Du begegnest dem Fröhlichen und denen, so Gerechtigkeit übten und auf deinen Wegen dein gedachten. Siehe, du zürntest wohl, da wir sündigten und lange darin blieben; uns ward aber dennoch geholfen. (Jesaja 64, 4 LUT 1912)
Es ist ein großer Trost, wenn man sich dessen erinnern kann, daß Gott, auch wo Schuld und große Schuld war, d e n n o c h geholfen hat.
Wenn wir freilich in der Trübsal das Gefühl haben, Gott zürne, und mache darum Seine Strafe so hart, wenn wir auch uns dessen gar gut bewußt sind, warum Er zürne, dann kann es uns bange werden und will der Muth uns ganz entschwinden. Aber man hat’s erfahren, daß Gott in ähnlichen Lagen dennoch geholfen hat, wenn man sich ernstlich zu Ihm wandte. Das ist denn ein herrlicher Trost in allen Bedrängnissen. Ja, es ist ein schönes herrliches Dennoch, daß es heißt: „Aber dennoch ist geholfen worden“.
Das muß immer wieder wahr werden, daß Gott dennoch hilft, sei die Schuld auch noch so groß. Darum sagt auch David (Ps. 103, 9f.): „Er wird nicht immerdar hadern noch ewiglich Zorn halten. Er handelt nicht mit uns nach unsern Sünden und vergilt uns nicht nach unsrer Missethat.“
Darum wollen wir den Muth zur Gnade Gottes nie aufgeben! Oft sagen die Leute, das sei das Ärgste an ihrer Trübsal, daß sie’s selber verschuldet hätten; und das ist’s, was sie ganz in Verzweiflung bringen will. Begreiflich ist es wohl, daß so das Unglück besonders schwer auf dem Menschen liegt, zumal dieser immer so gerne der Unschuldige wäre, der zum lieben Gott sagen könnte: „Warum schlägst Du mich so, der ich doch so brav bin?“
Aber vergessen wir’s nicht, daß wir Gnadenkinder seyn und als Gnadenkinder uns fühlen müssen. Darum läßts Gott oft recht herausgestellt werden, wer wir sind, damit wir um Gnade schreien lernen. Wenn Er aber unsre Sünde heimsucht, so dürfen wir ob dem, daß wir selbst schuld an allem sind, die Hoffnung nicht aufgeben, dürfen, auch wenn wir fühlen, daß Gott zürne und recht zürne, nicht denken, Er werde ewiglich zürnen und sei nicht mehr zu versühnen. Wir dürfen uns dennoch an die Gnade anklammern; und es wird nach der Erfahrung dennoch geholfen, obwohl wir selbst schuld sind, wie es eben seyn kann. Ueberhaupt ist oft das, was wir bei Gott Zorn nennen, lauter Liebe; und zuletzt wird das Erbarmen Gottes – wenn auch Anfangs langsam, doch immer mehr, so offenbar, daß nichts als Lob und Dank im Herzen übrig bleibt.
Mel. Lobe den HErren, o meine.
„Gnädig, barmherzig ist Er,“ so zeugt Er,
Geduldig und von großer Güt‘,
Immerdar hadert Er nicht und beugt Er;
Zorn hält nicht ewig Sein Gemüth.
Er handelt nicht nach unsrer Sünd‘,
Vergilt uns nicht, wie wir verdient.
Hallelujah! (Psalm 103, 8-10.)
Zusatz 1. (Dennoch Hülfe.)
Der Prophet spricht diese Worte in einem eigenthümlichen Zusammenhange aus. Er versetzt sich in eine Zukunftszeit, da für das Volk Gottes der Himmel wie verschlossen seyn, und da Gott sich gar verborgen haben würde, ohne auf das Bitten und Flehen Seiner Kinder zu achten. Man erinnere sich, wie unmittelbar sich einst der HErr Seinem Volke bezeigt hatte! Da seufzt der Prophet (Jes. 64, 1 LUT): „Ach, daß Du den Himmel zerrissest und führest herab, daß die Berge vor Dir zerflössen!“ Dabei hält er dem HErrn vor, daß Er doch in früheren Zeiten, auch wenn Er zornig gewesen sei, Sich doch habe erweichen lassen und dennoch geholfen habe. „Warum“, sagt er (Jes. 64, 11) „willst Du jetzt so hart seyn und schweigen und uns so sehr niederschlagen?“ – und vorher hatte er gesagt (63, 17): „Warum lässest Du uns, HErr, irren von Deinen Wegen und unser Herz verstocken, daß wir Dich nicht fürchten?“ So seufzt und betet der Prophet aus einer Zukunftszeit heraus, die kommen würde.
Wir wissen aber, wie Jesaja stets auf die messianischen Zeiten hin redet, und zwar nicht bloß auf deren Anfang, sondern auch auf ihren Schluß, welcher die Vollendung bringt. Auf Beides beziehen sich daher unsre Worte. Ehe Christus kam, wars wirklich so, als ob Gott ganz ferne getreten wäre, und als ob alles Flehen derer, die auf das Reich Gottes warteten, umsonst wäre. Aber endlich tat sich der Himmel auf und offenbarte sich der HErr in der verheißenen Herrlichkeit [in Christus].
In unserer Zeit aber ist’s wieder so geworden, daß der HErr in weiter Ferne zu stehen scheint, als ob Er das Angefangene zu vollenden vergessen oder aufgegeben hätte. Man sieht Verfall und Schwachheit und übermacht der Finsterniß von innen und außen in hohem Grade allenthalben; und das persönliche Bezeigen und Helfen Gottes scheint fast aufgehört zu haben. Da hat man Ursache, wieder zu beten, wie es uns Jesaja auf solche Zeit hin in den Mund legt: „Warum lässest Du uns, HErr, irren auf unsern Wegen und unser Herz verstocken, daß wir Dich nicht suchen?“ Da liegt selbst in dem der Zorn Gottes verborgen, daß Er uns nicht den Geist der Buße und der Furcht sendet; daß Er also Kräfte zur Erneuerung der Herzen, wie sie uns so nötig wäre, gleichsam vorenthält. Ein Zorn Gottes aber ist es darum, weil uns der rechte Ernst und das rechte Verlangen nach Ihm und Seinen Erweisungen fehlt, wodurch die Gesammtschuld der Christenheit, des Volkes Gottes, groß geworden ist.
Sollen wir aber nun weitere Hoffnungen aufgeben? Nein, wir nehmen den Seufzer des Propheten als einen Wink, daß wir in ähnlicher Weise seufzen und beten sollen, weil dies der Weg zu etwas Besserem ist. Wir halten uns auch wie er an die geschichtlichen Thatsachen, daß Gott, „auch wenn Sein Volk sündigte und lange darin verblieben war, dennoch geholfen hat“. Der HErr kann nicht ewiglich Zorn halten, Er kann nicht – wenn Er auch noch so viele Ursachen dazu hätte – das Weitere, das verheißen ist, aufgeben. Wir können Ihn wieder herbeibeten, wie auch der Prophet endlich Antwort bekam (Jes. 65, 1ff.). Endlich wird Er’s wieder in die Hand nehmen, wird Er sich aufmachen und Seine Gnaden und Gnadengaben in Strömen kommen lassen über Sein verlassenes, verstörtes und weit verirrtes Volk – auf den Tag der letzten Offenbarungen hin.
Quelle:
Haus=Andachten, enthaltend Kurze Betrachtungen nebst vielen Zusätzen über Losungen und Lehrtexte der Brüdergemeine, von [Johann] Christoph Blumhardt, Pfarrer. In drei Abtheilungen auf drei Monate. Zu haben in Bad Boll, für den Buchhandel bei S. G. Liesching in Stuttgart. 1868. [S. 1f.; Digitalisat]