2. Timotheus 3, 14-17

Eine Ermahnung an die Eltern, ihre Kinder von Jugend auf die heilige Schrift zu lehren, und an die Kinder, sie von Jugend auf zu lernen.

I.

In Lycaonien, einem asiatischen Lande, und in einer namhaften Stadt desselben; nicht wissen wir, ob in Lystra oder Iconium, lebte ein Paar in gemischter Ehe; der Mann war ein Heide, die Frau aber, welche Eunice hieß, war eine Jüdin. Beide hatten einen Sohn, welcher Timotheus hieß, zu deutsch: Fürchtegott. Dieser Sohn wurde von Eunice und von einer Großmutter Lois, die auch eine Jüdin war, von Kindesbeinen an, wie sein Name lautet, zur Furcht des einig wahren Gottes angeleitet und in die heilige Schrift alten Testamentes eingeführt. Als nun das Evangelium von unserm HErrn JEsus Christus nach Lycaonien kam, da wurden seine Mutter und seine Großmutter alle beide gläubig, und der heilige Paulus sagt von ihnen, daß ihr Glaube ein ungeheuchelter und ungefärbter gewesen sei, 2. Tim. 1, 5.

Dem Beispiel seiner Mutter und Großmutter folgte auch Timotheus, und durch göttliche Gnadenwirkung wurde derselbe ungefärbte Glaube, den sie hatten, auch in seinem Herzen heimisch. Er gewann bei allen Christen in Lystra und Iconien Ansehen und Liebe, so daß ihm alle das beste Zeugnis gaben, als der Apostel Paulus in die Gegend kam, und daß er ihn deshalb anstatt des heiligen Barnabas an seine Seite nehmen konnte. In Pauli Schule reifte der junge Timotheus zu einem gesegneten Werkzeug des heiligen Geistes und zu einem Gottesmann, dem der Apostel, so lange er lebte, zugethan blieb, wie er denn auch die beiden herrlichen Briefe an ihn schrieb, die noch jetzt jedermann im neuen Testamente lesen kann. In diesen Briefen, und zwar 2. Tim. 3, 14–17. sagt der Apostel zu seinem Jünger Timotheus:

„Du aber bleibe in dem, das du gelernt hast, und dir vertrauet ist; sintemal du weißest, von wem du gelernet hast. Und weil du von Kind auf die heilige Schrift weißest, kann dich dieselbe unterweisen zur Seligkeit durch den Glauben an Christo JEsu. Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit, auf daß ein Mensch Gottes sei vollkommen, zu allem guten Werke geschickt.“

II.

Aus diesem Spruche des heiligen Paulus kannst du sehen, wie der Apostel die heiligen Schriften des alten Testamentes ansieht und schätzt. Er sagt nicht, daß das alte Testament keinen Werth habe für die Leute, die im neuen Testamente sind, sondern er sagt, es sei nütze, das ist also nützlich und zwar nützlich auch für einen Timotheus, der in Pauli Schule gewesen ist. Sanct Paulus sagt zu Timotheus: „Bleibe in dem, was du gelernt hast, und dir vertraut ist, sintemal [da, oder weil] du weißt, von wem du gelernt hast.“

Von wem hat er denn gelernt? Doch offenbar von Paulus selbst, und das schlägt denn auch der Apostel nicht gering an, denn er will haben, daß dem Timotheus die Erinnerung an ihn, seinen Lehrer, im Glauben treu erhalten soll. Dennoch aber, also trotz des vortrefflichen Unterrichtes, den er empfangen, ist ihm das alte Testament keineswegs unnütz; es kann noch dem hochgelehrten Lehrer nützen zur Seligkeit, und das um so viel mehr, weil er es schon so lange, schon von Kindheit auf gelernt hat. Ja, es kann dem Timotheus nützen, weil es ein Buch von ganz besonderer Art ist, denn es ist von Gott eingegeben oder eingehaucht, also ein göttliches Buch, deshalb ohne Fehl und Mangel, ein untrüglicher Lehrer für einen jeden, der fähig ist, es zu verstehen. Das alte Testament ist also nicht bloß ein nützliches Buch, sondern ein göttliches Buch. Was man aber von dem alten sagen kann, das gilt auch von dem neuen, welches aus gleicher Quelle entsprungen ist und gleichen Segen bringt. So kannst du also lernen, wie du deine Bibel anzusehen hast, nämlich als ein von Gott eingegebenes und daher sehr nützliches Buch, welches sogar noch solche Leute, wie Timotheus, zur Seligkeit anleiten konnte.

III.

Jedoch könnte etwas für einen großen Lehrer nützlich sein, was für einen Menschen, wie du bist, lieber Leser, ohne allen Nutzen wäre. Auch könnte ein Buch von Gott eingegeben sein, und eben deshalb für dich nicht passen; es könnte dir gerade aus diesem Grunde zu hoch sein. Es könnte, allein es ist keineswegs der Fall, sondern im Gegentheil macht es die Albernen weise, Ps. 19, 8., und kann schon die Kinder lehren. Denn wenn man dies aus keiner andern Stelle der heiligen Schrift wüßte, so wüßte man es doch aus derjenigen, die wir oben angeführt haben, in welcher ausdrücklich steht, daß Timotheus von Kind auf die heilige Schrift wisse. Ist das, so muß er sie also auch von Kind auf gelernt haben, so muß man sie also auch einem Kinde lehren können, so muß sie also auch für das kindliche Verständnis nicht zu schwer, so muß sie für jedes menschliche Verständnis und für jedes Maß der Einsicht zugänglich sein, auch wenn man keinen weitern Lehrer hat, als eine Mutter Eunice und eine Großmutter Lois. Daher hilft es auch nichts, zu widersprechen, die Schrift ist und bleibt nütze für alle Menschen, und kann jedermann, zumal an der Hand eines schon geübten Bibellesers oder Lehrers unterweisen zur Seligkeit. Daher soll sie auch jedermann lesen und seine Kinder lesen lehren.

IV.

Lesen, – was für eine wunderliche Kunst ist das! Die Zeichen auf dem Papier erwecken dir, wenn du sie einmal kennst, die Erinnerung an Töne, welche du innerlich zusammenfassest und als Worte aussprichst; die Worte aber wecken in dir die Erinnerung an mancherlei Begriffe und Gedanken. Wenn also dein Auge an den Zeichen und Zeilen im Buche haftet, so ist es, wie wenn jemand mündlich mit dir redete, und wer dir schreibt, dessen Gedanken kannst du verstehen und inne werden, auch wenn er durch Berg und Thal, durch Fluß und Meer von dir geschieden ist. Ich weiß keine herrlichere Kunst, als die, zu lesen, und die damit so eng verbundene, zu schreiben. Wer lesen kann, dem stehen alle Pforten des Wissens offen; wer nicht lesen kann, bleibt entweder ein ungebildeter und unwissender Mensch, oder er muß sich mühsam dasjenige zusammen hören, was er durch Lesen so schnell und leicht gewinnen könnte. Schon für das irdische, zeitliche Leben ist daher das Lesen die wichtigste und nützlichste Kunst, und es ist aller Eltern heilige Pflicht, dafür zu sorgen, daß ihre Kinder lesen lernen. Ueberdies ist es so leicht, ein Kind irgendwie lesen zu lehren, daß man es nicht begreifen kann, wie es kommt, daß die Eltern die süße Pflicht von sich abschütteln und andern Lehrern und Lehrerinnen aufladen mögen. Was ist schöner, als die eigenen Kinder dahin zu bringen, daß sie aus stummen Büchern reden lernen und die Gedanken entfernter oder längst entschlafener Menschen aus so wenigen Zeichen, fünfundzwanzig Buchstaben, verstehen lernen und also in eine geistige Verbindung mit ihnen treten können. Setz dich doch im stillen Winter, wo dich Schnee und Eis und der Schlaf der Natur verhindert, hinauszugehen und deine Feldarbeit zu thun, zu deinem Kinde und lehre es lesen. Damit lernst du selbst etwas und verlernst das Lesen nicht, was in unsern Tagen so viele verlernen, weil sie ihre Kinder nicht mehr lehren, wie unsere Väter und Mütter uns gethan haben. Geh nur einmal am Sonntag Mittag oder Nachmittag, wenn die Leute die Predigt zu lesen pflegen, durchs Dorf, und höre, wie sie stottern und sich mühen, und so elend lesen, daß kein Zuhörer sich aus ihrem Vorlesen erbauen kann! Warum lesen sie denn so schlecht? Es ist die Strafe dafür, daß sie ihre Kinder nicht mehr selbst lesen lehren und sich mit ihnen im Lesen üben.

Darum gehorche doch meinen Rath und fange wieder an, mit deinen Kindern zu lesen und sie lesen zu lehren. Das alles aber sage ich dir keineswegs allein in der Absicht, dich zu bewegen, daß du mit deinen Kindern bloß zeitlich nützliche Dinge lesen mögest; sondern ich wünschte, daß du wie Lois und Eunice mit deinem kleinen Timotheus oder mit deiner eigenen kleinen Eunice die heiligen Schriften des alten und neuen Testamentes lesen und studieren möchtest, die von Gott selbst eingehaucht sind und dich sammt deinen Kindern zum ewigen Leben anweisen können. Sollst du dein Kind lesen lehren um seines zeitlichen Nutzens willen, wie viel mehr wirst du die Pflicht auf dir haben, es um des ewigen Segens willen lesen zu lehren. Ich verspreche dir, so zu sagen, einen Gotteslohn, wenn du thust, was ich dir rathe und was deine Pflicht ist. Jedes Wort und jeder Vers, welchen dein Kind unter deiner Anleitung wird lesen und fassen lernen, wird sich dir selber tiefer einprägen, und die gütigen Kräfte des göttlichen Wortes werden deine eigene Seele erfüllen, wenn du Herz und Verständnis deines Kindes bei deinem Unterrichte für sie öffnest. Es ist eine Erfahrung aller, die Gottes Wort lehren, daß sie es selbst desto beßer lernen. Durch Lehren lernt man, das ist gewiß; man lernt nicht blos selbst lehren, indem man lehrt, sondern man lernt auch besser verstehen, was man lehrt. Daher folge dem Beispiel der frommen Lois und Eunice, und lehre dein Kind lesen, und lies mit ihm das göttliche Wort. Die ganze Absicht des Blättchens, welches du in deiner Hand hast, ist keine andere, als die Eltern zu ihrer heiligen, gesegneten Pflicht anzumahnen, mit ihren Kindern das göttliche Wort zu lesen.

V.

Aber auch an euch denke ich, ihr Kinder, die ihr bereits lesen könnet, und denen dies Blättchen in die Hände kommt. Spiegelt euch am Beispiel des jungen Timotheus, welchem das Zeugnis gegeben wird, daß er von Jugend auf das göttliche Wort kennen gelernt habe und wisse. Die Arbeit der Jugend ist Lernen. Wer in der Jugend wohl lernt und gehorcht, der wird auch wohl schaffen und arbeiten, wenn er herangewachsen und groß geworden ist. Ein Knabe, ein Mädchen, die nicht lernen, erwecken wenig Hoffnung, daß es ihnen gut gehen werde in diesem Leben. Von allem aber, was du lernen kannst, und was du lesen kannst, ist das schönste die heilige Schrift. Die ist dir nütze zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit, daß du ein Gottesmensch werdest, und geschickt zu jeglichem guten Werk, ja daß du endlich selig werdest.

Da lies also, und wenn du noch nicht gut lesen kannst, so übe dich, daß du es baldmöglichst lernest, damit du auch baldmöglichst zu dem Glück gelangest, lesen und verstehen zu können, was dir Gott durch seine heiligen Apostel, Propheten und Evangelisten hat aufzeichnen lassen. Bitte deinen Vater, deine Mutter, daß sie mit dir lesen; es ist nichts schöner, als wenn die Eltern mit den Kindern und die Kinder mit den Eltern das seligmachende Wort Gottes lesen. Kann dein Vater, deine Mutter nicht mir dir lesen, oder wollen sie nicht, erhören sie deine Bitte nicht; so bitte deine Geschwister, deine Verwandten, deine Paten, daß sie wenigstens so lange mit dir lesen, bis du dir selbst weiter helfen kannst, bis du richtig und geläufig liesest. Hast du es soweit gebracht, so merke dir, was der heilige Paulus an seinen lieben Timotheus geschrieben hat: „Halte an mit Lesen.“ 1. Tim. 4, 13. Lies selbst, gehe zu den Alten, zu den Kranken, zu den Blinden, und lies ihnen vor. Da wirst du inne werden, wie schön es ist, lesen zu können, und wirst begreifen, was Offenb. 1, 3 steht:

„Selig ist, der da lieset und die da hören die Worte der Weissagung, und behalten, was darinnen geschrieben ist, denn die Zeit ist nahe.“

Quelle: Wilhelm Löhe’s Tractate für die Seelsorge. Druck von Carl Junge in Ansbach [online verfügbar bei Wikisource]