Hast du die Schattenpflänzchen gesehn,
die unbeachtet am Wege stehn,
verstaubt, zertreten und unbekannt?
Kein freundlicher Blick, keine helfende Hand,
kein Sonnenleuchten, das sie erquickt —
so stehen sie einsam, stumm und geknickt.
Wenn andere lachend vorübergehen,
sie bleiben immer im Schatten stehen.
Das Leben ist wie ein schwerer Traum,
und was sie leiden — man ahnt es kaum!
Ihr Schattenpflänzchen, hört auf zu weinen,
die „Gnadensonne“ soll hell euch scheinen,
was oft ihr im Herzen so heiß begehrt:
der Platz an der Sonne sei euch gewährt!
Die arme Alte, gebeugt von Last,
in Mühsal, Kummer, in Druck und Hast,
umhergestoßen, weil stets im Wege,
in kranken Tagen kein bißchen Pflege:
nur immer Arbeit in harter Not,
und ohne Liebe ein Stücklein Brot
soll es so bleiben die Lebenszeit?
Der Weg zum Grabe ist nicht mehr weit.
Kommt, laßt uns sie in die Sonne tragen!
Im hellen Stübchen verstummen die Klagen.
Da dürfen die müden Hände ruhn
und lassen andre die Arbeit tun.
Der Armstuhl wird an das Fenster gerückt,
damit sie die wärmende Sonne erquickt.
Der Vogel singt, und die Blume blüht,
und durch die Seele ein Ahnen zieht:
ist’s hier so schön schon, dann glaube ich —
Gott ist die Liebe — er liebt auch mich!
Und dann die Blinden, die ohne Licht
auf Erden wandeln. Sie sehen nicht
die grünen Felder, den Himmel blau,
nicht die mit Blumen bedeckte Au‘.
Trüb ist ihr Leben und oft recht schwer,
so ausgeschlossen und freudenleer.
Und dann noch die Sorge ums tägliche Brot,
der Kampf um das Dasein, die bittere Not!
Doch sehn sie auch niemals der Sonne Schein,
die Gnadensonne dringt doch hinein,
tief in die Seele mit stillem Leuchten,
daß sich vor Freude die Augen feuchten.
Drum sei auch ihnen ein Plätzchen beschieden
im Hause der Liebe, in Gottes Frieden.
Und was es sonst noch an Elend gibt
krank an der Seele und ungeliebt,
am Körper siech und die Glieder voll Schmerz,
dazu ein verbittertes, trauriges Herz!
Wie nötig sind da der Schwester Hände!
Sie machen dem Jammer bald ein Ende.
Da wird das Lager so weich gemacht,
daß der Körper Ruhe findet bei Nacht.
Ein freundliches Auge, ein tröstender Mund,
da schmilzt dann das Eis in des Herzens Grund.
Die Bitterkeit und der Trübsinn muß fliehen
und Friede und Freude die Seele durchziehen.
Ein stilles Leuchten, ein dankbarer Blick
gibt all die erfahrene Liebe zurück.
Das kann nur ein Wunder der Gnade sein:
Christus, die Sonne, leuchtet hinein,
vertreibt das Dunkel und bringt das Licht,
legt stillen Frieden aufs Angesicht.
Erlöst — errettet — vom Kummer befreit
und nach der Erde mit ihrem Leid
die große Hoffnung aufs ewige Leben —
was kann es Schön’res hienieden geben?
Eva von Thiele-Winckler (1866-1930)
Quelle: Alte Lieder – Soli Deo Gloria