eine Tiefe muß dann in der Gnade sein!