Seid niemandem etwas schuldig, außer daß ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt. (Römer 13, 8)
Jede Rechtspflicht läßt sich erfüllen. Denn es gibt keinen Menschen, der so über mich Herr wäre, daß ihm mein ganzes Leben und meine ganze Kraft gehörte. Der Anspruch, den ein Mensch an mich hat, ist immer begrenzt. Ich kann ihn daher befriedigen und ihm bezahlen, was er von mir zu fordern berechtigt ist.
Aber über dem Recht steht die Liebe und sie hat kein Maß. Ihr Anspruch endet nicht, verpflichtet immer neu und füllt mir jeden Tag wieder frisch mit ihrem Werk. Man liebt nie genug. Weil die Liebe nicht aufhören kann, ist sie größer als das Recht; sie ist aber nicht gegen das Recht, sondern erfüllt das Gesetz. Das ist das allererste, was sie tut. Sie schafft vor allem Gerechtigkeit und gibt dem anderen das, was ihm gehört. An dieser Stelle scheiden sich die unechte und die echte Liebe. Wenn ich dem anderen im Namen der Liebe zumute, daß er auf sein Recht verzichte, so habe ich mit häßlicher Unwahrhaftigkeit meinen Eigennutz mit dem Namen „Liebe“ verschönt. Was tut denn die Liebe? Nimmt sie oder gibt sie? Sie gibt. Sie gibt dem anderen seine Ehre und erniedrigt ihn nicht. Sie hilft ihm, zu erwerben, und saugt ihn nicht aus. Wie sie ihm seinen natürlichen Besitz sichert, so schützt sie auch sein geistiges Eigentum.
Sie raubt dem anderen nicht den eigenen Willen und verbietet ihm die eigene Überzeugung nicht. Sie hält ihre Hände rein von aller Gleichmachtung; denn sie ist das Kind der Freiheit und kann deshalb nicht knechten, sondern befreit. Sie sinkt nicht unter das Gesetz hinab, sondern bewegt sich nach oben und fährt über das Gesetz hinauf und ist mit dem, was das Gesetz verlangt, noch nicht zufrieden, weil sie nach der ganzen Gemeinschaft begehrt. Das ist ihre Art, die ihr nicht fehlen kann, weil sie mein eigener Wille ist, nicht von außen in mich hineingetragen, nicht von einer fremden Macht mir auferlegt, sondern meines eigenen Ichs innerste Bewegung, eins mit meinem Leben und darum in mir vorhanden, solange ich lebendig bin.
Weil du, Vater, uns die Liebe gibst, gönnst du uns einen Blick in deine Herrlichkeit. Die Liebe hört in uns nicht auf; denn sie endet nicht in dir. Sie hat in dir die Fülle, aus der Gnade um Gnade zu uns kommt, den nie erschöpften Reichtum, der Ewigkeiten mit immer neuem Leben füllt.
Amen.
Quelle:
▲ Übersicht Römerbrief ► Römer 13