Vom Sozialisten zum Christen (Fritz Binde)

Der Apostel Paulus beschreibt einmal in seinem Briefe an Timotheus seine inhaltsreiche Lebensgeschichte in nur zwei Versen. Insoweit als auch ich, der ich früher ein Feind Jesu war, nun Gnade fand, passen sie auch auf meinen Lebensgang, sie lauten:

„Der ich zuvor war ein Lästerer und ein Verfolger und ein Schmäher; aber mir ist Barmherzigkeit widerfahren, denn ich hatte es unwissend getan im Unglauben. Es ist aber desto reicher gewesen die Gnade unseres Herrn samt dem Glauben und der Liebe, die in Christo Jesu ist“ (1. Tim. 1, 13.14.)

Wie ich Anarchist wurde.

„Lange ging ich in die Irre,
Kannte meinen Hirten nicht“,

bis zu meinem 33. Jahre. Der Welt rohere Freuden lockten mich zwar nie recht, wohl aber der Welt Weisheit. Mit 18 Jahren hatte ich schon so viel gelesen, daß für den Glauben an das Wort Gottes kein Raum blieb. Dennoch habe ich die Erscheinung Jesu von Kindheit an lieb gehabt, wenn auch mit Unverstand, denn niemand brachte mir den Gekreuzigten biblisch nahe. Meine liebe Mutter zwar betete mit mir:

„Ich bin klein,
Mein Herz ist rein,
Soll niemand drin wohnen
Als Jesus allein“;

aber in unserem Hause wohnte Jesus nicht. Als Knabe mußte ich wohl zur Belustigung meines kirchenfeindlichen Vaters auf einen Stuhl steigen und des Pfarrers Predigt nachahmen, wofür ich zwei Pfennige bekam. Trotzdem nahm ich meine Konfirmation recht kindlich ernst, weinte viel und nahm mir vor, meine Sünden nie wieder zu tun.

Gottes Gnade hat sich treulich um mich gemüht. Von sieben Kindern das schwächste, bin ich dennoch allein am Leben geblieben. Von früh an hatte ich das zuversichtliche Gefühl, von Gott durch viele Irrtümer hindurch endlich ganz gewiß ans rechte Ziel gebracht zu werden. Und dieses bestimmte und bestimmende Gefühl hat mich nie verlassen, auch in den dunkelsten Zeiten nicht.

Achtzehn Jahre alt lernte ich den ersten gläubigen Menschen kennen. Das war in Frankfurt a. M. In meiner engeren Thüringer Heimat ist mir bis heute kein Mensch als völlig bibelgläubig bekannt (Das hat sich jetzt, Gott sei Dank, geändert). Nun war ich meinem Vater entlaufen und lag in der Herberge zur Heimat zu Frankfurt a. M. mit mancherlei Reisenden in einem geräumigen Schlafraume. Nachdem mancherlei erzählt worden war, kam man auch auf Gott, Gottes Sohn und die Bibel zu sprechen, und das Zeugnis einer gläubigen Seele beherrschte den nächtlichen Raum. Geärgert widersprach ich ins Dunkel hinein: „Ich glaube weder, daß die Bibel Gottes Wort, noch daß Jesus Gottes Sohn ist!“ – „Dann werden Sie“, antwortete fest der Gläubige, „in Ihren Sünden bleiben und entweder darinnen verderben, oder Gott wird Sie erfassen und durch viel Elend hindurch zum Glauben bringen, und dann werden Sie Ihre Worte von heute Abend bitter bereuen.“ Ich lachte und schlief ruhig ein.

Eine weitere Gnade Gottes war, daß Er mich mit 20 Jahren in das Haus eines gläubigen Mannes, meines nachmaligen Schwiegervaters, führte. Ich hatte ihn recht lieb, aber er forderte eines Tages unnachsichtlich, meine ungläubigen Bücher sollten nicht mehr länger unter seinem Dache bleiben. Das reizte mich zu überlegenem Trotz und veranlaßte mich, Mitglied eines Freidenker-Vereins zu werden. Meine Braut weinte. Von nun an opferte ich jedes entbehrliche Geld dem Ankauf gottesleugnerischer Bücher und den größten Teil der Nachtruhe dem Studium materialistischer Wissenschaft.

Ich war noch nicht 22 Jahre alt geworden, da setzte ich eines Nachmittags den lebendigen, persönlichen Gott ab und das ewige, unabänderliche Naturgesetz an Seine Stelle. In gleicher Zeit begann ich in gemeine Sünden zu fallen. Unfriede und Angst folgten. Auch tat es mir weh, keinen Gott und keinen Himmel mehr zu haben. Diese Leere im Herzen trieb mich zur Sozialdemokratie, die den Himmel auf Erden versprach. Mit 25 Jahren war ich sozialdemokratischer Redner und Schriftsteller. Mein Schwiegervater ruhte seit einem Jahre, wohl aus Gram über mein Leben und unsere Ehe, dem Leibe nach unter der Erde.
Aber Gottes suchende Gnade ließ mich nicht. Vier Jahre hielt ich es aus unter diesen trinkenden, lärmenden Weltverbesserern, die da meinen, der Mensch werde besser, wenn seine äußeren Verhältnisse bequemer und einträglicher werden. Dann packte mich der Ekel an dem herrsch- und rachsüchtigen Parteitreiben und der Zweifel an der sozialdemokratischen Wissenschaft. Aus gleicher Verzweiflung an dem Wert und Ziel der Partei erschoß sich damals in einer Nacht mein Freund, sozialdemokratischer Redakteur, in einem Raume, dessen Wände bedeckt waren von Büchern voll sozialdemokratischer Volksbeglückungstheorien. Er war eine edle Natur, und deren fand ich manche unter den „Genossen“; aber alle waren zerrissen und unselig.

Noch tiefer mußte Gottes Gnade mit mir gehen. die Enttäuschung an der Partei warf ich auf mich selbst zurück. Zurück zur bürgerlichen Gesellschaft gab es keine Brücke. Auch waren mit die Ordnungen dieser Gesellschaft geradeso verhaßt wie die der verlassenen Partei. Ein Leben in behäbiger Gleichgültigkeit war meiner hungernden, ringenden Seele unmöglich. Kirche und Gläubigkeit galten mir nichts – so wurde ich Anarchist.

Wie ich suchte und nicht fand.

Erschrick nicht, lieber Leser, nicht alle Anarchisten tragen Bomben in den Taschen. Mein Schritt geschah wesentlich unter dem Einfluß der Kant’schen Philosophie, mit der ich damals den naturwissenschaftlichen und historischen Materialismus überwand. Kants Lehre von der sittlichen Selbstgesetzgebung des Einzelmenschen wurde mir Anlaß zu glauben, jedermann müsse sein eigener Priester, Richter und Gendarm in der Weise werden, da alle Staats-, Rechts-, Polizei- oder Parteiordnungen überflüssig würden. Die „freie Persönlichkeit in der freien Genossenschaft“ wurde mein ideales Kampfziel. Freilich, zwei Jahre später lag auch dieses Ziel als erkannter Irrtum hinter mir. Ich hatte die schmerzliche Einsicht gewonnen, die meisten der Menschen taugen nicht zu „freien Persönlichkeiten“, sondern bleiben Sklaven niederer Instinkte. Und doch hatte ich gerade unter den Anarchisten manche ehrlich ringende Seele gefunden, die aufrichtig hungerte und dürstete nach der Gerechtigkeit, freilich weit ab vom Weg des Lebens. Etlichen von ihnen hat es der Herr nunmehr gelingen lassen, gleich mir, den Weg des Lebens zu finden.

Jedoch vorerst ließ mich Gottes Gnade noch den letzten, nötigen Irrgang antreten. Das war der Gang von Kant zu Nietzsche und durch Nietzsche zur Kunst. Glaubte ich nicht mehr an eine Freiheit für alle, so lernte ich doch nunmehr durch den Philosophen Nietzsche glauben an die Freiheit der einzelnen „freien, sehr freien Geister“. Das sind die Menschen, die alle hergebrachten Grenzen des Denkens und Handelns überstiegen haben und „jenseits von gut uns böse“ zu leben suchen. Aus ihnen sollte der zukünftige, höhere Mensch, der sogenannte „Übermensch“, hervorgehen. Ihr Gott ist ihr wunderbares Ich und ihr Gottesdienst das Denken und Schaffen als fröhliche Kunst. Diesem Gottesdienst weihte ich nun meine Feder und ordnete nach ihm mein immer freier und stolzer werdendes Leben. Die letzten Rücksichten des alten Gewissens fielen. Auf dieser Geisteshöhe hörte jede Sünde auf, Sünde zu sein, wenn man sie nur mit dem nötigen erhabenen Selbstbewußtsein zu heiligen verstand. Hier galt nur eins: Raum allem starken, mutigen Leben; denn in ihm allein offenbart sich das Göttliche! – Die natürliche Folge dieses hohen Lebens war: Verrohung des Gewissens, Verwirrung der Nerven, Sünde und Sündenfolge.

Wie Jesus mich suchte.

Und nun wurde es Zeit für Gottes Gnade, mich heilsam zu züchtigen. Ich wurde nervenkrank, arbeits-, ja denkunfähig. Die Folgen meines überstudierten, übernächtigen Lebens mit seinen Auf- und Ausbrüchen, Enttäuschungen und Sünden traten nun zutage. Schlaflose Nächte, schreckliche Angstzustände peinigten Leib und Seele und machten mich zur Ruine. So ging ein Jahr hin, und ein neues brach an. „Frau“, sagte ich, „wir müssen einen neuen Abreißkalender haben, um die Tage des Elends weiter zu zählen.“„Ich habe schon einen“, antwortete sie und brachte mir einen frommen Neukirchener „Christlichen Hausfreund“, den sie vom christlichen Kolporteur wider meinen Willen gekauft hatte. Wider meinen Willen hing nun dieser „Hausfreund“ an der Wand, täglich mir vor Augen. Täglich riß ich ein Blatt ab und warf es ungelesen und zerknittert ins Kohlenfaß. Widerliches Zeug, es ärgerte meine schwachen Nerven! Niemals wollte ich mich daran gewöhnen, es auch nur anzusehen, nur das Datum brauchte ich und sonst nichts. Aber das Leiden wuchs mir über den Kopf. Meine Freunde, die Ärzte, sagten: „Ruhe!“ Jawohl „Ruhe!“ Wo sollte es Ruhe geben für dieses wahnsinnige Spiel ängstigender Gedanken? „Ruhe“ bei diesem schauervollen Hinabsturz in den geistigen und jeden anderen Bankerott? Da standen die vielen hundert Bücher: nicht eines konnte mir helfen! Was war nun Kant, Nietzsche und alles Gereime und Geschreibe meiner Lieblingspoeten? Was die philosophischen Ratschläge meiner Freunde? Was mein eigenes erarbeitetes Wissen, das jetzt auseinanderfiel wie ein gestrandetes Schiff?

Verzweifelt hielt ich das abgerissene Blättchen in Händen und – begann zu lesen:
„Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, macht uns rein von aller Sünde…“ (1. Joh. 1, 7)
Das „Blut?“ Unfaßbar! Das war ja heidnisch-jüdischer Opfergreuel. Ein Gott, der Blut sehen will…! Hinweg! Zerrissen flog das Blatt ins Kohlenfaß. Und dann „Sünde“! Was war mir „Sünde?“ Ein Wörtchen in Gänsefüßchen, etwas für altmodische Leute, rein relativer Begriff, notwendiges Schattenspiel im Weltgemälde, Dissonanz, die sich auflöst im Weltakkord. Jedenfalls ist’s „Sünde“, schloß ich meine Betrachtungen, im Leide zu verzagen und feig zu Kreuze zu kriechen. – Aber ein anderes Mal las ich:
„Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln wie Adler“ (Jes. 40, 31).

O, auf neue Kraft harrte ich wohl, aber nicht auf einen „Herrn!“ Wohl glaubte ich wieder an einen Gott; aber den suchte ich nicht über mir, sondern in mir: in meinen Gaben, in den Sehnsüchten und Leidenschaften meiner Seele, in meinem bis zu den Grenzen des Alls ausgedehnten Ich, das sich mit allem Leben liebend eins wußte, und was dergleichen große Redensarten mehr waren. Mir gehorchen, hieß deshalb Gott gehorchen: Was sollte da ein Herr „über“ mir? – Aber lag nicht mein Ich krank und bankrott im Stuhle? Wo war da der Gott „in“ mir? Nach langem Nachsinnen stellte ich das Blättchen zu weiterer Prüfung auf meinen Schreibtisch. Doch bald griff ich wieder danach, strich entschieden das Wörtlein „Herr“ durch und stellte das Blatt von neuem auf den verstaubten Tisch.

Wie es in den Kampf ging.

Und so ging es weiter. Jeden Tag rang ich mit den Worten dieser Blättchen wie mit einem sich täglich mit entgegenstellenden, gewappneten Feinde. Ich bestritt, durchstrich, zerriß, besiegte auch scheinbar; aber am nächsten Morgen stand mein Gegner so frisch da als zuvor, ich jedoch wurde täglich matter und unsicherer. Mit dieser täglich neuen Frische überwand er mich, und schließlich ertappte ich mich dabei, daß ich ihm zuhörte, wirklich wie einem wohlmeinenden Freunde.

Prüfend begann ich die Evangelien zu lesen. Aber wie ganz anders standen die Worte nun in der Bibel als früher, wo ich Jesum als Sozialdemokraten, Anarchisten und übermenschlichen Lebenskünstler zu studieren suchte! Zum erstenmal in meinem Leben war ich wirklich mühselig und beladen zu Jesu Worten gekommen. Wenn Er nun mein gekreuzigter Heiland werden könnte? Wenn es doch war wäre mit dem Blut…?

Aber dann sprang ich plötzlich auf und holte mir aus der langen Bücherreihe Nietzsches „Antichristen“ heraus. Ich wollte doch nun endlich sehen, wer recht hätte. Doch da las ich in wohlbekannten Sätzen, das Christentum sei nur für die „Schwachen“, „Mißratenen“, „Überreizten“, „Erschöpften“, „die das Unglück mit dem Begriff ‚Sünde‘ beschmutzen“. „Es steht niemand frei, Christ zu werden; man wird zum Christentum nicht ‚bekehrt‘ – man muß krank genug dazu sein.“ – Ich zitterte: War ich nicht ein solcher? Und deutlich hörte ich eine spitze Stimme in mir fragen: „Wenn du gesund wärest, würdest du dann diese Blätter lesen?“

Ich wankte und taumelte gegen einen Spiegel, starrte mein Bild an und erwartete einen Ausbruch des Wahnsinnes.

An einem der folgenden Abende schleppte ich mich trotzig wieder in die alte Gesellschaft. Als ich gegen Morgen heimwankte, stieß ich mit dem Fuß gegen einen Stein. Ich stieß ihn fort und stieß zum zweitenmal an ihn und zum drittenmal. (Dieses Stoßen, der Ausdruck des Trotzes im eigenen Gewissen [Apostelg. 9, 5] war – ach wie so oft schon! – ein Stoßen gegen den Stein des Anstoßes und den Fels des Ärgernisses [1. Petr. 2, 8], gegen die im Herzen tönende, aber noch unerkannte Stimme Jesu, des guten Hirten.) Und als ich im Schein der Laterne den Stein aufheben und anschauen mußte, als ob er mir etwas sagen sollte, hörte ich:

„Ich bin’s, der mit dir redet (Joh. 4, 27):
Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken“ (Luk. 5,31).

Das war eine deutliche Antwort. Leider schlug sie nicht durch. Spiritistische und theosophische Gewohnheiten hatten mich abgestumpft und mißtrauisch gemacht gegen Mitteilungen aus der Geisterwelt. Trotzdem nahm ich jenen Stein mit nach Hause, wusch ihn – es war ein weißer Kiesel – und schrieb darauf: „Joh. 4, 26“; er liegt heute noch auf meinem Schreibtisch.

Von nun an begann eine Zeit entsetzlicher Kämpfe. Es war, als ob ich mit dem Hervorholen jenes Nietzschebuches einem bösen Geiste Macht zum Mitreden gegeben hätte. Und das war tatsächlich der Fall. Mein christlicher Hausfreund und die Bibel ließen wohl täglich ihre friedliche Stimme hören, aber die spitze Stimme in mir schrie jetzt immer dagegen. In diesem Kampf wurde nicht mehr durch mich, sondern über mich entschieden. Ein schauerlicher Druck lag Tag und Nacht auf meinem Geiste. Radelte ich aber ein wenig hinaus, um frische Luft zu schöpfen, so schrien die dunkeln Stimmen: „Fahre hinab in den Abgrund, hinab in den Strom! Deine Frau bekommt die Lebensversicherungssumme, gesund wirst du doch nicht wieder; du tust ein gutes Werk, fahre hinab!“ Es war wie Nietzsches Ruf: „Stirb zur rechten Zeit!“

Wie Jesus mich überwand.

Zur rechten Zeit führte mich die Gnade Gottes mitsamt den Meinen auf einige Zeit in das Elternhaus meiner lieben Frau. Dort in der Nähe wohnte ein mir bekannter Prediger, der allerdings ohne Einfluß auf mich geblieben war. Diesem offenbarte ich jetzt einiges von der in mir statthabenden Umwandlung. Er schien zwar mehr verwundert als erfreut, lieh mir aber ein schlichtes Büchelchen, das er mir sehr empfahl; es war: „Der Weg dem Lamme nach“ von Georg Steinberger.

Gleich in der Straßenbahn begann ich das Heftchen zu lesen. Im schwiegerelterlichen Hause las ich es zu Ende und noch einmal. Das Büchlein vollbrachte ein Wunderwerk in mir. Es verwandelte mir nämlich endgültig Jesum von Nazareth, den vornehm-überlegenen, heroischen Weisen in Jesum Christum, das demütig dienende, tragende, geschlachtete Lamm Gottes, das der Welt Sünde und auch meine Sünde trägt. Es bewies mir den Sieg des Schwachen und Nichtigen in der Welt gegenüber dem Starken und Großen. Es stellte mir den Lammesweg über den Löwenweg. Es weckte in mir Lammes- und Leidenssinn. „Ja“ zu meinem Elende zu sagen. Und damit machte es mich bereit, „ja“ zu Gottes Willen zu sagen, der mir dieses Elend geschickt hatte. Es machte mich also fähig, Gott als einen Herrn über mir anzuerkennen und mich nichtig zu Seinen Füßen zu werfen. Es hatte also das nichtige, schlichte Büchlein mehr vollbringen können, als alle Bücher zusammen, die ich jemals in meinem Leben gelesen hatte.

Und dies geschah unter demselben Dache, unter welchem damals mein Schwiegervater meine ungläubigen Bücher nicht dulden wollte, unter demselben Dach, unter welchem ich Gott abgesetzt und in Sünden gelebt hatte, und in demselben Zimmer, in welchem mein Schwiegervater aus Gram über mein Leben und unsere Ehe gestorben war.

„Wie gar unbegreiflich sind Seine Gerichte und unerforschlich Seine Wege!“ (Röm. 11, 33). Ich war „bekehrt“, verstand die Bedeutung jener Stunden aber erst viel später und werde sie später noch besser verstehen lernen. Damals war mir das Wort „Bekehrung“ noch sehr widerlich und albern; ich hätte es nimmermehr auf mein Erlebnis anwenden mögen. Ich wußte nur, daß ich eins mit blitzschneller Deutlichkeit erfahren hatte, nämlich: Gott ist dein Vater, Er hat dir alles durch Jesum vergeben, und du bist nun in den besten Händen. Aus dieser Gedankenreihe strahlte mir ein wunderbarer Strom der Ruhe und des Friedens entgegen. Es war wie sonniger, warmer Frühlingshauch. Ich lief hinunter in den Garten, staunte den Himmel, die Bäume, die Blumen an, alles frohlockte; Gott ist dein Vater durch Jesum, du bist nun in den besten Händen! Ich jauchzte laut. Es war der erste Lebensschrei der wiedergebornen neuen Kreatur.

Wie Jesus mir Licht gab.

Langsam lernte ich Zeugnis von der Gnade meines Heilandes ablegen, langsam beten. Wie freute ich mich nun der so lange vergessen gewesenen Gesangbuchverse und Bibelsprüche aus meinen Kindertagen! In dem Maße, als ich beten lernte, ging es auch mit meinen Nerven besser. Allmählich kehrte etwas Arbeitskraft zurück. Natürlich wollte ich in den alten Verhältnissen weiterwirken, nur sollte in alles der Name Jesus hinein. Wo hätte aber Jesus, der Gekreuzigte, Raum in modernen Kunstblättern und Literaturheftchen? Wo in Theatern, Gemäldeausstellungen und Nachtkaffees? Eher schon konnte man in freien Vorträgen zeugen. Doch merkte ich täglich deutlicher: das neue innere Leben und der äußere Lebenskreis paßten nicht zusammen. Als ich meinem vertrautesten Freunde, mit dem ich ein Jahrzehnt zusammen gestrebt und gerungen hatte, eines Tages erklärte, ich wolle nunmehr nur noch nach der Bibel leben, kündigte er mir sofort die Freundschaft. Ähnliches vollzog sich nach allen Seiten. Dazu kamen die Versuche, mich wieder vernünftig zu machen. Aber was konnte man einwenden? Nicht mehr als ich selbst wußte und früher gegen den Bibelglauben eingewendet hatte. Wo waren aber Entwicklungslehre, Philosophie und Bibelkritik geblieben? Spurlos vernichtet waren sie worden vom Hauche des lebendigen Gottes, der mich angeweht hatte mit lebenserneuernder Allgewalt. Zu diesem starken Gott schrie ich um einen Ausweg in die Zukunft, und Er erhörte mich.
Ich hatte in einer Stadt einen Vortrag über „Zola – Ibsen – Tolstoi“ gehalten und mich eben nachsinnend über das Widerspruchsvolle meiner Tätigkeit zur Ruhe niedergelegt, als ich aus der Tasche meines an der Wand hängenden Überziehers eine Schrift herausragen sah. Nachforschend fand ich: „Lebst du in der Gegenwart Gottes?“ von G. Steinberger. Ein gläubiger Student, den ich damals kennen gelernt hatte, mußte mir wohl die Schrift in die Tasche gesteckt haben. Sofort begann ich zu lesen, und während des Lesens überkam mich eine solche Flut von lichten Gottesschauern, daß ich nachher in dem dunkeln Zimmer wie in einem überirdisch erleuchteten Raume lag. Und plötzlich hieß es: „Du mußt nach R. in die Schweiz zu Georg Steinberger!“ Es war wie ein königlicher Marschbefehl. Am nächsten Abend trug mich der Schnellzug in die Schweiz.

Körperliches Unbehagen, besonders unerträgliche Zahnschmerzen und Magenschmerzen, und eine satanische Lust, die Frommen zu verhöhnen, wollten mir unterwegs wiederholt das Reiseziel verrücken. Als ich dennoch die Schwelle des Asyls in R. überschritt, kam ich mir vor wie einer, der sich lebendig hinter ewige Kerkermauern begibt. Aber ich wurde angenehm enttäuscht. Nichts von den geläufigen Kennzeichen der „Muckerei“: schierer Kopf, verdrehte Augen, verschrobene Stimmen, sondern allenthalben königliche Freiheit, praktische Natürlichkeit und eine mir so wohltuende Feierstille. Zum erstenmal in meinem Leben stand ich vor Christen, das heißt vor Leuten, die auf mich den Eindruck machten, als ob sie wirklich das lebten, was Jesus zu leben befohlen und vorgelegt hat.

Durch Jesum für Jesum.

Der Aufenthalt in R. war für mich von der allerentscheidendsten Bedeutung. Denn hätte mein beobachtendes Auge hier irgendwie Spuren der verhaßten Allerwelts-Selbstsucht oder gar der frommen Heuchelei gefunden, so wäre es um meinen jungen Glauben geschehen gewesen. Aber ich fand nichts als überströmende Liebe, kindliche Gläubigkeit und wohlgefällige biblische Lebensordnung. Das allein überwand mich, denn es zeigte mir die Kraft des Glaubens an den Gekreuzigten; es zeigte mir, daß es in dieser Welt wirklich möglich ist, ein Christ zu sein. Daran hatte ich zu allen Zeiten gezweifelt; nie hatte ich christliches Leben gesehen; darum hatte ich auch nie an die christliche Lehre geglaubt. Aber hatte mich nicht die Sehnsucht nach dem christlichen Leben zum Glauben an die sozialdemokratische oder anarchistische Gerechtigkeit und dann verzweifelt ins „Übermenschliche“ hinauf und hinaus getrieben? O, wäre ich in meiner Jugend einem „Christen“ begegnet!

Nun aber war ich bei Christen, und mein Lebensziel wurde fest, es hieß: Durch Jesum für Jesum leben; ich war wie gebadet in Klarheit und Kraft.

Herr Steinberger, der treue Bruder im Herrn, schien mein inneres und äußeres Leben mit einem Blick zu übersehen.

„Sie müssen Ihre Existenz aufgeben.“
„Das will ich auch, aber wovon weiter existieren?“
„Mein lieber Bruder, wer in Christo existiert, existiert immer. Lesen Sie den 23. Psalm!“
„Aber ich habe Frau und Kinder, und meine Frau ist nicht gläubig.“
„Das schadet nichts. Beten Sie nur für sie! Und dann geben Sie Ihren Haushalt auf und kommen so lange zu uns, bis Ihnen der Herr eine offene Tür zeigt, wie Sie für Ihn arbeiten sollen!“
„Aber berechnen Sie: ich habe Frau, zwei Kinder und -“
„Wir rechnen hier niemals (in solchen oder ähnlichen Fällen, wo Gott klar den Weg zeigt, war natürlich die Meinung). Kommen Sie nur!“

Damit war das Nächste entschieden. Sechs Wochen später zogen wir aus unserem Vaterlande, Freundschaft, Familie, Haushalt, Erwerb, Lebensstellung, in das Land, das uns Gott gezeigt hatte. Noch wenige Wochen, und das leuchtende Beispiel der lieben Geschwister in R. bewirkte, daß auch meine liebe Frau den Vater im Himmel preisen und Jesu, dem Lamme, ihr Leben geben mußte, ohne daß ein menschlicher Mund sie dazu besonders aufgefordert hätte. Und wiederum einige Monate später, nachdem mein vergangenes Leben auch vor Menschen ins Licht gekommen und Buße getan war, durfte ich schon mit ausziehen, das Evangelium im Land umher verkündend. Daß Gott mit meinem aus der Irre geretteten Leben nun anderer Leben aus der Irre retten wollte, wurde mir jetzt das Anbetungswürdigste. Wie viele Hunderte hatte ich in die Wüsteneien des Atheismus und Sozialismus gelockt, die mir wohl heute schon und einst fluchen mögen und mir als einem, der für sie verloren, vorläufig mit Bedauern die Grabrede halten! Soweit ich zurücksah, war mein Leben ein Fehl und ein Fluch gewesen; da schrie meine Seele auf: „Herr, nun laß es ein Segen werden für viele!“

Was jener unbekannte Reisende in jener Nacht meiner Jünglingszeit in Frankfurt vorausgesagt hatte, war wahr geworden, obgleich ich siebzehn Jahre lang jenes nächtliche Ereignis vergessen hatte. Wahr und sichtbar war auch geworden die rettende Gnade und Barmherzigkeit Gottes, von der ich in früher Kindheit glaubte, daß sie mich durch alles hindurchtragen werde. Sie hatte mich nun gefunden mit den Armen und dem Munde des Gekreuzigten. Keinen Betrug haben wir seitdem in diesem wahrhaftigen Munde entdecken können. Keinen Mangel hat uns der gute Hirte leiden lassen, weder im Geistlichen noch im Leiblichen. Er gab seitdem auch das Arbeitsplätzchen in Seinem Weinberg, und Er bleibt der Vollender Seines guten Werkes, bis daß Er kommt. Indes soll uns der Neukirchener Abreißkalender, der jetzt wirklich unser unzertrennlicher „Hausfreund“ geworden ist, die Gnadentage zählen, die der Ewigvater uns schenkt.

Georg Steinberger, den uns der Herr als eine so liebe Erscheinung an das Eingangstor zum Himmelreich gestellt hat, ist inzwischen heimgegangen. Aber ein Wort, das wahr geworden ist für sein Leben, und das der Unvergeßliche eines Abends, als uns vom flammenden Himmel herüber der Hauch Gottes anwehte, zu mir sagte, mag auch wahr werden für meine Tage:

„Bruder, wir wollen unser Leben wagen für das Lamm!“

Quellen:

Lesekammer

Rademacher, Andre (Hrsg.): Fritz Binde – Zeugnisse. 272 S., 2008.
Dieses pdf enthält eine Sammlung von Werken von Fritz Binde.

Eingestellt am 18. Juni 2022