Dreißigste Bibelstunde
Unser Anliegen ist, die richtige Stellung zum Buch der Offenbarung zu gewinnen. Wir haben uns bemüht, zu verstehen, was darin gesagt ist. Wir möchten aber nicht, daß uns der Vorwurf treffe, wir seien mit allzu großer Kühnheit vorgegangen. Wir gehen, wenn wir uns vom Worte des Buches leiten zu lassen versuchen, manchmal fragend und tastend dahin, wie im Dämmerlicht. Die Zeichensprache und die Rätselworte zuversichtlich und zutreffend immer umzugießen in klare, deutlich faßbare und sicher richtig erläuternde Aussagen, dürfte bis heute niemand geglückt sein.
Wir erkennen darin nicht eine Schwäche des Buchs, auch nicht bloß Schuld der Leser und Erklärer; sondern es wird nach Gottes Rat so sein sollen. Freilich ist es nicht leicht, sich drein zu fügen, ohne am Buch zu verzagen oder ihm Gewalt anzutun. Wir wollen uns hüten, daß wir ja nicht über das Rätselbuch weggehen, als hätte es uns nichts zu sagen, oder aber daß wir über seine Worte und Zeichen verfügen, als hätten wir selbst etwas wie einen Seherblick und könnten allerlei wundersame Entdeckungen und Enthüllungen draus hervorholen. Wenn unsre Deutung die Neugier befriedigt oder die Gemüter erregt, liegt immer der Verdacht nahe, wir möchten Eigenes eingemischt haben. Das Buch will unsern Gang in der Stille regeln und uns in Geduld und Glauben gewiß machen durchs Hineinschauen in die Gottesgedanken.
Wir teilen die Weltgeschichte ein in die Zeit vor Christi Geburt und nach Christi Geburt. Gott hat sie so abgetielt. Er hat ehedem die Heiden ihre Wege gehen lassen, mit Christi Sendung aber diese Zeit abgeschlossen. Er hat das Volk Israel zubereitet und erzogen für das Kommen seines Messias; auf die Zeit des Wartens folgte die Zeit der Erfüllung.
Es war eine kurze, in sich einzigartige und abgeschlossenen Stunde der Weltzeit, da der Sohn Gottes als Mensch unter Menschen auf der Erde wandelte. Mit seiner Himmelfahrt hat die neue Zeit begonnen. An ihrem Ende wird einst stehen der jüngste Tag, das Weltgericht. Wir stehen in der Zeit der Zubereitung der Menschheit zum letzten Tag (Apg. 17, 30f.; Tit. 2, 11ff.), wie wir auch im Glaubensbekenntnis zu Christus aufschauend sprechen: „Da sitzet er zur Rechten Gottes, seines allmächtigen Vaters, von dannen er wieder kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten“. Bis dahin ist es ein einheitlicher, wenn auch mannigfaltiger Verlauf, ohne Pause, ohne Abbiegung fort und fort dem Abschluß der Weltzeit entgegen. Auf dieses Ziel, da die Zeit zu Ende gekommen sein wird und nur noch Ewigkeit sein wird, weist die heilige Schrift des Neuen Testaments unablässig jeden Jünger Jesu und die Jesusgemeinde als ganze hinaus. Darum ist es „die letzte Zeit“; das heißt: es tritt auf dieser Wegstrecke der Menschheitsgeschichte, so lange sie sich auch dehnen mag, nichts Neues mehr dazwischen, das eine anders geartete Entwicklung einleiten würde als diejenige, die Christus durch seine Menschwerdung begonnen hat,und durch sein letztes Wiedererscheinen vollenden wird. Wir haben auf niemand zu warten, der uns über die in Christus der Welt geschenkte Offenbarung hinausführen würde oder ein anderes, volleres und helleres Evangelium und brächte als das im Neuen Testament uns dargebotene. Falsche Erlöser, falsche Propheten mögen sich immer wieder der Welt anbieten (Matth. 24, 24); mit allerlei neuen Lehren wird man fort und fort der Menschheit aufzuhelfen versuchen; aber alles, was die Geister der Menschen über Jesus hinaus statt zu ihm zurück zu führen unternimmt, bringt nur Wirrnis und Fluch (Gal. 1, 8).
„Von jetzt an werdet ihr sehen des Menschen Sohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen auf den Wolken des Himmels“: von diesem Wort (Matth. 26, 64) ist der ganze Zeitverlauf, in dem wir stehen, umspannt. Abschließen wird diesen Verlauf Christi sichtbares Erscheinen vom Himmel her. Wir dürfen aber nicht jedes Wort, das vom Kommen des Herrn redet, auf dieses alles vollendende Wiederkommen Jesu deuten. Der Herr seiner Christenheit „geht hin und her inmitten der Gemeinden“; das tut er als der über ihnen in himmlischer Majestät allzeit waltende Herr. Daß der Herr unter den Gemeinden wandelt, um sie fortwährend unter seinen Augen zu haben, führt ganz von selbst dahin, daß er auch, wo ein besonderer Anlaß dazu entsteht, zu dieser oder jener einzelnen Gemeinde hintritt, um, was nicht in Ordnung ist, zurechtzubringen. So spricht er gerade als der, der unter den Gemeinden „hin- und hergeht“ in dem Sendschreiben nach Ephesus (2, 1ff.) davon, daß er dem Vorsteher „kommen“ wolle und seinen Leuchter, d.h. die Gemeinde von Ephesus, aus der Reihe der 7 Gemeinden „wegrücken“ wolle. Dieses „Kommen“ des Herrn geht als Betätigung seines himmlischen Regiments fort zu allen Zeiten, und er pocht bald hier, bald dort an die Tür, um in besonderer Weise mit Züchtigung oder Gnadenerweisung einzukehren (3, 20).
In selbstverständlicher Folgerichtigkeit ergibt sich hieraus auch, daß der Herr dann, wann seiner ganzen gläubigen Gemeinde auf Erden der scheinbar unvermeidliche Untergang durch die feindliche Weltmacht droht, in einer unverkennbaren, durch keine irdischen Zwischenursachen vermittelten Weise rettend vom Himmel her eingreift, wie wir 19, 11 lesen. Das alles darf man als ein „Kommen des Herrn“ im Bilde bezeichnen, es ist aber nicht zusammenzuwerfen mit der eigentlichen sichtbaren Wiederkunft Christi, die der große Gegenstand des Wartens für die gesamte gläubige Gemeinde aller Orte und aller Zeiten ist, und der in letzter Linie immer unser Flehen gilt: „Ja komm, Herr Jesu!“
Eine Gemeinde derer, welche „Christi Erscheinung lieb haben“ und auf sie als auf eine „selige Hoffnung“ warten, will die Offenbarung sammeln (vgl. 2. Tim. 4, 8; Tit. 2, 13). Aber sie widersetzt sich allen Versuchen, aus dem, was sie voraussagt, die Zukunft berechnen zu wollen. Unser Herr Christus hat uns gesagt, daß kein Mensch noch Engel vorauswissen könne, wann das Weltende kommen werde; er hat auch seinen aus Israel erwählten Aposteln eindringlich gesagt, daß sie nicht befugt seien, darüber etwas wissen zu wollen, wann die Wiederannahme des Volkes Israel geschehen solle. Es wäre mehr als sonderbar, wenn dennoch ein Apostel Jesu Christi, also Johannes in seinem Buch der Offenbarung, Anhalt für derlei Berechnungen gäbe. Die künftige Wiederannahme Israels und die zentrale Bedeutung des wieder angenommenen Israel stellt der Seher recht eigentlich in den Mittelpunkt seiner Enthüllungen. Ist diese einmal verwirklicht, dann ist der letzte Abschnitt unsrer Weltzeit erreicht, und von dort an werden dann auch bestimmte Zeiten genannt, die wir aber nicht erst herausrechnen oder umrechnen und umdeuten müssen, sondern die für jedermann klipp und klar daliegen, damit die, welche einst diese Endzeit erleben, sich dran halten können in Geduld, Glauben und Hoffen. Es sind zwei Zahlen, um die es sich für diese Zukunft handelt. Erstens ist es die Zeitdauer der letzten Not der Gemeinde, nämlich 3½ Jahre: 11, 2.3; 12, 6; 13, 5. Zweitens ist es die Dauer der vom Einfluß der Satansmacht befreiten Friedenszeit auf Erden, nämlich 1000 Jahre: Kap. 20.
Aber zugleich ist durch die ganze Anlage des Buchs dafür gesorgt, daß niemand berechnen kann, wann die Wiederannahme Israels, von jetzt an gerechnet, erfolgen werde. Oder sagen wir‘ s mit Jesu Bilderrede (Matth. 24, 32): Wenn der Feigenbaum (das ist Israel) saftig wird und Blätter gewinnt, dann naht der Sommer. Darauf dürfen und sollen wir achten. Aber wir werden bei allen den erstaunlichen Schicksalen Israels und all den merkwürdigen Bewegungen in Israel, die wir Heutige erleben, doch davor uns hüten müssen, daß wir nicht allzurasch Frühlingstriebe drin sehen und etwa meinen, berechnen zu können, wie kurz oder lang es dauern müsse, bis „der Sommer“ komme. Gerade die Offenbarung des Johannes sieht gänzlich davon ab, irgendwelche Vorzeichen der Wiederannahme Israels anzudeuten, so daß einzig das große Wort Jesu vom Feigenbaume bleibt, bei dem wir nicht vergessen dürfen, daß in das Frühlingserwachen oft Rückschläge sich mischen, die einen ungeahnt langen Aufschub bewirken.
Durchgehen wir die Offenbarung, so tritt uns ihre Gliederung deutlich vor Augen. Es sind mehrere, zum Teil nach der Zahl Sieben gegliederte Gruppen, die durch ihren Inhalt in deutlicher Beziehung zueinander stehen, doch so, daß eine bestimmte Aneinanderreihung nach dem Gesichtspunkt der Zeitfolge nur in beschränktem Maß dadurch möglich wird. Gewiß ist das wohlerwogene Absicht.
An die Einleitung (1), der die sieben Sendschreiben (2f.) und das Gesicht vom Thron Gottes und von dem Lamm folgen (4f.), reiht sich das Gesicht von den sieben Siegeln: 6, 1 – 8, 1. Dieses Gesicht bringt in großem Überblick, was die Welt von Christi Himmelfahrt hindurch durchs Weltgericht (6. Siegel) bis zur Aufrichtung des ewigen Reichs (7. Siegel) erleben soll, und wie es insonderheit der Christusgemeinde und den ihr Zugehörigen ergehen soll. (Kap. 7).
Dann folgt das Gesicht von den s i e b e n P o s a u n e n: 8, 2 – 11, 18. Dieses Gesicht führt an den Anfang der großen Endereignisse. Denken wir an das Gesicht von den 7 Siegeln zurück, so ist die lange Wartezeit der Gemeinde, die im 5. Siegel gezeichnet ist, vorbei, da nun die Posaunen rufen, und es beginnen Ereignisse, welche die letzte Weltkatastrophe, die im 6. Siegel geschildert ist, anbahnen und vorbereiten. Wiederum, wie beim Siegelgesicht, sind, ehe der letzte Abschluß geschildert wird, Gesichte eingeschoben, welche das Schicksal der Christusgemeinde zeichnen (10, 1 – 11, 13).
In 11, 19 ─ 14, 20 werden hierauf die zwei Mächte gezeichnet, zwischen denen der Kampf spielen wird: das W e i b und der D r a c h e. Wir sehen in den gang und das Ende des Kampfes hinein, in dem es sich um die Christusgemeinde und das antichristliche Reich handelt.
Derselbe Kampf, derselbe Gottessieg und dasselbe Gottesgericht wird nun nochmals, in anderer Beleuchtung und eingehender geschildert durch das G e s i c h t von den sieben Zornschalen: 15 und 16. Sachlich sehen wir hier tiefer und umfassender in das hinein, was schon 11, 19 ─ 14, 20 von der antichristlichen Zeit zeigte, doch nicht so, daß wir zeitlich die beiden Bilderreihen in eine fortlaufende Reihe zusammenordnen könnten.
Weltstadt und Weltreich, „B a b y l o n u n d d a s T i e r“, ihr Wesen, ihr Verhältnis zueinander und ihr Schicksl werden in den Bildern Kap. 17 und 18 sodann eingehend und frühere Bilder ergänzend gezeichnet; hierauf hören wir Kap. 19 den L o b p r e i s des Himmels über den Stutz Babylons und sehen den Sieg Christi, der das Weltreich zerschmettert.
Nun folgt „das tausendjährige Reich“: 20, 1-10; dann das E n d g e r i c h t: 20, 11-15.
Den Schluß macht der Blick in die ewige Gottesstadt und das ewige Gottesreich, das neue Jerusalem und die neue Schöpfung: 21 und 22.
Wir wollen den ungeheuren Gerichtsernst, der die Offenbarung durchdröhnt, unser Leben lang in uns forttönen lassen. Das wird uns zur rechten Schätzung des Lebens und der Zeit, des Sterbens und der Ewigkeit leiten. Aber wir wollen auch allen Trost und alle Verheißung, die künftige Gottesschöpfung und alle ihre Seligkeit zu Herzen fassen und uns der Herrlichkeit des neuen Jerusalems in Hoffnung freuen, damit es bei uns heiße:
Ich bin zufrieden,
Daß ich die Stadt geseh’n;
Und ohn‘ Ermüden
Will ich ihr näher geh’n
Und ihre hellen, goldnen Gassen
Lebenslang nicht aus den Augen lassen.
Halleluja!
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Quellen:
Auslegung: Christian Römer, weil. Prälat und Stiftsprediger zu Stuttgart: Die Offenbarung des Johannes, in Bibelstunden erläutert, S. 244-250 (Verlag von D. Gundert, Stuttgart 1916)
Liedvers: Johann Timotheus Hermes (1738-1821) „Ich hab von ferne, Herr„
Verweise auf Bibelstellen: bibeltext.com
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