6. Neander in Heidelberg.

Wem Gott will rechte Gunst erweisen,
Den schickt er in die weite Welt;
Dem will er seine Wunder weisen
In Berg und Wald und Strom und Feld.

E i c h e n d o r f f.

Eine der ältesten unter den deutschen Universitäten ist das am Ufer des Neckar so malerisch gelegene Heidelberg. Schon 1386 gegründet, nur etwas jünger als Prag (1348) und Wien (1365), übertraf es alle anderen deutschen Hochschulen, selbst Köln (1388), an Ehrwürdigkeit und hatte noch ein gut Stück mittelalterlicher Scholastik in seinen Mauern gesehen, bis auch hier der Humanismus die Geister überwand und in einem Rudolf Agricola, Conrad Celtes und Johann von Dalberg seine glänzenden Vertreter fand. Dann war die Reformation siegreich in Stadt und Land gezogen, hatte aber mit dem frischen Aufleben den Hader der Confessionen gebracht, dessen Ende war, daß Churfürst Friedrich III. mit dem Beinamen des Frommen (1559-1576) den gemilderten Calvinismus einführte und seine Haupt- und Universitätsstadt zur ersten Trägerin der deutschreformirten Lehre erhob.  In Folge davon entstand hier das Kleinod der deutschreformirten Kirche, der Pfälzer oder Heidelberger Katechismus (1563), verfaßt von den Professoren Caspar Olevianus und Zacharias Ursinus.  Vergebens suchte der folgende Churfürst Ludwig VI. (1576-1583) das lutherische Bekenntniß wieder einzuführen. Unter seinen Nachfolgern Friedrich IV. und Friedrich V. befestigte sich die einmal angenommene Lehre; bedeutende Lehrer, wie Hieronymus Zanchius, Abraham Scultetus, Heinrich Alting und Andre gaben der theologischen Fakultät im 17. Jahrhundert großes Gewicht und wirkten zum Theil bestimmend mit auf der Dordrechter Synode.  Nun aber trat ein unheilvolles Verhängniß ein.  Churfürst Friedrich V. nahm 1619 die böhmische Königskrone an, um sie dann bald wieder zu verlieren (1620) und sein eignes Erbland zugleich den wilden Schaaren der Spanier und Bayern preiszugeben.  Das Land wurde verwüstet, die Universität geschlossen. Erst nach dem westphälischen Frieden konnte der Sohn Friedrich’s, Churfürst Karl Ludwig, wieder in die Pfalz zurückkehren und an eine Herstellung des Zerstörten denken Aber dieser Fürst war keine große und ernste Natur, der wie der brandenburger Churfürst oder Herzog Ernst von Gotha Alles an die Heilung der Wunden seines Landes setzte. Lebenslustig, wie er war, verstieß er 1661 seine Gemahlin Charlotte, die Mutter seiner Kinder, um sich mit einer Hofdame zu vermählen, und gab dann (1671) seine treffliche Tochter Elisabeth Charlotte, auf Wunsch des begehrlichen Franzosenkönigs Ludwig XIV, dessen Bruder Philipp von Orleans in die Ehe.  Die Universität wurde zwar wieder hergestellt (1652) und ausgezeichnete Männer dazu berufen, doch absichtlich aus beiden evangelischen Confessionen.  Unter den Theologen ragten hervor Friedrich Spanheim, Sohn des gleichnamigen Professors in Leiden und Bruder des ausgezeichneten Gelehrten und Staatsmannes Ezechiel Spanheim, und Johann Ludwig Fabricius, bedeutend als Professor und Kirchenrath.

Aber neue Leiden sollten über Land und Universität hineinbrechen. Glaubte Karl Ludwig sich durch den Anschluß an Frankreich gedeckt, so erfuhr er das Gegentheil. Schon im holländischen Kriege wurde die Pfalz durch Turenne barbarisch verwüstet (1673-75), bis der brandenburger Churfürst ihr Rettung brachte.  Dann aber folgte nach seinem Tode der Orleanssche Krieg (1689-1697), in welchem Ludwig XIV. seine Ansprüche auf das Land geltend machte, und dasselbe alle Kriegsgräuel empfinden ließ.  Heidelberg wurde zweimal zerstört (1689 und 1693), die Universität wiederum geschlossen.  Ja auch nach Beendigung der Kriegsgeiße, als das Land an die Linie Pfalz=Neuburg fiel, traten neue Bedrückungen ein, da die jetzige Dynastie katholisch war und ein unglückliches Simultaneum schuf, das die Evangelischen ihrer meisten Rechte beraubte (1698). Erst 1705 erfolgte, auf eifrige Verwendung des ersten Preußenkönigs, eine Erklärung der Religionsfreiheit; aber auch jetzt blieben die Einkünfte des heidelberger „Sapienz=Collegiums“ und die Akademie überwiegend in den Händen der Jesuiten.

Heidelberg, Providenzkirche
Bild: Solaris2006, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons


In jener Zeit der ersten Wiederherstellung der heidelberger Universität unter Karl Ludwig nun traf Neander hier ein (1671). Wir sahen, er kam als Informator einiger Söhne von vornehmen Kaufleuten zu Frankfurt a. M., zugleich aber „seiner Studien halber“ (Reitz).  Als Vermittler dieser ganzen Wendung in Neander’s Leben haben wir Undereyck bezeichnet. Diese unsre Vermuthung hat darin ihren Grund, daß der Letztere früher ja Hauslehrer in Frankfurt gewesen und von daher noch Beziehungen haben konnte.  Die Namen dieser jungen Studien=Beflissenen, deren Zahl auf fünf angegeben wird, theilt Reitz nicht mit. Göbel nennt sie de Neufville und d’Orville und läßt sie nicht allein aus Frankfurt, sondern auch aus Cöln kommen.  Diese Angabe ist willkührlich. Wir wissen nur, daß Neander später seine Bundeslieder den „sehr vornehmen Handelsherren in Frankfurt a. M. und Cöln a. Rh.: Herrn Peter d’Orville Peter und David de Neufville sowie Herrn Adolf von Püll, Jakob von der Wallen und Johann le Brun“ gewidmet hat, und hieraus muß Göbel jenen Schluß gezogen haben.  Allein, es folgt aus jener Angabe eben noch nicht, daß die Söhne der Ersteren Neander’s Schüler waren, und jedenfalls spricht Reitz nur von frankfurter, nicht aber, wie Göbel sagt, auch von cölner Zöglingen. Möglich ist es ja, daß einige der genannten Namen darunter waren, da sie in jenen Gegenden, besonders in Frankfurt, damals mehrfach vorkommen.  Leider geben uns die heidelberger Universitätsakten hierüber, wie über Neander’s Aufenthalt, keinen näheren Ausschluß, da sie unter den nachfolgenden Verwüstungen der Franzosen für diese Jahre vernichtet sind.

An diesem schönen Orte führte Neander, gerade wie zuleht in Bremen, ein „eingezogen Leben“ (Reitz). Er mag sich hier freier gefühlt haben als in der Heimath, wo man ihn nicht mehr verstanden, aber das eigentliche Studentenleben zog ihn nicht mehr an. Die Verbindung mit seinem geistlichen Vater hat gewiß brieflich fortgedauert.  Sonst mußte der neue Aufschwung der Universität, der lebendige Austausch mit den Rhein- und Niederlanden ihn lebhaft interessiren.  Leider war der gelehrte Friedrich Spanheim eben vor Neander’s Kommen (1670) nach der Universität Leiden abberufen. Desto inniger schloß sich dieser an Joh. Ludw. Fabricius an; wenigstens wissen wir, daß derselbe ihn hernach 1673 der cölner Gemeinde als Prediger empfahl. Er widmete sich ganz seinen Studien, sowie der Beaufsichtigung und Unterweisung der ihm anvertrauten Zöglinge. Hier mag er mit der coccejanischen* „Bundestheologie“ genauer bekannt geworden sein, von der schon Undereyck ihm gesagt haben wird, und die nachher sein ganzes Denken beherrschte.

*) benannt nach dem holländischen Theologen deutscher Herkunft Johannes Coccejus (1603–1669)

Sie führte ihn tief in die heilige Schrift ein, von deren Gedanken und Bildern seine späteren Lieder so kräftige Zeugnisse ablegen. Aber noch ein Anderes zog ihn mächtig an. Es waren die Reize der schönen Gottesnatur. In dem gleich zu erwähnenden nachherigen Briefe an seine Zöglinge sagt er:  „studiret in dem Buch der Schrift, der Natur und in euch selbst“, eine für ihn ungemein charakteristische Aeußerung; und gewiß hat er grade das Zweite hier in Heidelberg begonnen. Bremens eintönige Umgebung konnte ihm den Sinn dafür nicht erschlossen haben. Aber hier umgab ihn eine Fülle der schönsten Gebilde. Wie oft mag er allein oder mit seinen Zöglingen die Berge und Thäler des Neckarlandes durchstreift und Gottes Werke angestaunt haben! Hier wurde gewiß der Grund gelegt zu seinen lieblichen Naturliedern, die einen der schönsten Theile seiner späteren Gedichte bilden. An dieser Stätte lernte er singen:

Ich sehe dich, o Gottes Macht allhie;
Verwundre mich, o Herr, in deinen Werken,
Die du mir lässest mannigfaltig merken;
Fußtapfen deiner Liebe zeigen sie.   (Nr. 43, 1.)

Wer (wie auch der Verfasser dieses Buches) das Glück gehabt, in Heidelberg einen Theil seiner Studienzeit hinzubringen, dem müssen unvergeßliche Eindrücke davon im Gemüthe haften; er weiß, was Neander dort sah und kann’s ihm nachempfinden.  Damals freilich erhob sich noch das Schloß über der Stadt in stolzer Herrlichkeit, das zwei Jahrzehnte hernach durch die Barbarei der sogenannten civilisirtesten Nation in Trümmer zerfallen sollte, um noch heute jedem Wanderer von den schlimmsten Tagen deutscher Erniedrigung zu erzählen.

Wie aber der junge Gottesgelehrte sein reiches Innenleben aus der Schrift und der Natur ernährte, so wußte er auch seine Zöglinge in dasselbe hineinzuziehen. Sie wurden, wie er sagte, die erste Frucht seiner Arbeit. Mit fast schwärmerischer Innigkeit hingen Lehrer und Schüler aneinander, es bildete sich unter ihnen ein geweihter Bund auf heiligster Grundlage.  Hiervon giebt uns ein Brief Zeugniß, den der Erstere wenige Jahre hernach (1675) von Düsseldorf aus an sie richtete. *)

*)  Er steht bei Reitz und ist vielfach abgedruckt.

Er ist neben den Liedern und deren Vorreden das Einzige, was wir aus Neander’s Feder besitzen, und verdient um so mehr hier vollständig mitgetheilt zu werden.

Seine Worte lauten:

„Gnade, Friede und Barmherzigkeit von Gott unserm Vater und dem allerliebsten Herrn Jesu Christo durch Kraft des heiligen Geistes.  Amen!

Werthe und in unserm Seligmacher gewünschte Freunde, auch (wenn ihr Christi Fußtapfen noch nachfolget, wie ich festiglich hoffe) angenehme Brüder!

Meine Liebe die ich stets zu ihnen (euch) Allen trage, und die Liebe Christi, die mich dazu dringt, erfordert, daß ich auch im Abwesen euer nicht vergessen kann. Ihr seid die erste Frucht meiner Arbeit in Schwachheit an euren Seelen, durch die Kraft Jesu Christi geschehen. Gott hat mich bei euch einige Jahre haben wollen zu Heidelberg, um den Weg zum Himmel euch zu zeigen. Werthe Brüder!  ich meine euch Alle vor diesem herzgeliebte fünf discipulos, euch meine ich: seid doch beständig in alle dem, davon eure zarten Gemüther sind überzeugt.  Folget eifrig nach Jesum Christum in seinem weltverschmähenden und sich selbst verachtenden Leben!  Jesus wird eure Ehre, eure Krone und euer Schild und sehr großer Lohn alsdann sein. Ach, um eurer Seligkeit willen, ich bitte euch im Namen Gottes: Habt nicht lieb die Welt, noch was in der Welt ist, als Augenlust, Fleischeslust, und hoffärtiges Leben. Denn die Welt vergeht wie ein Schatten.  Das Schema dieser Welt, wie es Paulus nennet, hat kein rechtes Wesen; es ist ein Traum, eine Nachtwache, ein Nichts!   O lieben Freunde, gedenket früh daran! Gedenket an euren Schöpfer in der Jugend, ehe daß die bösen Tage kommen und ihr sprechen werdet: sie ge fallen mir nicht! Fliehet die Lüste der Jugend, die auf den Akademien leider herrschen, jaget aber nach der Gerechtigkeit, dem Glauben, der Liebe, dem Frieden mit Allen, die den Herrn anrufen von reinem Herzen!  Insonderheit bitte ich noch dieses, daß ihr euch entschlaget der unnützen Schulgeschwätze, davon Viele in den ersten Jahren auf den Akademien verführet worden. Paulus sagt nicht vergebens Col. 2, 8:  „Sehet zu daß euch Niemand beraube durch die Philosophia und lose Verführung nach der Menschen Lehre, und nach der Welt Satzungen, und nicht nach Christo.“

[….]

Den Aufenthalt Neander’s in Heidelberg haben wir uns nicht als ganz kurz vorzustellen, da er selbst in jenem Briefe einige Jahre dafür angiebt. Bei dem Fehlen der dortigen Matrikelbücher (von 1662-1703) sind wir auf eigene Muthmaßungen angewiesen.  Danach scheint uns die Zeit vom Frühjahr 1671 bis zum Herbst 1673 am besten mit dem Uebrigen zu stimmen. Neander wird diese Zeit in der angegebenen Weise treulich benutzt haben. Jetzt näherte sie sich ihrem Ende. Neander hatte sich hinlänglich lange auf Universitäten aufgehalten. Er war jetzt 23 Jahre alt und mochte sich nach einer größeren praktischen Thätigkeit sehnen,als er sie unter seinen Zöglingen bisher geübt. So geleitete er diese in ihre Vaterstadt Frankfurt zurück, woselbst ihm aber noch ein sehr anregender Aufenthalt für kürzere Zeit geboten werden sollte

Quelle:

Joachim Neander. Sein Leben und seine Lieder.  Auf Veranlassung seines 200. Todesjahres  nach  b e k a n n t e n  und  n e u e n t d e c k t e n  Quellen bearbeitet von J. Fr. Ikon, Pastor in Bremen, Mit einem Bildnisse Neander’s. Bremen 1880. C. Ed. Müller’s Verlagsbuchhandlung. [S. 86-96 / Digitalisat]


Eingestellt am 26. November 2024