«Mit meiner Seele habe ich deiner begehrt des Nachts» (Jesaja 26, 9)
Die Nacht scheint die Zeit zu sein, die für die Andacht besonders günstig ist. Ihre feierliche Stille hilft, das Gemüt von dem Geräusch der es umgebenden Sorgen der Welt zu befreien; und die Sterne, die vom Himmel auf uns herabschauen, funkeln, als ob sie uns zu Gott emporziehen wollten. Ich weiß nicht, wie ihr durch die feierliche Stille der Mitternacht gestimmt werdet, ich wenigstens, wenn ich allein war und über den großen Gott und das große Weltall nachdachte, hatte die Empfindung, daß ich ihn in Wahrheit anbeten konnte. Denn die Nacht umher ausgebreitet erschien mir als ein Tempel zur Anbetung Gottes, und der Mond als Hohepriester wandelnd in der Mitte der anbetenden Sterne, und ich stimmte ein in jenes stille Lied, das sie Gott darbrachten in den Worten:
«Groß bist du, o Gott! groß in deinen Werken. Wenn ich deine Himmel ansehe, das Werk deiner Finger, den Mond und die Sterne, die du bereitest. Was ist der Mensch, daß du sein gedenkst, und des Menschen Kind, daß du dich seiner annimmst?» (Psalm 8, 1-4).
Ich habe auch schon bemerkt, daß dieses Gefühl von der Gewalt der Mitternacht nicht bloß auf fromme Gemüter einwirkt, sondern auch sogar auf ungläubige Menschen, die sonst weit geistlichem Nachdenken entfremdet sind. Auch sie scheinen durch die Macht und Stille der Nacht zu Gott emporgezogen zu werden. Wohl werden auch manche von uns, wie David, sagen können:
«Ich denke immer an dich, ich betrachte deinen Namen in den Nachtwachen, und mit Sehnsucht habe ich deiner begehrt des Nachts.»
Doch, ich will jetzt nicht von der äußeren Nacht reden, sondern will zeigen, was nach meiner Ansicht unser Text zu bedeuten hat. Ich werde erstens zu befestigten Christen reden, die sich in Dunkelheit befinden, und zweitens zu neu erweckten Seelen, die Gott in der Dunkelheit gesucht haben, und noch suchen.
I.
Ich rede also zuerst zu den befestigten Gläubigen. Der erste Punkt, den ich aus unserem Text ableiten will, ist die gewiß bereitwillig zugegebene Wahrheit, daß einem Christen nicht immer die heitere Sonne leuchtet, sondern daß es auch Zeiten der Dunkelheit und der Nacht für ihn gibt.
Wohl steht in Gottes Wort geschrieben: «Die Wege der Gottseligkeit sind angenehme Wege, und alle ihre Pfade sind Friede» (Sprüche 3, 17), und es ist eine große Wahrheit, daß die wahre Religion des lebendigen Gottes den Menschen hier unten glücklich und dort oben selig machen will. Aber dem ungeachtet lehrt die Erfahrung, daß, wenn auch der Weg des Gerechten ist «wie ein scheinend Licht, das mehr und mehr leuchtet bis zum vollen Tage» (Sprüche 4, 18), doch auch dieses Licht zuweilen verdunkelt wird. Zu gewissen Zeiten ist die Sonne von Wolken und Finsternis bedeckt, man sieht keinen hellen Schein, und man wandelt in Finsternis und sieht kein Licht. Auf ähnliche Weise sind manche Christen eine Zeitlang in der Nähe Gottes fröhlich gewesen, sie haben sich gewärmt in dem Sonnenschein, den ihnen Gott auf ihrer früheren Laufbahn verliehen hat; sie haben lange gewandelt «auf der grünen Aue» und «bei dem stillen Wasser» (Psalm 23, 2), aber plötzlich finden sie, daß der herrliche Himmel umwölkt ist; anstatt «der grünen Aue» müssen sie nun eine Sandwüste betreten; anstatt «der frischen Wasser» finden sie Ströme, die salzig für ihren Geschmack und bitter für ihre Empfindung sind, und sie sagen: «Gewiß, dies würde mir nicht begegnen, wenn ich ein Kind Gottes wäre!»
Aber du, der du in Dunkelheit wandelst, sprich nicht also! Die edelsten Heiligen Gottes haben ihre Nächte; seine teuersten Kinder müssen durch eine schreckliche Wildnis wandeln. Es gibt keinen Christen, der immerwährende Seligkeit genossen hätte; es gibt keinen Gläubigen, der stets einen Freudengesang anstimmen könnte.
Der König der Heiligen gab dir etwa im Anfang eine Zeit großer Freude, weil du noch ein neugeworbener ungeübter Krieger warst, und weil er dich nach deiner ersten Anwerbung nicht dahin stellen wollte, wo die Schlacht am ungestümsten war. Du warst eine zarte Pflanze, die er im Treibhause pflegte, bis sie strengere Witterung ertragen konnte. Du warst noch ein junges Kind, und deswegen hüllte er dich in Pelzwerk ein und bekleidete dich mit dem weichsten Mantel.
Aber jetzt bist du stark geworden, und die Sache steht anders. Wie die Soldaten, so haben auch die Christen nicht immer Rasttage. Zur Übung unseres Glaubens sind uns Wolken und Dunkelheit notwendig, um alles Selbstvertrauen auszuschließen, und um uns zu veranlassen, daß wir unser Vertrauen mehr auf Christum setzen, als auf unsere Erfahrungen, Beweisgründe, Gemütsstimmungen und Gefühle. Zum Trost derer, die an Niedergeschlagenheit des Geistes leiden, wiederhole ich es noch einmal, daß die edelsten Kinder Gottes ihre dunkeln Zeiten haben. Oft ist es Nacht über der ganzen Kirche zumal, und ich fürchte, gerade gegenwärtig haben wir sehr viel von dieser Nacht.
Es gibt Zeiten, in denen Zion unter einer Wolke ist, wo das feine Gold dunkel aussieht, und die Herrlichkeit Zions dahin ist. Es gibt Zeiten, wo man die lautere Predigt des Wortes nicht hört, wo der Name von Jakobs Gott nicht erhöht wird, und wo man statt der Eingebungen des Heiligen Geistes Menschensatzungen verkündigt. In solchen Zeiten ist es in der Kirche dunkel, und natürlich nimmt jeder Christ daran Anteil. Er geht umher mit Weinen und Rufen: «O Gott, wie lange soll das arme Zion darniederliegen? Wie lange sollen ihre Hirten stumme Hunde sein, die nicht bellen können? Sollen ihre Wächter immer blind sein, und soll die Stimme des Evangeliums nicht gehört werden auf ihren Straßen?» (Jesaja 56, 10).
Zu anderen Zeiten bringen äußere Nöte eine Dunkelheit über die Seele eines Christen. Er kann in Unglück, wie man es nennt, geraten sein. Seine Geschäfte stocken, oder ein Feind ist gegen ihn aufgestanden; der Tod hat ihm ein liebes Kind oder einen teuren Gatten von der Seite gerissen; die Ernte ist mißraten; ein Schiff ist gescheitert oder ist versunken; alles mißlingt, und es geht ihm, wie einem Herrn, der mich diese Woche besuchte und der mir erzählte, daß er als Weltmann weit mehr Glück gehabt habe, als jetzt, nachdem er ein Christ geworden sei, denn seit seiner Veränderung mißlinge ihm alles, da er doch geglaubt habe, «die Gottseligkeit habe die Verheißung dieses und des zukünftigen Lebens» (1. Timotheus 4, 8). Ich erwiderte ihm, daß die Gottseligkeit allerdings diese Verheißung habe, die sich auch am Ende so verwirklichen werde, aber er müsse die von Christus seinem Volke hinterlassene Stiftung nicht vergessen, wonach es heißt: «In der Welt habt ihr Angst, aber in mir werdet ihr Frieden haben» (Johannes 16, 33). Allerdings kann ein Christ angefochten und versucht werden, zu sagen: «Sehet diesen und jenen, wie er sich ausbreitet gleich einem grünen Lorbeerbaum. Er ist ein Wucherer und Bösewicht, und dennoch gelingt ihm alles, und selbst in seinem Tode hat er keine Not.» – «Sie sind nicht in Unglück wie andere Leute, und werden nicht wie andere Menschen geplagt» (Psalm 73, 5).
Aber Geliebte! Ihr seid diesen Morgen in dieses Heiligtum Gottes gekommen, und sollt nun ihr Ende verstehen lernen. «Gott hat sie aufs Schlüpfrige gesetzt, und stürzt sie endlich zu Boden» (Psalm 73, 18).
Es ist besser, wenn man mit einem Christen Leidenstage hat, als mit einem Weltmenschen Tage der Lust und Freude. Es ist seliger, mit einem Paulus im dunkeln Kerker in Ketten zu liegen, als mit einem Ahab in einem Palast zu herrschen. Lieber sei du ein Kind Gottes in der Armut, als ein Kind des Satans im Reichtum. So sei denn getrost, du niedergedrückte Seele, in dieser deiner Prüfung! Gedenke, daßmes vielen Heiligen also ergangen ist, und daß die edelsten und ausgezeichnetsten Gläubigen ihre Dunkelheiten gehabt haben.
«Aber», sagt ein anderer, «Sie haben meine Dunkelheit nicht beschrieben. Es geht mir in meinen Geschäften nicht gerade übel; und wenn auch, so würde ich mich nicht darum bekümmern; aber ich befinde mich in geistlicher Dunkelheit. Ich habe jetzt keinen einzigen Beweis mehr, dass ich ein Christ bin. Ich weiß, daß ich ein Kind Gottes war, aber ein Etwas sagt mir, daß ich jetzt keins von den Seinigen bin. Es gab eine Zeit, wo ich dachte, ich verstünde etwas von Gott und Gottseligkeit, aber jetzt bezweifle ich meinen Teil und mein Los in dieser Sache. Der Teufel flüstert mir ein, daß ich in ewigen Flammen bleiben müsse. Es ist keine Hoffnung für mich. Ich fürchte, ich bin ein Heuchler. Ich denke, ich habe die Kirche und mich selbst betrogen. Beim Betrachten des göttlichen Wortes finde ich für mich keine Verheißung, und wenn ich auf mein Inwendiges schaue, so ist gräuliches Verderben vor mir. Während andere mich loben, muß ich mich aller Arten von Sünden und Verderben anklagen. Ich würde nie gedacht haben, daß ich halb so verderbt wäre.
Ich fürchte, es war nie ein Werk der Gnade in meinem Herzen, sonst könnten nicht so viele arge Gedanken, so viele unreine Begierden, so viel Stolz, so viel Selbstsucht und Eigenwille in mir vorhanden sein. Ich fürchte, ich bin kein Kind Gottes.»
Nun, dieses alles beweist gerade, daß du zu Gottes Kindern gehörst, denn Gottes Kinder müssen durch Dunkelheiten hindurchgehen, und sie haben ihre kummervollen Nächte. Es ist mir lieb, wenn ich jemand also reden höre, obwohl ich nicht wünsche, daß er immer diese Sprache führt. Er muß auch zu der Freiheit gelangen, womit ihn Christus befreit hat. Doch ich weiß, dass der Geist oft in Banden gehalten wird, und daß es Zeiten gibt, wo auch ich meine Erwählung in Jesu Christo und meine Kindschaft nicht beweisen könnte. Es gibt Stunden, wo ich das geringste Lamm, das unter des Herrn Herde ist, für tausendmal geförderter erachten muß, als mich selbst; wo ich alles, was ich habe, daran geben würde, wenn ich auf die unterste Bank im Himmelreich mich setzen, und nur wissen dürfte, daß ich darin wäre. Ich glaube auch, daß es nie einen Christen gab, der nicht zuweilen an seinem Anteil an Christo gezweifelt hätte, und ich denke, daß, wenn jemand sagt: «Ich habe nie einen Zweifel», es gerade die Zeit ist, wo wir seinethalben in Zweifel geraten und sagen müssen: «O arme Seele, ich fürchte, du bist gar nicht auf dem Wege, denn wenn du es wärest, so würdest du so viele verkehrte Dinge in dir sehen und so viel Herrlichkeit in Christo erblicken, daß du dich deiner schämen und sagen müßtest: Das ist zu gut für mich, als daß es wahr sein könnte.»
So ist es also erfahrungsmäßig wahr, daß Christen sehr oft ihre Dunkelheiten haben.
Der zweite Punkt, den ich erwähnen will, ist der, daß die Gottseligkeit eines wahren Christen ihre Gestalt und Farbe auch in der Dunkelheit nicht verliert. «Mit meiner Seele habe ich deiner begehrt des Nachts.» Wie viel versilberte Religion gibt es in derWelt! Man will Christo nachfolgen, wenn jedermann «Hosianna! Hosianna!» ruft. Die Leute drängen sich um ihn her, wollen ihn gewaltsam nehmen und zum König machen, wenn die Sonne scheint und sanfte Winde wehen.
Sie sind wie die Pflanzen, die auf einem Felsen schnell wuchsen und eine Zeitlang grünten, aber sogleich verwelkten, als die Sonne mit ihrer Hitze auf sie schien. Demas und Herr-Halt-die-Welt und viele andere sind sehr fromme Leute in ruhigen Zeiten. Sie wollen nur bei Tageslicht Christo nachfolgen und nur solange mit ihm Gesellschaft pflegen, solange die Mode der Religion den zweifelhaften Vorteil gewährt. Aber in der Nacht wollen sie nicht mit ihm gehen. Es gibt gewisse Dinge, deren Farbe man nur bei Tag sehen kann, und so läßt sich die Gestalt vieler Bekenner nur beim Licht des Tages erkennen. Wenn sie in der Nacht der Not und der Verfolgung wären, so würde man sehr wenig Wesenhaftes an ihnen finden.
Aber Geliebte! wißt ihr nicht, daß die Nacht der beste Probetiegel eines Christen ist? Wenn ein Christ nur beim Tageslicht standhaft wäre, wo ein jeder Feigling mutig sein kann, so wäre keine Schönheit an seinem Mut und keine Herrlichkeit in seiner Tapferkeit. Aber daß er in der Nacht singen kann, singen in den Nöten, und selbst wenn er der Verzweiflung nahe ist, das beweist seine Lauterkeit. Und wie die Sterne nicht sichtbar sind am Tage, aber alsbald erscheinen nach Sonnenuntergang, so gibt es manchen Christen, dessen Frömmigkeit dunkel war im Glück, aber hell leuchtete in Widerwärtigkeit. Durch nichts kann daher unsere Religion mehr offenbar werden, als durch Not und Dunkelheit. Diese wird zeigen, ob ein Christ vom wahren Samen Israels ist.
Eine dritte Bemerkung, auf die ich befestigte Christen aufmerksam machen will, ist: «Alles, was ein Christ in der Nacht bedarf, ist sein Gott.» – «Mit Verlangen habe ich deiner begehrt des Nachts.» Bei Tag gibt es manche Dinge, die ein Christ außer seinem Gott begehrt; aber in der Nacht begehrt er allein seinen Gott. Die Verdorbenheit unseres Herzens macht, daß, wenn es uns überall wohlgeht, wir unsere Neigung und Liebe zuerst auf diesen, dann auf einen anderen und hernach wieder auf einen anderen Gegenstand richten; und dieses Verlangen, das unersättlich ist wie der Tod und tief wie die Hölle, wird nie gestillt. Wir begehren immer etwas und sehnen uns immer nach etwas Unerreichtem.
Aber wenn ein Christ in Not kommt, so wird man finden, daß er alsdann nicht Gold und nicht fleischliche Ehre begehrt, sondern seinen Gott allein. Mich dünkt, er gleicht hierin dem Seemann, der bei gutem Wind und Wetter dies und jenes begehrt, um sich auf dem Verdeck seines Schiffes zu belustigen. Aber wenn sich ein Sturm erhebt und sich Gefahr zeigt, so ist all sein Verlangen nur auf die Erreichung eines Seehafens gerichtet. Sein Brot mag schimmlig, sein Wasser salzig sein, es kümmert ihn nicht, und er denkt nicht darüber nach in einem Sturm. Er denkt dann nur an den Seehafen. Gerade so ist es mit einem Christen.
Wenn alles eben und sanft vonstatten geht, so verlangt er nach dieser und jener Bequemlichkeit;ner begehrt diese oder jene hohe Stellung und Ehre. Aber laßt ihn in Seelennöte geraten, wo es sehr finster um ihn wird, so wird es bei ihm heißen: «Von Herzen begehre ich deiner des Nachts.»
Wenn ein Kind zu Bett gelegt wird, so kann es, so lange es Licht hat, eine Zeitlang wachen und nach den Bäumen schauen, die sich neben dem Fenster bewegen, oder es kann die eben aufgegangenen Sterne bewundern; aber sobald es finster wird, und das Kind noch wacht, so schreit es nach seiner Mutter, ohne die es sich durch nichts ergötzen läßt. So ist es mit dem Christen. So lange es bei ihm Tag ist, wird er seine Augen auf dieses und jenes Vergnügen werfen; aber wenn ihn Dunkelheit umlagert, so wird er ausrufen: «Mein Gott! mein Gott! warum hast du mich verlassen?» (Matthäus 27, 46). Dann wird es bei ihm heißen:
«Gib mir Christum und sein Licht,
alles andre hilft mir nicht.»
Und nun noch eine vierte Bemerkung, die ich an die befestigten Christen richten will.
Es gibt Zeiten, wo alles, was ein Christ tun kann, nur in der Sehnsucht besteht. Man hatviele Zeugnisse für die Gottseligkeit. Einige sind hergenommen aus den Übungen, andere aus den Erfahrungen, und noch andere aus der Lehre der Gottseligkeit; und natürlich, je mehr ein Mensch Beweise von seiner Gottseligkeit aufbringen kann, desto lieber ist es ihm. Wir lieben es ja im gemeinen Leben auch, viele Unterschriften zu haben, um einen Vertrag womöglich noch vollkräftiger zu machen, und viele Zeugen mögen vor Gericht einen Prozeß leichter gewinnen, als nur wenige. Ebenso ist es uns erwünscht, wenn wir viele Zeugen für unsere Frömmigkeit aufführen können! Aber es gibt Zeiten, wo ein Christ kaum einen Zeugen für seine Frömmigkeit erlangen kann. Er fordert zum Beispiel gute Werke auf, zu kommen und für ihn zu sprechen. Aber da ist eine finstere Wolke um ihn her, und seine Werke erscheinen ihm so greulich, daß er nicht an ihre Beweiskraft denken darf.
Ferner sucht er sich auf seinen Umgang mit Gott zu berufen, indem er sagt: «Ich habe Gemeinschaft mit Gott gehabt!» Aber dieser selige Umgang mit Gott will nicht hervorkommen und ihm Zeugnis geben; auch erklärt Satan ihn für leere Einbildung, und so ist der armen Berufung auf den Umgang mit Gott der Mund verstopft, daß sie nicht reden kann.
Aber es gibt dennoch einen Zeugen, dem der Mund selten verschlossen ist, und auf den sich das Volk Gottes immer berufen kann, auch sogar in der Nacht und Dunkelheit, und das ist das Wort: «Ich begehre deiner des Nachts.» Ja, o Herr, wenn ich nicht völlig an dich geglaubt habe, so habe ich doch deiner begehrt; wenn ich mich nicht in deinem Dienste aufgeopfert habe, oder aufgeopfert worden bin, so weiß ich doch eines, und das kann mir der Teufel nicht rauben; «ich habe deiner begehrt, selbst in der Nacht», wo niemand mich sah, und wo ich von Nöten umgeben war.
Nun, Geliebte, ich hoffe, es sind manche hier, die stark im Glauben sind. Ihr benötigt vielleicht nicht, was ich gesagt habe; aber ich rate euch, dieses Stärkungsmittel zu euch zu nehmen, und wenn ihr es nicht jetzt trinken möchtet, bewahrt es in einem Fläschchen auf und führt es mit euch, bis ihr es benötigt. Ihr wisst nicht, wie lange es dauert, ehe ihr kraftlos niedersinkt. Wie Herr Grossherz (Ausleger) Christine eine Flasche Wein zur Labung mitgab, daß sie trinken möge, wenn sie ermüdet sei, so nehmt dies mit euch, und belächelt nicht die armen, geringgeschätzten Gläubigen, die nicht so stark sind wie ihr. Ihr werdet eines Tages selbst diese Stärkung benötigen.
Ich sage euch, es gibt Zeiten, wo der Christ alles wegwerfen und in die engste Kluft hineinkriechen möchte, um seiner Angst zu entgehen, wo ihm das geringste Zeichen köstlicher ist als Gold, wo ihm der geringste Lichtstrahl teurer ist als alle Reichtümer Perus und wo der geringste Trost ihm süßer ist, als ihm ein ganzer Himmel zu anderen Zeiten gewesen sein mag. Du kannst in diesen Zustand geraten, deswegen nimm diese Worte mit dir und habe sie immer in Bereitschaft vor dem Throne der Gnade: «Mit Verlangen begehre ich deiner des Nachts, du, der du ja schon vor der Zeit der Welt und mein ganzes Leben hindurch meiner zuvor begehrt hast.»
II.
Der zweite Teil meiner Rede wendet sich nun an Neuerweckte, und wie ich vier Bemerkungen an die befestigten Christen gerichtet habe, so will ich drei Fragen beantworten, die neuerweckte Seelen stellen könnten.
Erstens: Wie kann ich wissen, daß mein Verlangen ein Beweis von dem Werke der Gnade in meiner Seele ist? Manche unter euch werden sagen: Ich stimme soweit mit dem Text überein, als ich weiß, daß ich nach Gott verlangend gewesen bin; ich weiß, ich habe begehrt, selig zu werden; ich habe mich gesehnt, Anteil am Blute Jesu zu haben, aber wie kann ich wissen, daß es ein Begehren von Gott ist, und wie kann ich sagen, ob dies Begehren in meiner Bekehrung enden wird? So hört denn einige Beweisgründe.
Ob dein Verlangen von Gott sei, kannst du erstens an seiner Beständigkeit erkennen. Mancher Mensch hört eine rührende Predigt, und er hat ein starkes Verlangen nach Errettung seiner Seele; aber er geht nach Hause und vergißt alles wieder. Er gleicht dem Manne, der sein Angesicht im Spiegel beschaut hat, der aber sogleich wieder vergißt, wie er gestaltet war. Der Pfeil steckt tief in seinem Herzen, aber der Mensch geht heim, nur um ihn herauszuziehen, und seine Bekehrung ist wie die Morgenwolke und der Frühtau, der bald wieder verschwindet. Ist es so bei dir gewesen?
Hast du nur ein Verlangen gehabt, das die Arbeit des morgigen Tages wieder hinwegnehmen kann? Bedarfst du heute den Heiland und morgen verachtest du ihn? Wenn es so bei dir ist, so fürchte ich, dein Verlangen ist nicht von Gott gewesen, sondern bloß das eines natürlich erweckten Gewissens, der Trieb der bloßen Natur. Aber wenn dein Verlangen ein dauerhaftes ist, so fasse Mut. Wie lange währt es schon? Hast du Christum begehrt seit zwei oder drei oder vier Monaten?
Hast du ihn im Gebet schon seit längerer Zeit gesucht? Und sehnst du dich nach dem Heiland am Montag so gut wie am Sonntag? Suchst du ihn in der Werkstätte und an Orten, wo die Stimme des Predigers nicht an dein Ohr dringt und wo die kirchliche Verkündigung der Wahrheit nicht an dein Gewissen schlägt? Oder ist es bloß der Fieberanfall der Schwindsucht, der deine Wangen beschleicht, aber kein Zeichen einer gesunden Seele ist? Oder ist es vielmehr die wahre Wärme eines aufrichtigen Verlangens als des Zeichens einer gesunden Seele? Verlangst du beständig nach Gott? Allerdings gibt es auch Abwechslungen in Beziehung auf unser aufrichtiges Begehren nach Gott, aber ein gewisses Maß von Beständigkeit ist wesentlich erforderlich, wenn es als ein Beweis von einem wahren Gotteswerk in der Seele gelten soll.
Zweitens muß sich die Wahrheit deines Verlangens an seiner Wirkung erkennen lassen. Manche Leute verlangen sehr ernstlich nach dem Himmel, aber sie begehren nicht von ihrer Trunksucht abzulassen. Sie begehren selig zu werden, aber sie verlangen nicht genug, am Sonntag ihr irdisches Geschäft einzustellen, oder ihre Zungen zu zähmen und von bösen Reden gegen ihren Nächsten und von anderen Sünden abzulassen. Nur an der Wirkung kann man die Wahrhaftigkeit seines Verlangens erkennen. Wenn dein Verlangen wirklich zu Werken führt, die aus einem bußfertigen Herzen kommen, so ist es von Gott. Bloße Wünsche ohne Ausführung sind nichts. «Viele, das sage ich euch, werden trachten, in das Himmelreich einzugehen, und werden es nicht vermögen».
Bloßes Wünschen reicht nicht hin, es muß ein ernstliches Kämpfen sein, «durch die enge Pforte einzugehen» (Lukas 13, 24). Der Prophet sagt uns in unserem Text, daß sein Verlangen wirksgewesen sei. Er sagt im achten Vers unseres Kapitels: «In dem Wege deiner Rechte, o Herr, haben wir auf dich gewartet» (Jesaja 26, 8). Sein Verlangen machte ihn also wartend auf die Rechte Gottes. Ich höre nun manchen sagen: «Auf Gott zu warten ist all mein Bemühen, ich liege stets neben dem Teich Bethesda, und an einem dieser Tage wird ein Engel kommen und den Teich bewegen». Aber wie weißt du, daß du dich nicht selbst betrügst? Gesetzt, ein Freund sagt zu mir, ich habe lange auf dich gewartet mit meiner Mahlzeit. Aber wenn ich komme, so finde ich nichts bei ihm zu essen, es ist nichts bereitet in seinem Hause, und ich werde ihm also nicht glauben.
Denn wenn er auf mich gewartet hätte, so würde er die Mahlzeit bereit gehalten haben. Eben also schließt das Warten auf Gott eine Bereitschaft in sich. Der Mensch sagt wohl: «Ich harre auf Gott», und doch ist er nicht bereit für Gott, sondern er fährt fort in seiner Trunksucht und in seiner Welt- und Sündenliebe. Du wartest nicht auf Gott, wenn du nicht bereit bist, seinen Willen zu tun.
Gott wartet viel eher auf uns, als wir auf ihn. Kein Sünder kann ihm zuvorkommen. Der Prophet wartete auf Gott am rechten Orte, er wartete im Hause Gottes – er wartete unter dem Schall des Evangeliums. Und dieses Verlangen trieb ihn dann, Gott zu suchen. «Mit meinem Geist in mir will ich dich suchen» (Jesaja 26, 9). O! das armselige Verlangen vieler hat wenig Zweck, weshalb ein alter Verfasser sagt: «Der Weg zur Hölle ist mit lauter guten Vorsätzen gepflastert.»
Gewiß, manche werden einst in der Hölle gestachelt und durchbohrt werden von den guten Vorsätzen, die sie gefaßt, aber nie ausgeführt haben. Diese Vorsätze sind wie die Kinder, die bei der Geburt erstickt werden, oder wie die Erdschwämme, die bei Nacht aufschießen, aber wieder vergehen; wie der Rauch, der verschwindet, sobald das Feuer erloschen ist. O Geliebte, wenn euer Begehren also ist, so ist es nicht wahrhaftig und kommt nicht von Gott. Aber wenn es euch treibt, eine Lust nach der anderen aufzugeben, mit ganzem Ernst Gott zu suchen, eure Trunksucht, eure Theaterlust und euern Weltsinn fahren zu lassen, so seid ihr auf dem rechten Wege, und euer Verlangen ist ein praktisches, das heißt ein tatsächliches.
Drittens muß dein Verlangen ein dringendes sein. Manche von euch wollen gerettet werden, aber sie wollen warten bis auf den und den Tag der nächsten Woche, während doch der Heilige Geist spricht: «Heute, so ihr seine Stimme höret, verstocket eure Herzen nicht» (Hebräer 4, 7). Es muß jetzt sein oder nie. Du mußt rufen: «Heute gib mir Gnade, heute erbarme dich meiner, heute vergib mir meine Sünden!»
Manche hoffen noch gerettet zu werden vor ihrem Tode; sie hoffen, der Heiland werde auf sie herabblicken nach einigen Jahren, oder überhaupt in der unbestimmten Zukunft. Aber das wahre Verlangen muß jetzt stattfinden. Darf der arme Mann, der mit dem Seil um den Hals auf dem Schafott steht, sagen: «Begnadigt mich nach einer Jahresfrist»? Nein, er muß fürchten, in der nächsten Minute in die Ewigkeit fortgeschleudert zu werden. Der, der seine Gefahr recht fühlt, ruft: «Jetzt!» Der, der Christum recht bedarf, ruft: «Jetzt!» Der, der recht geistlich erweckt ist, ruft: «Jetzt oder nie!» Was! Sünder, du willst dein Heil aufschieben? Was! wenn das Feuer gerade jetzt durch die Bretter deiner Kammer durchschlüge? Was! wenn dein Schiff gerade jetzt auf einen Felsen geriete und sich mit Wasser füllte? Ja, es füllt sich bereits, während das Feuer auf der anderen Seite hereindringt, und beide zusammen sind im Begriff, dir den Untergang zu bereiten. Willst du sagen «morgen!» Aber ehe die Sonne morgen aufgeht, kannst du tot sein. Morgen! Wo steht er geschrieben? In dem Kalender der Hölle, aber in keinem Buch auf Erden. Morgen! Ja, in einer eingebildeten Insel des fernen Meeres, die kein Seemann je erreicht hat. Morgen! Ja, eines Narren Begehren, das er nie erreichen wird. Morgen! Ja, wenn es einen solchen Tag gibt, so gehört er Gott zu, aber nicht uns. Ein Verfasser sagt hievon treffend: «Wer stets die Absicht hat, ein neues Leben zu führen, aber sich nie Zeit nimmt, solches ins Werk zu setzen, der gleicht einem Manne, der das Essen, Trinken und Schlafen von einem Tag zum anderen, und von einer Nacht zur anderen aufschiebt, bis er verhungert und zu Grunde geht.»
Aber, wirst du sagen: «Ich habe nach Gott verlangt, warum hat er mir mein Verlangen bisher nicht gewährt?» Erstlich hast du kein Recht, also zu fragen, denn Gott hat das Recht, deine Bitte zu gewähren oder nicht, wie es ihm wohlgefällt. Ein Mensch darf nicht zu ihm sagen, was machst du? Aber vielleicht hat Gott deine Bitte nicht gewährt, weil er dabei deinen eigenén Nutzen im Auge hat. Es ist seine Absicht, dir mehr die schreckliche Verdorbenheit deines Herzens zu zeigen, damit du in Zukunft dich nicht auf dasselbe verlassen sollst. Er will dich mehr in die greuliche Finsternis und in den abscheulichen Pfuhl der Sünde hineinsehen lassen, damit du wie ein verbranntes Kind das Feuer für immer fliehen sollst. Er läßt dich hinab in den Kerker gehen, damit du desto mehr die kommende Freiheit schätzen lernst. Er läßt dich warten, damit deine Sehnsucht mehr rege gemacht werde. Er weiß, daß du beim Verzug seiner Hilfe deine Not klarer erkennen, daß du ihn ernstlicher suchen, und überhaupt dein Inneres ernstlicher nach ihm wenden wirst; auch läßt dich Gott warten, um zuletzt um so völliger den Reichtum der Gnade an dir offenbaren zu können. Ich glaube, manche von uns, die Gott warten ließ, ehe sie ihn fanden, haben ihn hernach inniger geliebt, als es geschehen wäre, wenn sie ihn sogleich erlangt hätten.
Wir können jetzt anderen besser predigen, und mehr von seiner Güte und seinem Erbarmen reden. Bunyan hätte nicht so gut schreiben können, wenn er nicht viele Jahre vom Teufel umher getrieben worden wäre. Ah! Ich liebe dieses Bild vom teuren, alten Christ! Ich verstand es, als ich zum ersten Mal die Pilgerreise las und den alten Holzschnitt sah, wo Christ seine Bürde auf seinem Rücken mitschleppte, und ich fühlte so tief mit dem armen Pilger, dass ich dachte, ich müsste hüpfen vor Freude, als die arme Kreatur, die so lange ihre Bürde trug, von ihr losgebunden wurde. Ja Geliebte, Gott läßt uns unsere Last lange tragen, bis er sie uns abnimmt, damit wir vor Freude überfließen, wenn unsere Errettung kommt; denn sei versichert, kein armer Sünder ist so froh an der Barmherzigkeit Gottes, als derjenige, der eine Zeitlang auf sie geharrt hat. Und das ist wohl der Grund, warum ihn Gott so lange warten läßt.
Ein weiterer Gedanke: Vielleicht ist die Hilfe schon da. Manche sind begnadigt, und sie wissen es nicht. Manche haben Vergebung, aber sie warten auf etwas Wunderbareres, als auf ein Zeichen, das sie nie erlangen werden. Es gibt Leute, die die sonderbarsten Begriffe von der Bekehrung haben. Manche bilden sich ein, daß eine Art von elektrischem Schlag, eine Art von Galvanismus, oder sonst etwas, das sie nie gehabt haben, sie durchdringen müsse. Aber erwartet jetzt keine Wunder! Wenn du meinst, du werdest nicht begnadigt, bis dir ein göttliches Gesicht zuteil wird, so wirst du viele Jahre vergeblich darauf warten.
Andere meinen, sie haben keine Sündenvergebung, weil sie nie eine Stimme in ihren Ohren gehört haben. Ich wäre sehr besorgt, wenn meine Erlösung von einem in mein Herz gelegten Schriftwort abhinge; mir wäre bange, daß der Teufel es hineinlegte, oder dass der Wind es hinter mir flüsterte. Ich möchte meine Seligkeit nicht auf solche Dinge gründen. Ich verlange etwas Festeres als dies.
Aber du hast vielleicht Vergebung, und weißt es nur nicht. Gott hat die Botschaft des Heils an deinen Geist gelangen lassen, und du hast sie nur nicht gehört, weil du sagst, «das kann es nicht sein.» Wenn du nur dich niedersetzen und denken würdest: «Das ist ein teuerwertes Wort und aller Annahme würdig, daß Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der vornehmste bin» (1. Timotheus 1, 15), so würdest du, wie mich dünkt, finden, daß auch du nicht ausgestoßen bist. Du brauchst die wunderbaren Dinge gar nicht, auf die du rechnest.
Gott hat sie zwar einigen seines Volkes verliehen, aber er hat sie nicht verheißen. Wohlan denn, vielleicht ist die Frage beantwortet mit der Feststellung: «Die Begnadigung ist da, nur weißt du es nicht.» O möge Gott es laut in deine Seele rufen, damit du wirklich und gewiß erkennst, daß er dir vergeben hat.
Aber da ist eine weitere, ernste Frage: «Will Gott mir zuletzt mein Verlangen gewähren?» Ja, arme Seele, gewiss will er. Es ist völlig unmöglich, dass dich nach Gott verlangt und du verloren mgehst, wenn du nach ihm verlangst mit dem Verlangen, welches ich beschrieben habe. Gesetzt, du kämest hinab in die Kammern der Verlorenen mit deinem Verlangen in deinem Geiste, und beim Eingang durch die Tore würdest du sagen: «Ich habe Erbarmung von Gott begehrt, und er wollte sie mir nicht gewähren; ich suchte Gnade aus der Hand Jesu, und er wollte sie mir nicht geben.» Würde der Satan sich nicht freuen, und würde er nicht sagen: «Hier ist ein Sünder, der betend verloren gegangen ist, Gott hat seine Verheißung nicht gehalten; er hat gesagt, ‹wer den Namen des Herrn anrufen wird, der soll selig werden› (Römer 10, 13), und hier ist einer, der es getan hat, und doch verloren gegangen ist.»
O wie würden sie in der Hölle schreien vor Freude! Wie würden sie ein Lied der Lästerung über den allmächtigen Gott anstimmen, daß eine arme, verlangende Seele in der Hölle sein müßte. Ich habe viel Böses in meinem Leben gehört, aber das habe ich nie gehört, daß ein bußfertiger Sünder mit Grund hätte sagen können: «Ich bin verloren, ich suchte Gott, und er wollte mich nicht hören, er hat mich von seinem Angesichte verworfen und wollte mir keine Barmherzigkeit erzeigen.»
Ich habe nie gehört, daß ein Trunkenbold gesagt hätte: «Ich habe aufrichtig Gott gesucht mit ganzem Vorsatz des Herzens, und er hat mich nicht erhört, er will mir nicht antworten, sondern hat mich verworfen.»
O armer Sünder, du wärest der Erste, den der Allmächtige zur Zielscheibe aller seiner Pfeile machte, und gegen den er die Donnerkeile seiner Rache richtete. Bist du der Erste, an dem seine Barmherzigkeit zu Schanden wird? Solltest du der Einzige sein, den seine unendliche Liebe nicht besiegen kann? Sollte Gott den Wunsch haben, dich verdammt zu sehen? Er, der gesagt hat: «So wahr als ich lebe, ich habe kein Wohlgefallen am Tode des Sünders, sondern daß er sich bekehre und lebe» (Hesekiel 18, 23). Sollte der Allmächtige ein Vergnügen an deinem Blute haben? O laß doch keinen solchen Gedanken in dein Herz kommen! Sollte er nicht lieber vergeben und Lust haben an Barmherzigkeit? Steht nicht geschrieben: «Wie der Himmel höher ist als die Erde, so sind meine Wege höher als eure Wege, und meine Gedanken höher als eure Gedanken?» (Jesaja 55, 8-9). Was würde das Verderben eurer Seelen dem Herrn nützen? Würde nicht eure Rettung mehr zu seiner Ehre sein? Ihr würdet ja gewiß sein Lob im Himmel besingen. Oder sollte Gott seinen Sohn in dieWelt senden, um Sünder selig zu machen, und doch will er, nach eurer Meinung, euch nicht selig machen? Es steht geschrieben: «Jesus Christus ist in die Welt gekommen, Sünder zu retten» (1. Timotheus 1, 15). Nun bist du ein Sünder, und du weißt und fühlst es, daß du ein Sünder bist. Nun ja, so ist er auch gekommen, dich zu retten. Nur glaube dies fest! Als ein bußfertiger Sünder hast du ein Recht, es zu glauben. Wenn du ein Pharisäer wärest, so hättest du dieses Recht nicht; aber als eine bußfertige, demütige und zerknirschte Seele hast du ein Recht, an Jesum zu glauben.
Der Pharisäer hat kein Recht, denn es steht nirgends geschrieben, daß Jesus in die Welt kam, die Selbstgerechten selig zu machen, und wenn der Selbstgerechte es glauben wollte, so würde er eine Lüge glauben. Aber jeder, der ein bußfertiger Sünder ist und Anspruch auf diesen Titel erhebt, der hat auch das Recht zu glauben, daß Christus für ihn gestorben ist – das ist gewißlich wahr. Jesus kam für einen bestimmten Zweck in die Welt, und diesen will er auch erreichen. Er kam in die Welt, Sünder selig zu machen. Und nun steht geschrieben: «Wer an den Herrn Jesus Christus glaubt, der wird gerettet werden; wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden» (Markus 16, 16).
Letzten Freitag, als ich die Gelegenheit hatte, zu mehreren tausend Personen unter freiem Himmel zu predigen, einer solchen Versammlung, wie ich sie nie erträumte, von solch überwältigender Anzahl, wie ich sie mir nie vorzustellen vermochte, bemerkte ich ein äusserst eigentümliches, kraftvolles Echo, welches meine letzten Worte des Satzes abnahm und zurücksandte, als ob eine mächtige Stimme spräche, um meine Worte zu bestätigen. Als ich die Worte wiederholte: «Wer glaubt und getauft wird, der wird gerettet», bestätigte das Echo:
«Gerettet!» Und während ich fortfuhr: «Wer aber nicht glaubt, der wird verdammt», hörte ich das Echo sanft sagen: «Verdammt!» Mich dünkt, ich höre heute Morgen dieses Echo: «Wer glaubt, der wird gerettet werden», und wie die Heiligen rufen: «Gerettet!» Hört, wie sie singen vor dem Thron! Hört, wie unsere verklärten Vorfahren und unsterblichen Angehörigen rufen: «Gerettet!»
Hörst du nicht das Echo, als ob es vom unendlichen Himmel her ertöne? – «Gerettet!» Und, ach welch schmerzlicher Gedanke, wenn ich diese Worte ausspreche: «Wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden», und das grauenhafte Echo ertönt: «Verdammt!» vom Ort der äußersten Finsternis her, «wo Heulen und Zähneknirschen» sein wird. Gott gebe, daß euch nie kund werden möge, was es heißt: «Verdammt werden». Gott gebe vielmehr, daß ihr jetzt glaubt: Ja, «heute, wenn ihr seine Stimme höret, verhärtet eure Herzen nicht» (Psalm 95, 7-8), «rufet ihn an, weil er nahe ist, suchet ihn, weil er zu finden ist» (Jesaja 55, 6), «so wird er sich euer erbarmen, denn bei ihm ist viel Vergebung» (Jesaja 55, 7).
Amen!
Quelle:
Predigt von C. H. Spurgeon
24. Juni 1855
Verlag Jaeger & Kober, Basel, 1895.
Betrachtung zum Vers von Pfr. Wilhelm Busch
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