Johannes 13, 21

Da Jesus solches gesagt hatte, ward er betrübt im Geist und zeugte und sprach: Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten. (Johannes 13, 21)

Betrachtung zum 18. März

Es ist eine selige Beschäftigung, Blicke in die Leidensgeschichte des Heilandes zu tun. Da besonders finden wir die heiligen Spuren, die uns hineinleiten in seine Zubereitung zum barmherzigen Hohenpriester. Sein Leiden, das sich nicht nur auf die letzten Tage beschränkte, war ein heiliges Leiden und darum gerade in seinen Tiefen ein stilles Leiden. Wer kann sagen, was er in der Stille durch Judas gelitten hat? Und wie viel Belehrung und Trost können wir nicht schöpfen, aus seinem ganzen Verhalten zu diesem Jünger bis zum Verräterkuß! Der Jüngerkreis des Heilandes war in gewissem Sinne eine Familie. In der Familie machen wir die tiefste Erfahrung, sowohl in Freude als in Leid. Den Unannehmlichkeiten, die außerhalb der Familie liegen, kann man sich vielfach entziehen, sehr oft ohne zu sündigen, entziehen; den Dingen, die uns in unseren Familien begegnen, können wir uns nicht entziehen, wir müssen uns vor Gott mit denselben auseinandersetzen; dazu liegen sie täglich vor uns.

Wie viel wird da gesündigt durch Ungeduld, Unweisheit, Lieblosigkeit, Versäumnisse; besonders wenn schwere Uebungen länger anhalten! Das Familienleben soll uns eine Schule zur Heiligung sein; aber es kann uns auch zur Verkrüppelung dienen, durch unsere eigenen Fehler. Sollte der Heiland in allen Dingen uns gleich werden; sollte er für alle Lebensverhältnisse unser barmherziger Hoherpriester werden, so konnten ihm die schwersten Erfahrungen in seinem engsten Jüngerkreis nicht erspart bleiben. Die bittersten Uebungen bereitete ihm Judas. Des Herrn Auge durchschaute ja seine ganze Entwicklung; er sah, wie er sich innerlich mehr und mehr dem Lichte verschloß. Wie mußte dieser Geist täglich auf des Herrn heiliges Gemüt drücken. Welches Weh mußte es für ihn sein, ein „verlornes Kind“ unter seinen Zwölfen zu haben! Und doch, mit welcher Geduld trug er ihn! Er schickte ihn nicht fort; Judas mußte sich selber ausschließen. Er gab ihm völlig Zeit zum Ausreifen. Er entzog ihm selbst die Kasse nicht, obschon er ein Dieb war, und er ihn als solchen kannte. Er predigte ihn nicht fortwährend an, und überhäufte ihn nicht mit Vorwürfen, sondern erwies ihm Liebe bis zum Schluß, so daß er auch dem armen verlornen Kind gegenüberstand, ohne Fehl. Welch ein heiliger Bußspiegel ist Jesu Verhalten für uns! Und welch mächtigen Trost können bußfertige Eltern in ähnlicher Lage bei ihrem barmherzigen Hohenpriester holen, der sie ganz versteht!

Heiliger Jesu! Ich beuge mich vor Dir im Bewußtsein meiner Familiensünden. Reinige Du mich! Sei Du mein Lehrer, und laß Dir alle meine Sorgen auf Dein treues Herz gelegt sein. Amen.

Elias Schrenk
(1831-1913)

Quelle: Suchet in der Schrift. Tägliche Betrachtungen für das ganze Jahr mit Anhang, S. 78. Von E. Schrenk. 2. Auflage, 32. bis 36. Tausend. Kassel. Druck und Verlag von Ernst Röttger, 1892.


Eingestellt am 1. Juli 2021 – Letzte Überarbeitung am 28. November 2023