Drei schwäbische Charakterköpfe aus dem württembergischen Pietismus

Drei schwäbische Charakterköpfe aus dem württembergischen Pietismus.
Von Albert Landenberger, Kirchheim u. T.

In meinen Evangelischen Lebensbildern aus Schwaben in vier Jahrhunderten“ (erschienen 1904 in Leipzig, U. Deicherts Nachf.)  habe ich verschiedene Bilder aus dem religiösen Leben der evangelischen Kirche Württembergs in den letzten vier Jahrhunderten vom Zeitalter der Reformation an bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, in einem Rahmen zu vereinigen versucht.  Die meisten der dort geschilderten Charaktere waren schwäbische Theologen, wenn sie oft auch auf anderen Gebieten hervorragende Rollen gespielt haben; aber auch Rechtsgelehrte, Staatsmänner und Kriegshelden, lauter Träger eines und desselben Geistes, voll aufrichtiger warmer evangelischer Frömmigkeit und weitherziger liebevoller Gesinnung, waren darin aufgenommen. Ein in mannigfacher Hinsicht verwandtes und doch wieder verschiedenes Unternehmen ist die fast gleichzeitig erschienene Zusammenstellung von Bildern aus dem kirchlichen Leben Württembergs im 19. Jahrhundert von Friedrich Buck (Calw und Stuttgart 1905, Vereinsbuchhandlung), eine Schrift, die dem größeren Gesamtwerke „Württembergische Völker“ angehört.  Dieses Werk behandelt vor allem die Geschichte des württembergischen Pietismus, der theologischen Führer und der aus diesen Kreisen hervorgegangenen Missionare, sodann die mannigfachen religiösen Gemeinschaften mit ihren verschiedenen Gruppen und zuletzt die beiden heute noch blühenden Brüdergemeinden in Korntal und Wilhelmsdorf.  Es ist bekannt, wie besonders seit dem Revolutionsjahr 1848 der Pietismus vor allem durch den weitreichenden Einfluß des Stuttgarter Prälaten v. Kapff eine Macht in der württembergischen Landeskirche geworden ist.  Auch die Tübinger theologische Fakultät konnte sich seinem Einfluß zeitweise nicht ganz entziehen. Der Missionssinn und die rege Betätigung an Werken humaner und christlicher Menschenliebe war in diesen Kreisen des Pietismus von Anfang an zu Hause.

Wohl zeigten sich auch hier verschiedene Richtungen; das Bestreben, freie Gemeinden und Schulen zu gründen und die eigene Volkskirche darüber verloren zu geben, trat besonders in den Männern des „Salon“ (Schloß in der Nähe von Ludwigsburg gelegen) längere Zeit hervor.  Dagegen sammelten sich die konservativen und kirchlichen Elemente unter der Führung Kapffs und seiner Freunde, indem sie für die bewährten Ordnungen in Staat und Kirche eintraten und sich eine gewisse brüderliche Weitherzigkeit wahrten.

Drei derselben haben gerade jetzt vor 100 Jahren das Licht der Welt erblickt, Wilhelm Hofacker, D. Sixt Kapff selbst und Johann Christoph Blumhardt. Alle drei standen sich innerlich nahe, da sie alle dem Boden des schwäbischen Pietismus entstammten und im Tübinger Stift gleichzeitig ihre theologische Ausbildung erhielten. Jeder von ihnen hatte aber wieder seine besonderen individuellen Züge und sein originelles Gepräge.

Wilhelm Hofacker, geboren am 16. Februar 1805 in Gärtringen bei Herrenberg, der Bruder des noch berühmteren, früh verstorbenen Erweckungspredigers Ludwig Hofacker, dessen Predigten heute noch weit über die Grenzen Schwabenlandes hinaus viel gelesen werden, hat zuerst als Stadtpfarrer in Waiblingen und vom Jahre 1835 an als Geitlicher an der Leonhardtskirche in Stuttgart durch Predigt und Seelsorge einen tiefen Einfluß ausgeübt.  Er nahm trotz seiner ungeheuren Arbeit (er hatte zuletzt über 7000 eingeschriebene Beichtkinder) an allen Bewegungen des öffentlichen, besonders des religiösen und kirchlichen Lebens regen Anteil. Das Erscheinen des Straußschen Lebens Jesu im Jahre 1835 rief gerade zwischen dem Hegeltum und dem Pietismus die heftigsten Kämpfe hervor, an denen sich Hofacker in vorderster Linie beteiligte. Die Schrift von Diakonus Märklin in Calw, dem Freunde von David Strauß, „Darstellung und Kritik des modernen Pietismus“, wurde von Hofacker in einer besonderen Gegenschrift, „Bekenntnis und Verteidigung“, beantwortet. Auch mit dem Aesthetiker Vischer kam er wegen dessen akademischer Antrittsrede in Tübingen im Jahre 1844 zu energischen Auseinandersehungen.  Die Erregung in christlichen Kreisen war damals so groß, daß die württembergische Regierung sich gedrängt sah, Vischer auf 2 Jahre von seinem Lehramt zu entlassen:  Im Revolutionsjahre 1848 trat Hofacker durch seine Predigten mit besonderer Wucht für die konservativen und christlichen Anschauungen ein, starb aber, schon lange körperlich leidend, am 10 August 1848. Eine ungeheure Menge Volks stand tief ergriffen an seinem Grabe. Sein Amtsgenosse, der Dichter Albert Knapp, rief in seiner Leichenrede damals aus:  Ich darf das alte Wort Davids auf dieses selig verschwisterte Bruderpaar anwenden: „Ludwig und Wilhelm Hofacker, lieblich im Leben, sind auch im Tode nicht geschieden, leichter denn die Adler und stärker denn die Löwen!“

Fast noch bekannter als Hofacker ist der zweite aus dieser Reihe geworden.  Am 16. Juli 1805 ist in Johann Christoph Blumhardt einer der merkwürdigsten, originellsten und edelsten Männer, den das Schwabenland hervorgebracht hat, in Stuttgart zur Welt gekommen, eine schwäbische Kernnatur voll Güte und Wohlwollen, voll Geist und Kraft, aber auch voll Demut und Uneigennützigkeit, mit einem Herzen voll Liebe und unauslöschlicher Hoffnung.

Mannigfache Gegensätze haben sich bei ihm zur ungesuchten Harmonie vereinigt. Noch heute sind über seine Heiltätigkeit und die große, von ihm einst in seiner Gemeinde Möttlingen im württembergischen Schwarzwald ins Leben gerufene Erweckung, wie über seine spätere, im Bad Boll ausgeübte umfassende Wirksamkeit an Leidenden und Kranken aller Art die Anschauungen verschieden.  Aber wer ihn persönlich gekannt hat als einen Mann voll edler Weitherzigkeit und Milde, von unermüdlicher, vielseitiger Arbeit, als liebevollen Kinderfreund und hochherzigen Wohltäter, voll von freudigem Optimismus, der fühlte sich erquickt durch seine gewinnende Liebe und seine packende Persönlichkeit.  Hilty, der bekannte Schriftsteller, hat ihn auch einen der gescheitesten Männer genannt, die er in Europa kennen gelernt habe. Vielen erschien er als ein apostolischer Mann; man fühlte sich bei ihm über die Jahrhunderte zurück in die Zeiten der Bibel versetzt.  Er starb den 25. Februar 1880, mit Segensworten auf seinen Lippen. Sein Lebens= und Charakterbild, von dem Schweizer Geistlichen Zündel herausgegeben, ist seither in wiederholten Auflagen erschienen.

Der dritte im Bunde, wohl der hervorragendste Vertreter des württembergischen Pietismus, ist D. Sixt Karl Kapff, geboren am 22. Oktober 1805 in dem Städtchen Güglingen. Als Geistlicher an der separierten Gemeinde Korntal vom Jahre 1832 an, als Dekan in Münsingen und Herrenberg vom Jahre 1843 bis 1850, und dann als Prälat und Generalsuperintendent von Reutlingen, später noch als Stiftsprediger in Stuttgart, hat er einen sich immer mehr geltend machenden Einfluß auf das religiöse Leben Württembergs ausgeübt, hochgeehrt von seinen Anhängern, viel bekämpft und angegriffen von seinen zahlreichen Gegnern.  Im Konsistorium bildete er das persönliche Band zwischen der Oberkirchenbehörde und den zahlreichen kirchlichen Gemeinschaften des Landes. Durch seine Predigt und seine Tätigkeit in der Kammer, seine Mitwirkung auf den Kirchentagen, wo er eine hervorragende Rolle spielte, seine Arbeiten der Zentralleitung des Wohltätigkeitsvereins und in der Eisenacher Konferenz evangelischer Kirchenregierungen, ferner durch seine ungeheure Seelsorge (man schätzte die Zahl seiner jährlichen seelsorgerlichen Besuche auf gegen 3000) wie Durch jeine christliche Vereinswirksamkeit stand er längere Zeit an der Spitze der „Rufer im Streit“.  Als er den 1. September 1879 starb, hat ihm sein Freund Prälat Karl Gerok die treffliche Leichenrede gehalten.  Noch heute lebt sein Gedächtnis im Herzen seiner ehemaligen Zuhörer und in den ihm geistesverwandten Kreisen in ungeschwächter Erinnerung fort. Sein Sohn hat des Vaters Lebens= und Charakterbild uns in einer weit verbreiteten Biographie geschildert.  So bildet dieses Kleeblatt dreier hervorragender Geistlicher Württembergs ein charakteristisches Bild jener Zeit überhaupt und des württembergischen kirchlichen und religiösen Lebens insbesondere.  Der schwäbische Pietismus ist aber trotz mancher Einseitigkeiten und Herbigkeiten, die er manchmal an sich trägt, nicht nur eine der wichtigsten, sondern auch eine der achtungswertesten Eigentümlichkeiten des württembergischen Volkes. Er ist mit den tiefsten Wurzeln so sehr in weite Kreise des Volkslebens verwachsen, daß er dem Schwabenlande in manchen Gegenden sein besonderes Gepräge mit unauslöschlichen Zügen aufgeprägt hat.

Quelle: Beilage zur allgemeinen Zeitung, Jahrgang 1905, Nummer 229. München, Mittwoch 4. Oktober, Seite 20. [Digitalisat]


Eingestellt am 31. Dezember 2024